Dienstag, 4. Dezember 2012

«Schweigen ist eine gute Antwort»



«Schweigen 
ist eine gute Antwort»





Es war Nachsaison in dem Kloster, wo ich, wie man so sagt, den Zen-Buddhismus studierte. Ich hatte den Eindruck, daß ich im Grunde überhaupt nichts studierte. Meine Beine taten mir weh, wenn ich saß und meditierte, und meine Meditation bestand aus einer verschwommenen Mischung einer ganzen Menge Gedanken. Sie sagten mir, daß ich die Gedanken abstreifen müßte, aber es waren so viele, wie krabbelnde Ameisen, Millionen von Ameisen, die meisten von ihnen gierig und gefräßig, und es war schwer, gegen sie anzukämpfen. Ich konnte hin und wieder ein paar zerquetschen, aber sie wurden immer sofort durch andere ersetzt. Und jetzt hatte die Ausbildungssaison aufgehört, und die meisten Mönche waren fortgegangen. Auch der Lehrer war gegangen, und ich bat um Erlaubnis zu gehen.
«Wirst du zurückkommen?» fragte der oberste Mönch. 
«Sicher. »
«Wann?»
«In einem Monat. »
Er verbeugte sich und schenkte Tee ein. Ich verbeugte mich.
Wir tranken Tee. Wir verbeugten uns wieder. Ich verließ das Kloster innerhalb der nächsten Stunde. Ich hatte ein altes amerikanisches Motorrad und stopfte meine Kleider und einen Schlafsack in die Satteltaschen. Auf den Tank hatte ich eine Landkarte in einer Plastikhülle geklebt. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich fahren würde, aber es ist immer nett, wenn man eine Karte hat. Die Karte war japanisch beschriftet, und ich konnte nur wenige der Schriftzeichen lesen, die die Ortsnamen angaben. Der Trip war ein Traum, und ich wurde von geheimnisvollen Hieroglyphen geleitet. Ich meinte, ich wäre gut vorbereitet.
Ich beabsichtigte, Richtung Westen zu fahren und dann in den Norden, wobei ich mich immer auf Landstraßen halten wollte. Ich beeilte mich nicht, hielt an Restaurants am Straßenrand an, um Nudeln und Fischsuppe zu essen, und ich schlief in einem kleinen Armeezelt neben meinem Motorrad. Es regnete ein paar Tage, und ich nahm die Einladung eines Bauern an, in seinem Haus zu übernachten. Wir lernten uns in einem Restaurant kennen. Er hatte mich begrüßt, und ich sagte irgend etwas auf japanisch, und schon bald entwickelte sich zwischen uns etwas, das sich fast wie eine Unterhaltung anhörte. Ich beherrschte nicht sonderlich viele Worte, und er sprach den örtlichen Dialekt, doch wir lächelten und verbeugten uns auch und leerten gemeinsam eine kleine Flasche Sake.
Sein Haus lag in der Nähe eines Dorfes, und am folgenden Tag ging ich einkaufen. Der einbeinige Amerikaner war ebenfalls einkaufen. Wir begrüßten uns mit einem «Guten Morgen» und setzten unsere Einkäufe fort, aber ich hatte Zeit gehabt, mir den Mann anzusehen. Er mußte gut an die fünfzig Jahre alt gewesen sein, und er hatte sich seinen großen Schädel rasiert, der glänzte und eine nußbraune Farbe hatte. Ganz offensichtlich verbrachte er eine Menge Zeit an der frischen Luft. Er ging auf Krücken und schaffte es, eine Tasche festzuhalten, die die Gemüse enthielt, die er gerade gekauft hatte. Er schwatzte mit dem Ladeninhaber, der ihn gut zu kennen schien, beugte sich herab, um mit einem Kind zu sprechen, und jeder, der ihm begegnete, grüßte ihn: Ein paar Minuten später begegneten wir uns wieder, als ich gerade mein Motorrad startete, doch mein energisches Antreten zeigte nur wenig Erfolg.
«Probleme?» fragte er.
«Sie ist lahm», sagte ich, «aber sie wird schon anspringen, wenn ich nicht lockerlasse.»
«Vergaser», sagte er. «Diese alten Harleys haben komische Vergaser. Sie haben einen Schwimmer wie bei einer Wasserspülung, und ein bißchen Schmutz kann schon ausreichen, um den Schwimmer festzusetzen. Und dann säuft der Motor ab. Genau das passiert jetzt auch. Sehen Sie?»
Er deutete auf ein Benzinrinnsal, das seitlich über den Vergaser tröpfelte.
«Ja», sagte ich, «von technischen Dingen verstehe ich nichts. Ich werde es reparieren lassen.»
«Ich werd das machen», sagte er, veränderte die Stellung seiner Krücken und sah sich den Motor wieder an. «Ich wohne dort drüben, in dem kleinen Haus in dem Feld hinter den Kiefern. Bringen Sie sie zum Laufen, und fahren Sie sie dann dort runter. Wir können zusammen zu Mittag essen. Von wo kommen Sie? England?»
«Holland», sagte ich.
Er dachte eine Weile nach und nickte dann ernst, bestätigte damit die Existenz meines Landes.
Die Tür des kleinen Hauses stand offen, und ich zog meine Schuhe aus und stieg auf die kleine Veranda. Ich konnte ihn sich im Haus bewegen, mit Töpfen klappern hören.
«Kommen Sie rein», sagte er, «heute gibt's gebackenen Fisch. In den Staaten nennen wir sie suckers, Süßwasserfische mit einem großen Maul. Sie sind ganz gut, wenn sie frisch sind. Und ich habe noch ein paar fritierte Auberginen, und Pickles, und Reis. In Ordnung?»
Für mich hörte sich das sehr gut an. Im Kloster aßen wir gekochten Kohl und eine scharfe Mischung aus einer Menge Gerste und ein wenig Reis. Schlichte Kost. Das hier klang für mich wie ein Festmahl, aber ich hatte während der letzten paar Tage ebenfalls gut gegessen, gebackene Nudeln und delikate Pickles in den Restaurants am Rande der Straße und sogar ein bißchen Brot, das ich mir im Ofen des Bauern aufgebacken hatte.
Das Haus war sehr sauber und leer. Die einzigen Gegenstände waren für den unmittelbaren Gebrauch bestimmt. Eine dünne Matratze, Kleider, Küchenutensilien, Gartenwerkzeuge. «Meine Werkstatt ist draußen», sagte er. «Ich repariere hauptsächlich Lastwagen und kleine Traktoren. Die Bauern bringen sie zu mir. »
«Verdienen Sie sich damit Ihren Lebensunterhalt?» fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. «Nein. Ich berechne nichts. Sie bezahlen nur die Ersatzteile. Ich habe meine Pension.» Er zeigte auf das nicht vorhandene Bein. «Auf Okinawa verloren. In den Staaten haben sie das nicht vergessen und schicken mir jeden Monat einen Scheck.»
Er hatte zwei große Flaschen Bier geöffnet, und wir hoben die Gläser und tranken. Ich bedankte mich bei ihm für die Mahlzeit.
«Ist schon in Ordnung. Sie können über Nacht bleiben. Ich werde Ihr Motorrad dann morgen früh reparieren. Jetzt ist es schon zu spät. Wieso sind Sie in Japan?»
Ich erzählte ihm von meinem Aufenthalt in dem Kloster. Ich war schon ein Jahr dort, sagte ich ihm, und würde noch ein weiteres Jahr bleiben, vielleicht auch länger.
«Warum sind Sie dort?» fragte er.
«Um die Erleuchtung zu finden.»
Er lachte, schlug sich auf den Schenkel und wischte sich Tränen aus den Augen. Er lachte sehr lange. Vielleicht eine ganze Minute. Schließlich hörte er auf.
«Tut mir leid», sagte er.
Ich war gekränkt, allerdings nicht zu sehr. Ich war es gewohnt, ausgelacht zu werden. Die Mönche kamen in den Garten und sahen, wie ich an einen Baum pißte, und lagen sich dann hilflos in den Armen, während ich weiter pinkelte. «Genau wie ein Pferd», sagten sie dann und begannen wieder zu lachen. Auch in anderer Hinsicht amüsierte ich sie. Sie konnten einfach nicht verstehen, daß mir meine Beine weh taten, wenn ich in der Meditationshalle sitzen mußte, und sie lächelten, wenn ich dann herumhumpelte, mit einem gelähmten Bein wegen mangelnder Durchblutung.
Wir tranken mehr Bier und gingen auf die Veranda hinaus.
Das Haus war auf einem niedrigen Hügel errichtet worden, und wir hatten einen guten Ausblick über das Land. Ich sah Kiefernwäldchen und die Dächer strohgedeckter Gehöfte, eine vierstöckige Pagode, die auf dem benachbarten Hügel thronte. Die Geräusche von Holzrasseln und einer Glocke wehten zu uns herüber.
«Das ist der alte Mann», sagte mein Gastgeber. «Er lebt dort oben ganz allein. Abends meditiert er immer für eine Stunde, und er gibt immer die richtigen Signale. Einmal Rasseln und viermal Klingeln, wenn er beginnt, einmal Klingeln und zweimal Rasseln, wenn er aufhört. »
«Genau wie im Kloster», sagte ich.
«Ja. Der alte Mann hat denselben Glauben.»
«Glauben?» fragte ich.
«Wie immer Sie es nennen wollen», sagte er langsam. «Ich habe der Sache einfach nur einen Namen gegeben. Es hat keinenNamen.»
«Kennen Sie den alten Mann?» fragte ich.
«Er ist mein Lehrer. »
Er ging ins Haus und kam mit sechs Flaschen wieder zurück.
Es waren große Flaschen, und ich bereitete mich vor, betrunken zu werden. Es machte mir nichts aus, betrunken zu werden, aber es konnte nichts schaden, darauf vorbereitet zu sein.
«Und wie lange sind Sie nun schon hier?» fragte ich.
Er sprach einige Zeit mit mir. Er war mit den Marines hergekommen, und er hatte vier Tage gekämpft, als er sein Bein verlor und zurück auf ein Schiff gebracht wurde, später dann zurück in die Staaten. «Ich habe eine Menge Soldaten getötet, bevor ich das Bein verlor. Hundert vielleicht. Ich habe sie mit einem Maschinengewehr erschossen, sie kamen auf uns zugestürmt, und ich habe sie einfach immer weiter umgebracht. Dort lag ein ganzer Haufen Leichen, und sie sind über sie weggekrochen, und ich habe immer weiter geschossen.»
Ich murmelte irgend etwas. Ich war zu jung für den Krieg und wußte nicht, von was er da redete. Ich hatte einmal eine Ratte getötet, mit einem Schürhaken, und ihre Jungen hatte ich auch umgebracht. Die Ratte war in der Garage des Hauses meines Vaters gewesen. Ich hatte in letzter Zeit oft an die Ratte und ihre Jungen gedacht, wenn ich eigentlich meditieren sollte.
«Aber wieso sind Sie zurückgekommen?»
«Ich habe immer wieder von den toten japanischen Soldaten geträumt», sagte er, «und dann sah ich sie auch, wenn ich wach war. Ich sah, wie sie über ihre eigenen Leichen krochen, und ich schoß immer weiter auf sie. Ich bin zu einem Psychiater gegangen, doch das half auch nicht besonders viel. Nach einem Jahr Behandlung sah ich sie immer noch. Dann bin ich zurückgekommen. Ich bin eine Weile herumgezogen und habe mich schließlich hier niedergelassen. Vor zehn Jahren.»
«Es muß Ihnen hier gefallen.»
«Ja», sagte er, füllte mein Glas nach. «Heute repariere ich ihre Maschinen, das ist konstruktiver. »
«Und die toten Soldaten sehen Sie immer noch?»
«Manchmal. »
Die Sonne ging hinter der Pagode unter. Es war die Zeit des Abends, zu der alles plötzlich sehr exakt wird. Die Zweige der Bäume zeichneten sich scharf gegen den pastellfarbenen Himmel ab, und die Pagode sah aus, als wäre sie aus der Wolke geschnitten worden, die unmittelbar hinter ihr saß und deren Ränder in einem dunklen Orange loderten.
Ich zeigte auf den Tempel.
«Und er lebt dort? Ihr Lehrer?»
«Ja. Er ist ein Priester.»
«Ein Meister? Ein Zen – Meister?»
Er zuckte mit den Achseln. «Ich weiß nicht, was Zen bedeutet, und ich habe ihn nie gefragt, ob er ein Meister ist. Er ist schon sehr alt. Achtzig, glaube ich. Ich habe ihn im Dorf kennengelernt, ich war damals ungefähr ein Jahr oder so hier, und ich lernte gerade die Sprache. Es geht schnell, wenn man nichts anderes hört. Sie sind der erste gaijin, den ich seit Jahren getroffen habe, die Touristenbusse kommen nicht bis hierher. »
«Was hat er gesagt?»
«Er sagte mir, ich sollte kommen und ihn besuchen. Was ich auch getan habe, noch am selben Nachmittag. Er lehrte mich, daß ich mich zur Meditation hinsetzen sollte, und er sagte, daß ich jeden Tag zwei Stunden so verbringen sollte. Ich mußte um zwei Uhr nachts aufstehen und um vier aufhören. Dann mußte ich zu ihm kommen.»
«Er hat Ihnen befohlen, das zu tun?»
Er neigte seinen Kopf, und sein Schädel glänzte. «Ja. Er wußte, warum ich hergekommen war. Seit damals bin ich fast jeden Tag zu ihm gegangen. Morgen nicht, deswegen kann ich heute abend auch trinken. Ich trinke gern, aber ich kann nicht zu ihm gehen, wenn ich eine Fahne und Kopfschmerzen habe.»
«Haben Sie es jemals versucht?»
«Nein.»
«Hat er Ihnen ein koan gestellt?»
Er nickte, aber ich fragte ihn nicht, wie das koan gelautet hatte. Es gehört sich nicht, über koans zu sprechen. Das hatte mir mein eigener Lehrer gesagt. Im Kloster sah ich ihn jeden Morgen und jeden Abend. Auch ich hatte ein koan erhalten, doch ich hatte es nicht verstanden. Ich verstand nicht mal, worin die Frage eigentlich bestehen sollte, und niemand wollte es mir erklären. Ich mußte es selbst herausfinden.
Ich wollte ihn fragen, ob er eine Antwort auf sein koan gefunden hatte, aber ich dachte, ich sollte besser nicht.
«Ich habe mein koan nicht gelöst», sagte er eine kleine Weile später, «aber ich bin fast jeden Tag zu ihm gegangen. Normalerweise schläft er, wenn ich mich vor ihm verbeuge, er ist alt und nicht bei bester Gesundheit. Früher habe ich ihn immer geweckt, und dann hat er mich angesehen und gesagt: ‹Was, was ?›, und er hat seine Glocke geläutet. Wenn er seine Glocke läutet, muß ich gehen. Heute wecke ich ihn nicht mehr. Ich gehe einfach nur hinein, verbeuge mich, warte eine Minute und gehe wieder. »
«Scheiße», sagte ich.
«Entschuldigung ?»
«Scheiße», sagte ich.
Er lachte. «Ja, das klingt ganz schön dumm, häh? Aber nicht für mich. Er ist da, wenn ich ihn besuchen gehe, das reicht. Ich verlange nicht mehr allzu viel. Ich repariere Maschinen, und die Bauern bringen mir Gemüse und Reis und manchmal etwas Fleisch. Ich kann mein eigenes Holz hacken, und ich besitze ein motorisiertes Dreirad, mit dem ich einen Kubikmeter Holz transportieren kann, also kann ich losfahren und es mir selbst besorgen. Manchmal brauche ich nicht mal meinen Scheck. Ich habe vergangenes Jahr für die Reparatur der Pagode bezahlt. Nur für das Material. Die Arbeit ist von den Leuten hier aus der Gegend gemacht worden. »
«Hat Ihr Lehrer noch andere Schüler?»
«Nein, nur mich. Er ist im Ruhestand. Ganz in der Nähe gibt es ein Kloster mit einem jüngeren Lehrer. Er hat ein halbes Dutzend Laien-Schüler; ich habe ihn kennengelernt, aber er ist nichts für mich. Ich bin jetzt der Sohn des alten Mannes.»
«Aber er schläft doch», sagte ich und trank noch etwas Bier.
Ich würde vorsichtig sein müssen, das Haus begann bereits zu schwanken, und ich mußte immer noch meinen Schlafsack vom Motorrad holen. Er gestikulierte, wischte meinen Einwand beiseite.
«In San Francisco hatte meine Mutter eine kleine Miniatur-Pagode», sagte er, verzögerte seine Worte dabei ein wenig. «Sie war aus Elfenbein und hatte vier Etagen, genau wie die dort drüben. In der ersten Etage befand sich eine winzige Tür. Ich machte diese Tür immer auf und linste hinein, doch dahinter war nichts. Das machte mich immer ganz traurig. Die Pagode war so schön, sie hatte eine Turmspitze, die auf den Himmel zeigte, und kleine, schmale Veranden, die sie umgaben. Sie zeigte irgendwohin, aber sie war leer. Diese Pagode dort drüben ist nicht leer. »
«Aber er schläft doch», sagte ich störrisch. «Er weiß doch gar nicht, daß Sie gekommen sind, um ihn zu sehen. Sie haben zwei Stunden gesessen und meditiert, und irgend etwas ist in Ihnen geschehen. Sie sind gekommen, um ihm davon zu erzählen, aber er weiß es nicht.»
«Schweigen ist eine gute Antwort», sagte mein Gastgeber. Ich setzte mein Glas ab. Es waren immer noch einige Flaschen da, doch ich hatte genug. Ich holte meinen Schlafsack. Als ich wieder zurückkam, hatte er aufgeräumt und gab mir ein hartes kleines Kissen. «Wie kommen Sie übrigens dorthin?» fragte ich, bevor ich einschlief.
«Ich gehe zu Fuß.»
«Der Weg ist steil, es muß eine halbe Meile oder sogar noch mehr sein. Und Sie haben nur ein Bein.»
Eine Hand kam unter seiner wattierten Decke heraus und berührte meine Schulter.
Er lachte leise.


aus Janwillem van de Wetering, Das Koan und andere Zen-Geschichten, rororo