Die letzte Periode kam, und ich tat mein Bestes, um sie nicht zu vergeuden. Die plötzliche Stimme des Jikki schreckte mich auf.
»Heute abend wird es keine Party geben«, sagte Rupert. »Peter will, daß wir das Schweigen bis morgen früh fortsetzen. Wir werden alle um neun Uhr am Grab des alten Meisters erwartet. Danach gibt es ein gemeinsames Frühstück.«
Er hustete. Ich wartete auf den Rest der Botschaft, aber das Schweigen lastete wieder auf dem Zendo. Edgar, mein Nachbar, blies durch seinen Schnurrbart.
›Mahlzeit‹, dachte ich. ›Keine Party. Schrecklich.‹
Doch als die Woge der Enttäuschung vorüber war, grinste ich. Keine Party. Na und? Die Party war mir eigentlich egal. Es gab andere schöne Dinge, an die man denken konnte. Rohatsu war vorbei, und ich konnte gemütlich Kaffee trinken, schönen starken Kaffee mit einem Schuß Büchsenmilch. Und hinterher unter meine Decken tauchen. Und am nächsten Morgen lange schlafen. Ich brauchte nicht vor acht Uhr aufzustehen. Und nach dem Frühstück würde ich einen Spaziergang im Wald oder am Strand machen. Ich könnte mir die Schwertschwänze ansehen und die Eichelhäher füttern. Und ich hatte ein gutes Gewissen. Ich hatte mein Bestes getan, natürlich hätte es besser sein können, aber trotzdem, diesmal hatte ich mich wirklich bemüht.
Ich schätzte, daß uns noch fünf Minuten blieben, und verstärkte wieder meine Konzentration.
Das vertraute Rascheln von Peters seidenem Kimono holte meine Aufmerksamkeit wieder in die Halle zurück. Er hatte Rohatsu eröffnet, nun würde er die Woche beschließen. Ich lauschte, zweifellos würde er die richtigen Worte wählen. Er hatte den Altar erreicht und wandte sich uns zu. »Ich möchte euch die Geschichte von der kleinen weißen Maus erzählen.« Eine Woge des Glücks durchströmte mich. Die weiße Maus. Hätte er einen besseren Titel aussuchen können? Das kleine Tierchen mit seinem langen Schwanz, das in einem Glaskasten wohnt und Tunnel durch das Sägemehl gräbt, um als Höhepunkt seiner Aktivitäten in einem aus einer Zigarrenkiste gezimmerten Rad zu laufen. In dem Moment, in dem Peter die Worte die weiße Maus aussprach, wußte ich, daß meine Zweifel an der Lehre und an der allgemeinen Ausbildung, an der ich teilgenommen hatte, gegenstandslos waren. Ich lebte schließlich doch in der Welt Han-Shans und seines Freundes Shih-te, der verrückten kleinen Burschen, die vor tausend Jahren auf ihrem Kalten Berg herumliefen. Ich hatte getan, was ich hatte tun müssen, als ich nach Japan gegangen war.
Blitzschnell zogen eine Reihe weit zurückliegender Szenen an meinem Auge vorbei, die ersten Anzeichen der Befreiung, die ich an diesem Abenteuer schließlich finden würde. Ich erinnerte mich, wie ich schon als ganz kleines Kind gewußt hatte, daß die Aufregung, die Ängste und die Sorgen der Erwachsenen in meiner unmittelbaren Umgebung keine wirkliche Grundlage besaßen. Ich erkannte es blitzartig, aber es gelang den anderen immer, mich davon zu überzeugen, daß ich unrecht hatte, und dann fühlte ich mich wieder schuldig oder ängstlich - oder beides.
Die menschliche Natur hat keine wirkliche Verbindung mit den Gefühlen Schuld oder Angst - sie ist frei. Und ich wußte auch, daß diese Entdeckung nichts mit irgendeiner spezifischen Religion, nicht einmal mit dem Lächeln der Buddhastatue, zu tun hatte. Buddha entdeckte, was lange vor ihm bekannt gewesen war. Die auf sein Erlebnis gegründete Religion hatte mit dem plötzlichen Befreiungsblitz, den ich an jenem Abend im Zendo verspürte, nicht das Geringste zu tun. Ich begriff jetzt, warum der Meister im Tempel von Kioto sich geweigert hatte, mich zum Buddhisten zu machen. Wer sich fanatisch an irgendeinen Glauben bindet, versperrt sich den Weg nach draußen. Ich erinnerte mich, daß der alte Lehrer, in den mehr als zwanzig Jahren seines Meister-Daseins, es immer abgelehnt hatte, die Wörter Buddhismus oder Zen zu gebrauchen. Er hatte immer überrascht gelächelt, wenn ein SchüleI Buddha zitierte, um etwas zu beweisen.
»Eine kleine weiße Maus«, wiederholte Peter.
»In Japan ist eine weiße Maus ein gutes Omen. Wenn man eine weiße Maus sieht, kann man mit ein bißchen Glück rechnen. Sie ist ein Zeichen für Gesundheit, viel Geld, Erfolg.
Eines Tages nahmen ein Vater und sein Sohn in ihrem kleinen Haus ihren Abendreis zu sich.
›
» Seid nicht wie die kleine weiße Maus. Es ist eine harte Woche gewesen. Eine schwierige Übung. Wenn ihr euch jetzt schüttelt, werdet ihr so grau sein wie am Anfang von Rohatsu. Paßt auf und bleibt weiß. Eines Tages werdet ihr vielleicht wirklich weiß sein.«
Er verbeugte sich und verließ den Zendo. Rupert läutete seine Glocke zum letztenmal.
Vielleicht hast du jetzt Satori erfahren. Die große Erfahrung, von der die Zen-Bücher sprechen.
Ist es wichtig, was genau du erfahren hast?
Natürlich nicht.
Nichts ist wichtig.
Auch Satori ist nicht wichtig.
Vergiß das Wort.
Lebe, als ob du es nie gehört hättest.
aus Janwillem van de Wetering, Ein Blick ins Nichts