Montag, 10. Dezember 2012

Daisetz Teitaro Suzuki – Über Zen-Buddhismus




I  Ost und West

Viele Denker des Westens haben, jeder von seinem besonderen Gesichtspunkt aus, das abgenutzte Thema »Ost und West« behandelt, aber soviel ich weiß, gab es nur verhältnismäßig wenige Schriftsteller des Fernen Ostens, die als Vertreter des Ostens ihre Ansichten zum Ausdruck gebracht haben. Deshalb habe ich dieses Thema als eine Art Einleitung zu dem Folgenden gewählt.
Basho (1644-1694), ein großer japanischer Dichter des siebzehnten Jahrhunderts, schuf einst ein Gedicht aus siebzehn Silben, wie es als »Haiku« oder »Hokku« bekannt ist.

»Yoku mireba                         »Wenn ich aufmerksam schaue,
Nazuna hana saku                    Seh’ ich die Nazuna
Kakine kana.«                         An der Hecke blühen!«

Wahrscheinlich ging Basho eine Landstraße entlang, als er etwas bemerkte, das unscheinbar an der Hecke stand. Er näherte sich, sah genau hin und fand, daß es nichts als eine wilde Pflanze war, die recht unbedeutend ist und für gewöhnlich von Vorübergehenden nicht beachtet wird. Es ist eine einfache Tatsache, die in dem Gedicht beschrieben wird, ohne daß dabei ein besonders poetisches Gefühl zum Ausdruck kommt, außer vielleicht in den beiden letzten Silben, die auf japanisch »kana« lauten. Diese Partikel, die häufig an ein Hauptwort, ein Adjektiv oder ein Adverb angehängt wird, drückt ein gewisses Gefühl der Bewunderung, des Lobes, des Leidens oder der Freude aus und kann manchmal in der Übersetzung ziemlich treffend durch ein Ausrufungszeichen wiedergegeben werden. im vorliegenden Haiku endet der ganze Vers mit einem solchen Ausrufungszeichen.
Es ist nicht leicht, dem, der mit der japanischen Sprache nicht vertraut ist, das Gefühl zu vermitteln, das die siebzehn oder vielmehr fünfzehn Silben mit einem Ausrufungszeichen durchdringt. Ich will versuchen, so gut ich kann, es zu erklären. Der Dichter selbst wäre vielleicht mit meiner Interpretation nicht einverstanden; aber das macht nicht viel aus, wenn wir nur wissen, daß es überhaupt jemand gibt, der es so versteht wie ich.
Zunächst war Basho, wie die meisten Dichter des Ostens, ein Naturdichter. Sie lieben die Natur so sehr, daß sie sich mit ihr eins fühlen, daß sie jeden Pulsschlag in den Adern der Natur spüren. Die meisten Menschen des Westens neigen dazu, sich der Natur zu entfremden. Sie glauben, der Mensch und die Natur hätten außer in einigen wünschenswerten Punkten nichts gemeinsam, und die Natur sei nur dazu da, um vom Menschen ausgenützt zu werden. Den Menschen des Ostens jedoch ist die Natur sehr nahe. Dieses Gefühl für die Natur wurde angesprochen, als Basho eine unauffällige und fast unbedeutende Pflanze entdeckte, die an der alten, schäbigen Hecke entlang der abgelegenen Landstraße so unschuldig und anspruchslos blühte und keineswegs begehrte, von jemandem bemerkt zu werden. Und doch, wenn man sie betrachtet, wie zart ist sie, wie voll göttlicher Pracht und Herrlichkeit, die die Salomos weit übertrifft! Ihre Demut, ihre schlichte Schönheit erwecken Bewunderung. Der Dichter kann aus jedem Blütenblatt das Geheimnis des Lebens oder Seins lesen. Vielleicht war sich Basho selbst dessen gar nicht bewußt, aber ich bin sicher, daß sich damals in seinem Herzen ein Gefühl regte, in etwa mit dem verwandt, das die Christen göttliche Liebe nennen und das bis in die Tiefen des kosmischen Lebens reicht.
Die Gebirgszüge des Himalaya erregen in uns vielleicht das Gefühl von Ehrfurcht gegen ihre Erhabenheit; die Wogen des Stillen Ozeans lassen uns an die Unendlichkeit denken. Aber wenn der Geist eines Menschen poetisch, mystisch oder religiös aufgeschlossen ist, fühlt er wie Basho, daß selbst in jedem Grashalm etwas liegt, das über alle gemeinen, niedrigen menschlichen Gefühle hinausreicht und in einen Bereich erhebt, der an Glanz dem Land der Reinheit gleichkommt. Größe hat in solchen Fällen nichts zu bedeuten, in dieser Hinsicht hat der japanische Dichter eine besondere Begabung, in kleinen Dingen etwas zu entdecken, das alle quantitativen Ausmaße übertrifft.
Das ist der Osten. Sehen wir nun, was uns der Westen in einer ähnlichen Situation zu bieten hat. ich wähle Tennyson, der zwar vielleicht kein so typischer Dichter des Westens ist, um ihn zum Vergleich mit dem Dichter des Fernen Ostens heranzuziehen. Aber sein kurzes Gedicht, das ich hier zitiere, ist dem Bashos nahe verwandt. Es lautet:

»Blume in der geborstenen Mauer,
ich pflücke dich aus den Mauerritzen,
Mitsamt den Wurzeln halte ich dich in der Hand,
Kleine Blume – doch wenn ich verstehen könnte,
Was du mitsamt den Wurzeln und alles in allem bist,
Wüßte ich, was Gott und Mensch ist.«

In diesen Zeilen ist zweierlei bemerkenswert:
1. Tennyson pflückt die Blume, hält sie »mitsamt den Wurzeln« in der Hand und betrachtet sie wohl mit Aufmerksamkeit. Höchstwahrscheinlich hatte er ein ähnliches Gefühl wie Basho, als er die Nazuna-Blume an der Hecke am Wegrand entdeckte. Aber der Unterschied zwischen den beiden Dichtern besteht darin: Basho pflückt die Blume nicht, er betrachtet sie nur. Er ist in Gedanken versunken. Er fühlt etwas in seinem Innern, aber er spricht es nicht aus. Er läßt ein Ausrufungszeichen alles sagen, was er sagen will; denn er hat keine Worte; sein Gefühl ist zu voll, zu tief, und er hat nicht den Wunsch, es in Begriffe zu fassen.
Tennyson hingegen ist aktiv und analytisch. Als erstes pflückt er die Blume von der Stelle, wo sie wächst. Er reißt sie aus ihrem Nährboden. Ganz anders als der östliche Dichter läßt er die Blume nicht in Frieden. Er muß sie »mitsamt den Wurzeln« aus der geborstenen Mauer reißen, was bedeutet, daß die Pflanze sterben muß. Offenbar ist ihm ihr Schicksal gleichgültig; seine Neugier muß befriedigt werden. Wie gewisse Mediziner viviseziert er die Blume. Basho berührt die Nazuna nicht einmal, er betrachtet sie nur, er schaut sie »aufmerksam« an, weiter nichts. Er ist vollkommen passiv, ein guter Kontrast zu Tennysons Aktivismus.
Ich möchte diesen Punkt besonders betonen und komme später nochmals darauf zurück. Der Osten schweigt, der Westen ist beredt. Aber das Schweigen des Ostens bedeutet nicht, einfach stumm zu sein und wortlos oder sprachlos zu bleiben. Oft ist das Schweigen ebenso beredt wie ein Wortschwall. Der Westen liebt es, alles in Worte zu fassen. Und nicht nur das, er verwandelt das Wort in Materie und läßt diese Materialität manchmal überdeutlich oder vielmehr allzu grob und sinnlich in seiner Kunst und Religion zum Ausdruck kommen.
2. Was tut Tennyson als nächstes? Er betrachtet die gepflückte Blume, die aller Wahrscheinlichkeit nach zu welken beginnt, und fragt sich: »Verstehe ich dich?« Basho fragt überhaupt nicht. Er fühlt das ganze Geheimnis, das seine bescheidene Nazuna offenbart – das Geheimnis, das bis zum Ursprung aller Existenz reicht. Er ist von diesem Gefühl berauscht und äußert sich in einem unaussprechbaren, unhörbaren Schrei.
Im Gegensatz dazu fährt Tennyson mit seiner Gedankenarbeit fort: »Wenn ich dich verstehen könnte« (ich betone das Wenn), »wüßte ich, was Gott und Mensch ist.« Sein Appell an das Verstehen ist typisch für den Westen. Basho nimmt hin, Tennyson widersteht. Tennysons Individualität distanziert ihn von der Blume, von »Gott und Mensch«. Er identifiziert sich weder mit Gott noch mit der Natur. Er ist stets von ihnen abgesondert. Sein Verstehen ist »wissenschaftlich objektiv«, wie es heutzutage genannt wird. Basho ist durch und durch »subjektiv«. (Das ist kein gutes Wort; denn das Subjekt wird immer einem Objekt gegenübergestellt. Mein »Subjekt« ist etwas, was ich »absolute Subjektivität« nennen möchte.) Basho beharrt auf dieser »absoluten Subjektivität«, mit der er die Nazuna und die Nazuna ihn sieht. Hier gibt es weder Einfühlung noch Mitgefühl und auch keine Identifizierung.
Basho sagt: »Wenn ich aufmerksam schaue.« Das Wort »aufmerksam« deutet an, daß Basho hier nicht mehr Zuschauer ist, sondern daß sich die Blume ihrer selbst bewußt wurde und sich schweigend, beredt ausdrückt. Und diese schweigende Beredsamkeit, dieses beredte Schweigen der Blume wird in menschlicher Ausdrucksweise durch Bashos siebzehn Silben wiedergegeben. Welche Gefühlstiefe, welches Geheimnis des Ausdrucks, ja sogar welche Philosophie der »absoluten Subjektivität« darin liegt, ist nur denen verständlich, die das alles selbst schon erlebt haben.
Bei Tennyson gibt es, soviel ich sehen kann, zunächst keine Gefühlstiefe; typisch für die westliche Mentalität, ist er ganz Intellekt. Er ist ein Verfechter des Logos. Er muß etwas sagen, er muß sein konkretes Erlebnis abstrahieren oder gedanklich verarbeiten. Er muß aus dem Bereich des Gefühls in das des Intellekts treten und das Leben und das Gefühl einer Reihe von Analysen unterwerfen, um die Neugier des westlichen Menschen zu befriedigen.
Ich habe diese zwei Dichter, Basho und Tennyson, gewählt, weil sie zwei charakteristische Arten zeigen, die Wirklichkeit zu betrachten. Basho kommt aus dem Osten und Tennyson aus dem Westen. Wenn wir sie vergleichen, sehen wir, daß jeder die Traditionen seiner Umwelt offenbart. Demnach ist der westliche Geist analytisch, unterscheidend, differenzierend, induktiv, individualistisch, intellektuell, objektiv, wissenschaftlich, verallgemeinernd, begrifflich, schematisch, unpersönlich, am Recht hängend, organisierend, Macht ausübend, selbstbewußt, geneigt, anderen seinen Willen aufzuzwingen, usw. Die Wesenszüge des Ostens können dagegen folgendermaßen charakterisiert werden: synthetisch, zusammenfassend, integrierend, nicht unterscheidend, deduktiv, unsystematisch, dogmatisch, intuitiv (bzw. affektiv), nicht diskursiv, subjektiv, geistig individualistisch und sozial kollektivistisch usw.[1].
Sollen diese charakteristischen Eigenschaften von Ost und West durch Personen symbolisiert werden, muß ich auf Laotse (viertes Jahrhundert v. Chr.), einen großen Denker im alten China, zurückgehen. Ich lasse ihn den Osten vertreten, und das, was er »die Vielen« nennt, den Westen. Wenn ich »die Vielen« sage, will ich meinerseits jedoch nicht dem Westen in irgendeinem abfälligen Sinne die Rolle jener Masse zuteilen, die der alte Philosoph beschreibt.
Laotse ähnelt nach seiner eigenen Beschreibung einem Idioten. Er sieht aus, als wisse er nichts, als berühre ihn nichts. In dieser utilitaristischen Welt ist er praktisch unnütz. Er ist fast ausdruckslos. Und doch ist etwas in ihm, das ihn von einem unwissenden Einfältigen unterscheidet; er gleicht diesem nur äußerlich.
Im Gegensatz dazu besitzt der Westen ein Paar scharfe, durchdringende Augen, die tief in den Höhlen liegen und die Außenwelt überblicken wie die Augen eines Adlers, der hoch in den Lüften schwebt. (Tatsächlich ist der Adler das nationale Symbol einer gewissen westlichen Macht.) Seine scharfgeschnittene Nase, seine dünnen Lippen und die gesamten Gesichtszüge – sie alle deuten auf eine hochentwickelte Intelligenz und eine Bereitschaft zum Handeln hin. Diese Bereitschaft ist mit der eines Löwen vergleichbar. Und in der Tat sind Löwen und Adler die Symbole des Westens.
Tschuangtse im dritten Jahrhundert v. Chr. erzählt die Geschichte von Konton (hun-tun), dem Chaos. Die Freunde des Chaos verdankten ihm vieles von dem, was sie erreicht hatten, und wollten sich erkenntlich zeigen. Sie beobachteten, daß das Chaos keine Sinnesorgane hatte, um die Außenwelt zu unterscheiden. So gaben sie ihm an einem Tag Augen, am nächsten eine Nase, und innerhalb einer Woche vollendeten sie das Werk, es in eine fühlende Person wie sie selbst zu verwandeln. Während sie einander zu ihrem Erfolg gratulierten, starb das Chaos.
Der Osten ist das Chaos, der Westen die Schar jener dankbaren und wohlmeinenden, aber unkritischen Freunde.
Zweifellos erscheint der Osten in vieler Hinsicht dumm und stupide, da die Menschen des Ostens nicht so viele sichtbare und greifbare Zeichen von Intelligenz erkennen lassen. Sie sind chaotisch und scheinbar gleichgültig. Aber sie wissen, daß ihre angeborene Intelligenz ohne diesen chaotischen Zug dem menschlichen Zusammenleben nicht viel nützen würde. Die fragmentarischen Einzelglieder können ohne Bezug auf das Unendliche selbst, das tatsächlich jedem einzelnen der endlichen Glieder zugrundeliegt, nicht harmonisch und friedlich zusammenwirken. Die Intelligenz gehört dem Kopf an; und ihr Wirken ist auffallender und leistet viel, wogegen das Chaos still und stumm hinter aller oberflächlichen Betriebsamkeit verharrt. Seine wahre Bedeutung tritt niemals so stark hervor, daß sie für Beobachter erkennbar würde.
Der wissenschaftlich eingestellte Westen gebraucht seine Intelligenz, um alle möglichen Einrichtungen zu erfinden, um den Lebensstandard zu erhöhen und sich seiner Meinung nach unnötige Arbeit und Plackerei zu ersparen. Er gibt sich daher alle Mühe, die ihm zugänglichen natürlichen Hilfsquellen zu »entwickeln«. Dem Osten hingegen macht es nichts aus, alle möglichen niedrigen und manuellen Arbeiten zu verrichten; er ist offenbar mit dem »unentwickelten« Stand seiner Zivilisation zufrieden. Er möchte nicht dem Maschinendenken verfallen; sich zu einem Sklaven der Maschine machen. Diese Liebe zur Arbeit darf man wohl charakteristisch für den Osten nennen. Die Geschichte eines Bauern, die Tschuangtse erzählt, ist in vieler Hinsicht bezeichnend und vielsagend, obwohl sie sich vor über zweitausend Jahren in China abgespielt haben soll.
Tschuangtse war einer der größten Philosophen des alten China. Man sollte ihn viel mehr studieren, als dies zur Zeit geschieht. Die Chinesen sind nicht so spekulativ wie die Inder und vernachlässigen leicht ihre eigenen Denker. Obwohl die Kenner der chinesischen Literatur Tschuangtse als den größten Stilisten sehr gut kennen, werden seine Gedanken nicht so gewürdigt, wie sie es verdienten. Er war ein hervorragender Sammler von Geschichten, die zu seiner Zeit in Umlauf waren Wahrscheinlich hat er jedoch auch viele Geschichten selbst erdacht, um seine eigenen Lebensansichten zu illustrieren. Hier ist eine Geschichte, die seine Philosophie der Arbeit prächtig veranschaulicht, die Geschichte eines Bauern, der es ablehnte, ein Ziehgestänge zu benutzen, um Wasser aus seinem Brunnen zu heben.
Ein Bauer grub einen Brunnen, um sein Land zu bewässern. Das Wasser trug er in einem Eimer mühsam aus dem Brunnen herauf. Als das ein Vorübergehender sah, fragte er den Bauern, warum er dazu nicht einen Ziehbrunnen verwende; er spare Arbeit und leiste mehr als die primitive Methode. Der Bauer sagte: »Ich weiß, daß er Arbeit spart, und gerade das ist der Grund, warum ich ihn nicht verwende. Ich fürchte, daß man dem Maschinendenken verfällt, wenn man eine solche Einrichtung verwendet, und das führt zu Indolenz und Faulheit.«
Die Menschen des Westens fragen oft, warum die Chinesen nicht mehr Wissenschaften und mechanische Vorrichtungen entwickelt haben. Das ist eigenartig, sagen sie, da doch die Chinesen für ihre Entdeckungen und Erfindungen wie den Magneten, das Schießpulver, das Rad, das Papier und andere Dinge bekannt sind. Der Hauptgrund ist der, daß die Chinesen und andere asiatische Völker das Leben so lieben, wie es ist, und es nicht in ein Mittel verwandeln wollen, etwas zu erreichen, was den Lauf des Lebens in eine völlig andere Bahn lenken würde. Sie lieben die Arbeit um ihrer selbst willen, wenn auch, objektiv gesehen, arbeiten etwas vollbringen heißt. Aber bei der Arbeit freuen sie sich an der Arbeit und beeilen sich nicht, sie zu beenden. Mechanische Vorrichtungen sind wohl wirksamer, sie leisten mehr, aber die Maschine ist unpersönlich und unschöpferisch und hat keinen Sinn.
Mechanisierung bedeutet Verstandesarbeit, und da der Verstand in erster Linie zweckmäßig denkt, hat die Maschine keine geistige Ästhetik und keinen ethischen Geist. Hierin liegt der Grund, der Tschuangtses Bauern veranlaßte, sich nicht der Maschine auszuliefern. Die Maschine drängt uns, die Arbeit zu beenden und das Ziel zu erreichen, für das sie geschaffen wurde. Die Arbeit an sich ist wertlos, außer als Mittel zum Zweck. Das heißt, das Leben verliert hier seine schöpferische Kraft und wird zu einem Instrument, und der Mensch ist nunmehr ein Mechanismus, der Güter produziert. Die Philosophen sprechen von der Bedeutung der Person; wie wir jetzt sehen, ist in unserem hochindustrialisierten und mechanisierten Zeitalter die Maschine alles und der Mensch fast völlig zur Knechtschaft verdammt. Das ist es, glaube ich, was Tschuangtse fürchtete. Natürlich können wir das Rad der Industrialisierung nicht bis zum Zeitalter der primitiven Handarbeit zurückdrehen. Aber es wird gut sein, wenn wir der Bedeutung der Hände eingedenk sind und auch der Übel, die mit der Mechanisierung des modernen Lebens einhergehen, das den Intellekt auf Kosten des Lebensganzen zu sehr betont.
Soviel für den Osten. Nun einige Worte über den Westen. Denis de Rougemont sagt in seinem Man’s Western Quest, daß »der Mensch und die Maschine« die beiden hervorstechendsten Merkmale der westlichen Kultur seien. Das ist bezeichnend, weil der Mensch und die Maschine einander widersprechende Erscheinungen sind und der Westen schwer darum kämpft, sie miteinander in Einklang zu bringen. Ich weiß nicht, ob die Menschen des Westens dies bewußt oder unbewußt tun. Ich möchte nur auf die Art und Weise hinweisen, wie diese beiden heterogenen Ideen gegenwärtig die Gedanken des Westens beeinflussen. Es muß beachtet werden, daß die Maschine zu Tschuangtses Philosophie der Arbeit in Widerspruch steht und daß die westlichen Auffassungen von individueller Freiheit und persönlicher Verantwortung den östlichen Auffassungen von absoluter Freiheit widersprechen. Ich will hier keine Einzelheiten anführen, sondern will nur versuchen, die Widersprüche zusammenzufassen, denen der Westen gegenwärtig gegenübersteht und unter denen er leidet:
1. Mensch und Maschine bilden einen Widerspruch, und wegen dieses Widerspruches steht der Westen unter großer psychologischer Spannung, die sich in verschiedenen Bereichen seines modernen Lebens äußert.
2. Zum Begriff des Menschen gehören Individualität und persönliche Verantwortung, wogegen die Maschine das Produkt von Gedankenarbeit, Abstraktion, Verallgemeinerung, Totalisierung und Kollektivdasein ist.
3. Objektiv, intellektuell oder vom Maschinendenken aus gesehen, hat persönliche Verantwortung keinen Sinn. Die Verantwortung hängt logisch mit der Freiheit zusammen, und in der Logik gibt es keine Freiheit, denn alles wird durch starre syllogistische Regeln beherrscht.
4. Überdies wird der Mensch als biologisches Produkt von biologischen Gesetzen beherrscht. Die Vererbung ist eine Tatsache, die keine Persönlichkeit ändern kann. Ich werde nicht durch meinen eigenen freien Willen geboren. Die Eltern bringen mich nicht durch ihren freien Willen zur Welt. Geburtenplanung hat in Wirklichkeit keinen Sinn.
5. Freiheit ist ebenfalls eine unsinnige Idee. Ich lebe sozial, in einer Gemeinsehaft, wodurch ich in all meinen Bewegungen eingeschränkt werde, und zwar sowohl in geistiger als auch physischer Hinsicht. Selbst wenn ich allein bin, bin ich keineswegs frei. Ich habe alle möglichen Impulse, die ich nicht immer beherrsche. Einige Impulse gehen ohne meinen Willen mit mir durch. Solange wir in dieser begrenzten Welt leben, können wir niemals behaupten, wir seien frei oder handelten, wie wir wollten. Selbst dieser Wunsch ist etwas, das uns nicht gehört.
6. Der Mensch kann von Freiheit sprechen, soviel er mag; die Maschine schränkt seine Freiheit doch so sehr ein, daß sie leeres Gerede bleibt. Der Mensch des Westens ist von Anfang an genötigt, beschränkt, gehemmt. Seine Spontaneität ist keineswegs seine eigene, sondern die der Maschine. Die Maschine hat keine schöpferische Kraft; sie arbeitet nur soweit oder soviel, wie es das, was in sie hineingesteckt wird, ermöglicht. Sie handelt nie als »Person«.
7. Der Mensch ist nur frei, wenn er unpersönlich ist. Er ist frei, wenn er sich verleugnet und im Ganzen aufgeht. Genauer gesprochen, er ist frei, wenn er er selbst und doch nicht er selbst ist. Solange er diesen scheinbaren Widerspruch nicht voll und ganz versteht, steht es ihm nicht zu, von Freiheit, Verantwortung oder Spontaneität zu sprechen. So ist zum Beispiel die Spontaneität, von der die Menschen des Westens, vor allem einige Psychoanalytiker, sprechen, nicht mehr und nicht weniger als kindliche oder tierische Spontaneität und nicht die Spontaneität der voll ausgereiften Persönlichkeit.
8. Maschine, Behaviorismus, bedingte Reflexe, Kommunismus, künstliche Besamung, Automation allgemein, Vivisektion, Wasserstoffbombe – sie alle stehen in innigster Beziehung zueinander und bilden zusammengeschweißte feste Glieder einer logischen Kette.
9. Der Westen bemüht sich, einen Kreis in ein Quadrat zu verwandeln. Der Osten versucht, einen Kreis dem Quadrat gleichzusetzen. Für das Zen ist der Kreis ein Kreis und das Quadrat ein Quadrat, und gleichzeitig ist das Quadrat ein Kreis und der Kreis ein Quadrat.
10. Freiheit ist ein subjektiver Begriff, der sieh objektiv nicht interpretieren läßt. Wenn wir es versuchen, verwickeln wir uns unentwirrbar in Widersprüche. Deshalb sage ich, es ist Unsinn, in dieser objektiven Welt der Beschränkungen um uns von Freiheit zu sprechen.
11. Im Westen ist Ja gleich Ja und Nein gleich Nein. Ja kann niemals Nein bedeuten und umgekehrt. Der Osten läßt Ja zu Nein und Nein zu Ja hinübergleiten; zwischen Ja und Nein gibt es keine starre Grenze. Es liegt in der Natur des Lebens, daß dies so ist. Nur in der Logik ist die Grenze unverwischbar. Die Logik wurde vom Menschen als Hilfsmittel für nützliche Zwecke geschaffen.
12. Wenn dem Westen diese Tatsache bewußt wird und er gewisse physikalische Phänomene nicht durch Erklärungen aus der Welt schaffen kann, erfindet er Begriffe, wie sie in der Physik als Komplementarität oder als Unschärferelation bekannt sind. Wie gut es ihm aber auch gelingen mag, einen Begriff nach dem anderen zu erfinden, er kann bestehende Tatsachen nicht überlisten.
13. Wir befassen uns hier nicht mit der Religion, aber es ist vielleicht nicht uninteressant, folgendes festzustellen: Das Christentum, die Religion des Westens, spricht von Logos, Wort, Fleisch, Inkarnation und leidenschaftlicher Weltlichkeit. Die Religionen des Ostens streben nach Exkarnation, Stille, Absorption, ewigem Frieden. Für Zen ist Inkarnation gleich Exkarnation, die Stille dröhnt wie Donner, das Wort ist wortlos, das Fleisch fleischlos, Hier-jetzt ist gleich Leere (sunyata) und Unendlichkeit.



II  Das Unbewußte im Zen-Buddhismus

Es ist vielleicht nicht dasselbe, was ich unter dem »Unbewußten« verstehe und was Psychoanalytiker damit meinen, und ich muß daher meine Auffassung erklären. Vor allem, wie ich an die Frage des Unbewußten herangehe. Wenn ich einen solchen Ausdruck gebrauchen soll, würde ich sagen, mein »Unbewußtes« ist »metawissenschaftlich« (überwissenschaftlich) oder »antewissenschaftlich« (vorwissenschaftlich). Sie alle sind Wissenschaftler, und ich bin ein Anhänger des Zen, und meine Auffassung ist »antewissenschaftlich« manchmal sogar »antiwissenschaftlich«, fürchte ich. »Antewissenschaftlich« ist vielleicht kein passender Ausdruck, aber er scheint das auszudrücken, was ich damit sagen möchte. Auch »metawissenschaftlich« ist vielleicht nicht schlecht, denn die Auffassung des Zen kommt zur Entfaltung, nachdem die Wissenschaft oder die Intellektualisierung seit geraumer Zeit das gesamte Gebiet menschlicher Forschung eingenommen hat; und das Zen verlangt, daß wir, bevor wir uns bedingungslos der Herrschaft der Wissenschaft über den gesamten Bereich menschlicher Tätigkeit unterwerfen, innehalten und nachdenken, ob die Dinge, so wie sie sind, in Ordnung sind.
Die wissenschaftliche Methode, die Wirklichkeit zu untersuchen, besteht darin, einen Gegenstand vorn sogenannten objektiven Standpunkt aus zu betrachten. Nehmen wir beispielsweise an, eine Blume hier auf dem Tisch sei Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung. Die Wissenschaftler werden sie allen möglichen botanischen, chemischen und physikalischen Analysen unterziehen und uns mitteilen, was sie von diesen verschiedenen Blickwinkeln aus über die Blume gefunden haben, und sie werden sagen, daß die Untersuchung der Blume abgeschlossen und nichts weiter über sie zu sagen sei, wenn nicht zufällig im Verlauf anderer Untersuchungen etwas Neues entdeckt werde.
Das Hauptmerkmal, das die Einstellung der Wissenschaft zur Wirklichkeit auszeichnet, besteht darin, daß sie einen Gegenstand beschreibt, über ihn spricht, um ihn herumgeht, alles festhält, was unsere Sinne und unseren Verstand erregt, und es vom Gegenstand selbst fortabstrahiert, und wenn sie glaubt, fertig zu sein, diese analytisch gebildeten Abstraktionen synthetisiert und das Ergebnis für den Gegenstand selbst hält.
Aber es bleibt immer noch die Frage offen: »Ist wirklich der ganze Gegenstand im Netz gefangen?« Ich möchte sagen; »Keineswegs!« Denn der Gegenstand, den wir glauben gefangen zu haben, ist bloß eine Summe von Abstraktionen und nicht der Gegenstand selbst. Für praktische utilitaristische Zwecke scheinen all diese sogenannten wissenschaftlichen Formeln mehr als ausreichend zu sein, aber der sogenannte Gegenstand ist nicht ganz da. Wenn wir das Netz eingeholt haben, finden wir, daß etwas durch die feineren Maschen geschlüpft ist.
Es gibt jedoch noch einen anderen Weg, der Wirklichkeit gegenüberzutreten, der vor oder nach den Wissenschaften kommt. Ich nenne ihn Zen.


aus einem Vortrag, den Suzuki anläßlich einer Arbeitstagung über Zen-Buddhismus und Psychoanalyse hielt, die unter der Leitung des Instituts für Psychoanalyse an der medizinischen Fakultät der autonomen Staatsuniversität von Mexiko im August 1957 in Cuernavaca, Mexiko, abgehalten wurde – entnommen aus: Fromm, Suzuki, deMartino, Zen-Buddhismus und Psychoanalyse




[1] Die Christen betrachten die Kirche als Mittel zur Erlösung, weil sie Christus, den Erlöser, symbolisiert. Die Christen stehen nicht unmittelbar, sondern durch Christus mit Gott in Verbindung, und Christus ist die Kirche, und die Kirche ist der Ort, wo sie sich versammeln, um Gott anzubeten und ihn durch Christus um Erlösung zu bitten. In dieser Hinsicht sind die Christen kollektivistisch, während sie in gesellschaftlicher Hinsicht für den Individualismus eintreten.


siehe auch:
Zen für Dummies (GoogleBooks)
- Intersubjektivität in Mahāyāna-Buddhismus und relationaler Psychoanalyse (Wirthbauer, Journal für Psychologie, 2009)
- Giulio Cesare Giacobbe Wie Sie Ihre Hirnwichserei abstellen und stattdessen das Leben genießen (Leseprobe, Goldmann-Verlag)
- Neurose und Erleuchtung – Überlegungen zu Sinnfindung (Zwiebel, Zen-Forum, 2004, PDF)


aktualisiert am 22.07.2015