Der Klarblick ist die direkte und tief dringende Einsicht in die drei Merkmale alles Daseins, d. h. in seine Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit und Ich- und Substanzlosigkeit. Dieser Klarblick besteht aber nicht etwa bloß in einer begrifflich-abstrakten Kenntnis dieser Wahrheiten oder ihrer rein intellektuellen Anerkennung, die für die persönliche Lebenshaltung unverbindlich bleibt. Er ist vielmehr ein Erfahrungswissen, das erworben wird durch die wiederholte klar beobachtende Konfrontierung mit den eigenen körperlichen und geistigen Vorgängen. Es gehört zu jener Art von wirkungskräftigem Wissen, von dem der französische Denker J. M. Guyal) sagte: «Wer etwas weiß und nicht danach handelt, weiß es nur unvollkommen».
Solche Konfrontierung mit der Wirklichkeit, die im meditativen Klarblick zur Reife gelangt, wird ermöglicht durch das Reine Beobachten sowie durch Rechte Achtsamkeit (satipaṭṭhāna) im allgemeinen. Deren methodische und meditative Entwicklung wird in späteren Kapiteln dieses Buches dargestellt werden. Aber schon die gelegentliche Anwendung im Alltagsleben, wenn immer man es vermag, wird eine befreiende und auflockernde Wirkung auf den Geist haben und bessere innere und äußere Bedingungen schaffen für eine strikte, methodische Übung.
Es gehört zum Charakter des Klarblicks, die Dinge der Innen- und Außenwelt als «reine Vorgänge» (suddha-saṅkhārā), d. i. als unpersönliche Prozesse zu erkennen und in solcher Erkenntnis zeitweilig frei zu sein von Gier, Haß und Verblendung. Eben dies eignet aber auch (in gewissem Grade und für beschränkte Frist) schon dem anfänglichen Reinen Beobachten, das somit eine allmähliche Akklimatisierung des Geistes an die Höhenluft der Klarblickserkenntnis bewirkt.
Der durch das Reine Beobachten gewonnene Abstand von den Dingen und auch von uns selber zeigt uns in der eigenen Erfahrung die Möglichkeit und das Glück völliger Loslösung. Es verleiht uns die Zuversicht, daß solch zeitweises Beiseitetreten zum völligen Hinaustreten aus dieser Leidenswelt werden kann. Es gibt ein Vorgefühl oder doch eine Ahnung jener höchsten Freiheit, der «Heiligkeit bei Lebzeiten», die gekennzeichnet wurde mit den Worten in der Welt, doch nicht von der Welt».
Dieses höchste Ziel mag noch etwas sehr Fernes sein, doch durch die innere Erfahrung beim Reinen Beobachten ist es nicht mehr etwas gänzlich Fremdes. Es gewinnt für den Übenden eine gewisse Vertrautheit und damit eine positive Anziehungskraft, die es nicht haben könnte, wenn es etwas rein Abstraktes bleibt, dem nichts in der eigenen Erfahrung entspricht. Für den, der in solcher Weise übt, wird das Ziel der Befreiung einem hohen Bergmassiv am fernen Horizonte gleichen, dessen Konturen für den Wanderer, der darauf zuschreitet, allmählich eine freundliche Vertrautheit gewinnen. Wohl hat die Haupt-Aufmerksamkeit des Wanderers den Schwierigkeiten und Windungen seines Weges zu gelten, doch nicht minder wichtig ist es, daß sein Blick von Zeit zu Zeit auf die Gipfel seines Zieles fällt, wie sie am Horizont seines eigenen Inneren auftauchen. Sie geben ihm die Richtung, an der er die Ab- und Umwege seiner Wanderschaft berichtigen kann; sie verleihen seinen müde gewordenen Schritten erneute Kraft, Ermunterung und Zuversicht, wie er sie nicht erfahren könnte, wären diese Gipfel seinem Blicke stets versperrt oder hätte er von ihnen bloß gehört oder gelesen; sie mahnen ihn auch, über den «kleinen Freuden am Wege» nicht das große Gipfelglück der Befreiung zu vergessen, das ihm am Horizonte winkt.
In solcher Weise dient die Übung des Reinen Beobachtens unmittelbar der höchsten Befreiung.
aus: Nyanaponika, Geistestraining durch Achtsamkeit (Buddhistische Handbibliothek, Verlag Beyerlein & Steinschulte, S. 40f.)
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