Dienstag, 23. Juni 2009

Sexuelle Verwahrlosung – Der Kampf um die Kinderseelen

Ein 11-jähriges Mädchen fragt, ob es noch normal ist:„Ich hatte noch nie Sex.’
Auf dem Schulhof küssen sich Pärchen nicht mehr, weil sie das im Porno nicht gezeigt bekommen, Zwölfjährige haben Gruppensex, Partnerwechsel ist unter Teenagern eine sportliche Herausforderung.


Was Bernd Siggelkow, Jugendpastor und Gründer des Berliner Jugendwerks „Arche”, und der Sprecher der Einrichtung, Wolfgang Büscher gehört haben, ist erschütternd. Im Berliner Problem-Bezirk Hellersdorf sprachen die beiden Autoren mit mehr als 80 Jugendlichen über Pornografie, sexuelle Erfahrungen und die Begebenheiten im elterlichen Schlafzimmer. 30 Geschichten von Jugendlichen werden in dem Buch „Deutschlands sexuelle Tragödie” nacherzählt.

Die Arche ist eine Art Ersatzfamilie für viele Jugendliche in Berlin-Hellersdorf. Es gibt dort eine warme Mahlzeit, Platz zum Spielen, Aufmerksamkeit von Erwachsenen, die Möglichkeit, Gespräche zu führen. Das alles in einer Umgebung, die den Jugendlichen keine Perspektive bietet. Viele sind Schulabbrecher, selbst die mit einem Schulabschluss haben so gut wie keine Chance auf einen Ausbildungsplatz. Der Weg in das Erwachsenenleben führt für diese Jugendlichen über Sex. Andere Aufstiegsmöglichkeiten haben sie nicht.

Erschütternde Geschichten

Die Mutter einer 12-Jährigen erzählte, wie sie ihre Tochter regelmäßig los schickt, um Jungen mit nach Hause zu bringen. Gemeinsam haben sie dann mit den Jungs geschlafen und anschließend Partner getauscht. Bernd Siggelkow hat in der Arche einen Liebesbrief einer Neunjährigen an einen zehnjährigen Jungen gefunden, in dem sich das Mädchen mit allem anbietet, was sexuell möglich ist. Die alarmierten Eltern fanden nichts dabei: „Es ist doch nur Sex. Ist doch ganz normal” Wenn Kinder im emotionalen Notstandsgebiet aufwachsen, hat das Folgen: Ein Junge erzählt von einem Streich während der Love-Parade. Sämtliche Kondome, die er und seine Kumpels vom Wagen warfen, hatten sie vorher mit einer Nadel durchstochen. Der Junge fand das komisch. Am Ende erzählte er Siggelkow, dass er mit 15 Jahren mit seiner Mutter in ein Frauenhaus geflohen war und dort von einer anderen Mutter verführt worden war.

Elternhaus? Fehlanzeige!

Wenn Siggelkow mit den Eltern der Arche-Kinder spricht, dann fast immer mit Müttern. „Väter gibt’s hier nicht.” In der Unterschicht haben sich die Beziehungen längst verändert: Die Männer sind nicht mehr Ernährer der Familie, der Staat springt ein und macht es den Partnern leicht, sich zu trennen. Nur 30 % der Väter und 10 % der Mütter haben eine Berufsausbildung. Ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung gibt es keine realistische Chance auf einen Job. Auf den ökonomischen Niedergang folgt die emotionale Verwahrlosung.

Wenn die Eltern nicht mehr Vorbilder ihrer Kinder sind, suchen sich die Jugendlichen andere Idole – im Internet oder unter Porno-Rappern.

Mädchen lernen von ihren Müttern: Es gibt keine Chance, Anerkennung zu erfahren, außer durch Sex. Pastor Siggelkow trifft Mütter, für die Sex das absolute Highlight ihres Lebens ist. Meistens das einzige. „Sex wird das, was für andere der Beruf ist, das Studium, der Sport oder das Spielen eines Instruments – die Möglichkeit, den eigenen Ehrgeiz auszuleben und zu befriedigen", schreibt das Magazin „Stern” im Artikel „Voll Porno!” im Februar 2007.
Der Stern-Artikel war Auslöser für die Autoren, das Buch zu schreiben. Die Jugendlichen aus Problembezirken, so Siggelkow und Büscher, sind durch das enthemmte Verhalten ihrer Eltern von „sexueller Verwahrlosung” bedroht. Viele Kinder, vor allem die der „sogenannten Unterschicht”, hätten schon früh ein Drehbuch zum Sex im Kopf: „Das Gefühl, nichts wert zu sein, führt diese Menschen schnurgerade dahin, Bestätigung in der Sexualität zu suchen”, erläutert Siggelkow.

Hintergrundmusik zur Verwahrlosung

Es gibt aber noch mehr Faktoren: Der Nachmittagsmüll im Privatfernsehen, Talkshows mit Live-Vaterschaftstests, dazu leicht zugängliche Pornos im Internet und Musik, mit der etwa das Label „Aggro Berlin” die Welt verseucht hat. Bushido, Sido und Frauenarzt – das sind Porno-Rappen, die Idole von Jugendlichen sind, weil viele ihrer Titel nicht im Radio gespielt werden, weil sie auf dem Index stehen. Sido beschreibt in dem Song, der ihn bekannt machte, die anale Vergewaltigung eines Mädchens, der Text von Bushidos „Gang-Bang” ist hier nicht zitierbar, Frauenarzt brüllt Vergewaltigungsphantasien ins Micro. Die Kinder hören so etwas dennoch, auf dem Schulhof wird mit Bluetooth-Technik von Handy zu Handy getauscht. Das Label „Aggro Berlin” hat seine Aktivitäten im April 2009 eingestellt, aber nicht aus Einsicht: „Heute, neun Jahre später, haben die Gründer und Künstler von Aggro Berlin alles erreicht, was in diesem Rahmen möglich ist”, ist auf der Internetseite nachzulesen.

Bernd Siggelkow hat durch seine langjährige Arbeit mit Jugendlichen und Kindern in den Problembezirken das nötige Vertrauen erworben, um solche Gespräche zu führen, die in dem Buch aufgezeichnet sind. Der Pastor Siggelkow und der Journalist Büscher beschreiben die Lebenswelt der Kinder und die Verhältnisse in den Elternhäusern. Aber Lösungsvorschläge zielen nur auf die Kinder ab. Die Mütter und Väter in den sozialen Brennpunkten haben die Autoren bereits aufgegeben.

Stefan Lummer

aus Der Allgemeinarzt 10/2009

Dazu auch ein Artikel in der Augsburger Allgemeinen