Montag, 15. Oktober 2012

Ronald D. Laing



Ronald D. Laing


Einleitung

Ronald Laing gehört zu den namhaftesten Vertretern der sogenannten Antipsychiatrie. Er hat sich viel mit Schizophrenieforschung, Kommunikations- und Interaktionstheorie beschäftigt. Aus der Philosophie übernahm er vor allem phänomenologische, personalistische und existentialistische Konzepte; Martin Buber, Jean-Paul Sartre, Ludwig Binswanger und manche andere haben ihn tiefgreifend beeinflußt. Laings Rebellion gegen die orthodoxe Psychiatrie ist im Grunde ein Aufstand der modernen Philosophie gegen den naturwissenschaftlichen Dogmatismus der Psychiater und der Psychoanalytiker. Laing ist durch seine neue Weise, die Probleme der Geisteskrankheit zu interpretieren, berühmt geworden.
Er wurde am 7. 10. 1927 als Einzelkind in Glasgow (Schottland) geboren. Seine Eltern entstammten dem unteren Mittelstand; beide waren recht problematische Persönlichkeiten. So hatte Laing eine schwierige Kindheit und Jugend, die ihn darauf vorbereiteten, sich später in komplizierte Menschenseelen einzufühlen. Er litt in seinen Jugendjahren unter der väterlichen Autorität, unter der Prüderie beider Eltern und unter seiner Isolierung bezüglich sozialer Beziehungen. Aus irgendwe1chen Gründen ließen ihn die Eltern nicht mit anderen Kindern spielen; so war er auf sich selbst verwiesen und baute sich eine eigentümliche Phantasiewelt auf.
Schon in der Pubertät hatte er den Wunsch, Psychologie, Philosophie und Theologie zu studieren. Aber er entschied sich dann doch für ein Medizinstudium, das er in Glasgow absolvierte. Bald konzentrierte sich sein Interesse auf die Psychiatrie, weil er das Gefühl hatte, dort den eigentlichen Problemen des Menschen zu begegnen: Laing wurde hauptberuflich zum Psychiater.
Von 1951 bis 1953 war er Armeepsychiater, darauf Anstaltsarzt in einer staatlichen Nervenklinik in Glasgow. Seit 1956 war er Ausbildungskandidat am Britischen Institut für Psychoanalyse in London. Als Lehranalytiker fungierten bei ihm Charles Rycroft und D. W. Winnicott, also prominente psychoanalytische Autoren. Aber Laing scheint bereits früh Vorbehalte gegen das Freudsche Gedankensystem gehabt zu haben; er las unter anderem Sartre, und der Existentialismus und die Psychoanalyse lassen sich nicht leicht auf einen Nenner bringen.
Weitere Anregungen empfing Laing an der Tavistock-Klinik in London. Dort befaßte er sich mit Familienforschung, aber auch mit dem Schizophrenieproblem.
Er publizierte 1960/61 die beiden Bücher Das geteilte Selbst und Das Selbst und die Anderen; beide Texte bilden zusammen eine Einheit. Sie enthalten im wesentlichen Laings Schizophrenietheorie, eine Deskription der menschlichen Phantasie und eine phänomenologische Analyse des menschlichen In-der-Welt-Seins. Diese beiden Bücher sind der Grundstein, über dem sich Laings übriges Schrifttum erhebt.
Er war in den folgenden Jahren literarisch sehr produktiv. Mit seinen Kollegen A. Esterson publizierte er 1964 den Band Wahnsinn und Familie. Mit David Cooper veröffentlichte er den Essayband Vernunft und Gewalt. Drei Kommentare zu Sartres Philosophie 1950-1960 (1964), worin u. a. Sartres zweites Hauptwerk Kritik der dialektischen Vernunft eingehend gewürdigt wird. Kein Zweifel, Laing ist ein genauer Kenner des Sartreschen Denkens, was der französische Philosoph in seiner Einleitung zum genannten Text ausdrücklich bestätigt.
Um seine psychiatrischen Thesen zu verifizieren, gründete Laing mit einigen Kollegen die sogenannte „Philadelphia Association”, die in London einige Wohngemeinschaften schuf, in denen Ärzte und Schizophrene zusammenwohnten.
1967 publizierte Laing sein Büchlein Phänomenologie der Erfahrung, worin er wiederum den Gesichtspunkt einer personalistischen Psychiatrie leidenschaftlich vertritt. Er betont im Anschluß an Martin Buber den ungeheuren Unterschied zwischen einer Ich-Du- und Ich-Es-Beziehung; man kann und darf Personen nicht wie Dinge behandeln, und gerade das ist das Erbübel der offiziellen Psychiatrie und Psychoanalyse.
1970 reiste Laing in den Fernen Osten, um sich dort mit Meditation, Zen-Buddhismus und Yoga zu befassen. Er hatte offenbar eine Vorliebe für das mystische Denken, vielleicht sogar für den Okkultismus.
Seit 1972 hatte er eine psychotherapeutische Praxis in London. Aber so manche Reisen führten ihn in die USA, wo er Vorträge hielt und Seminare veranstaltete. Seine Bücher wurden und werden viel beachtet und in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Aber Laing ist nicht nur der Verfasser von wissenschaftlichen Texten, sondern auch Autor von quasi dichterischen Mitteilungen, die stenogrammartig Lebensprobleme mehr andeuten als erklären. In diesem Zusammenhang sind etwa Veröffentlichungen wie Knoten (1970), Die Tatsachen des Lebens (1976) und Liebst du mich? (1976) sowie auch Gespräche mit meinen Kindern (1987) zu nennen.
Laing stand nicht allein, sondern war umgeben von einem Team aus „Anti-Psychiatern”, unter denen etwa D. Cooper, A. Esterson, H. Philipson und A. R. Lee bekannt geworden sind. Aber er selbst war der unermüdlichste Vorkämpfer in dieser Gruppe; kürzlich hatte er noch die beiden Bücher Weisheit, Wahnsinn, Torheit – Werdegang eines Psychiaters (1985) und Die Stimme der Erfahrung (1982) publiziert.
Ronald Laing starb am 24. August 1989 in Saint-Tropez.


Das geteilte Selbst

Laing eröffnet seinen Angriff auf die Kraepelin-Bleulersche Tradition in der Psychiatrie mit diesem Buch, das er eine „Studie über schizoide und schizophrene Personen” nennt. Unter dem Begriff „Schizophrenie” versteht man eine Geisteskrankheit, die ca. ein Prozent der Bevölkerung befällt; in den psychiatrischen Kliniken stellen solche Patienten meistens die Mehrheit dar. „Schizoid” heißt eine milde Vorstufe dieser schweren Erkrankung, die aber noch durchaus zum Bereich des „Normalen” gezählt wird. Schizoide Menschen sind gehemmt, distanziert, gefühlskarg, eigenwillig, sonderlingshaft, steif usw.
Die Psychiatrie sah zunächst im schizophrenen Kranksein einen rein organischen Prozeß. Emil Kraepelin sprach um die Jahrhundertwende von „Dementia praecox” und visierte damit eine „vorzeitige Verblödung” an, also einen verfrüht einsetzenden Altersprozeß des Gehirns, dessen Leistungsfähigkeit reduziert wird. Eugen Bleuler, der Züricher Psychiater, veröffentlichte 1911 ein umfangreiches Buch unter dem Titel Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien. Darin verweist er auf das uneinheitliche Bild dieser Krankheit; es ist eine Gruppe von Störungen, bei denen die Persönlichkeit des Kranken als gespalten anmutet. Dabei ist der Denkprozeß empfindlich gestört; es treten oft Wahnideen, merkwürdiger Sprachgebrauch usw. auf. Auch ist der Patient nicht selten räumlich und zeitlich desorientiert. Schon vor diesen beiden Forschern haben andere Psychiater als Unterformen des schizophrenen Krankheitskreises die Paranoia (Verfolgungswahn), die Hebephrenie (Irresein im Jugendalter) und die Katatonie (Spannungsirresein) beschrieben, ohne eine Erklärung für den Gesamtzustand zu finden.
Auch die Psychoanalyse bemächtigte sich dieses Themas. Freud, Jung u. a. haben interessante Gedanken hierzu geäußert. Dabei verlagerte sich der Schwerpunkt der Überlegungen vom Somatischen auf das Psychische; es entstand die Vermutung, daß Geisteskrankheiten unter Umständen ebenso sehr „erlebnisbedingt” sein könnten wie die Neurosen. In diesem Falle wäre die Psychose nichts anderes als eine massivere Neurose. Und dennoch gibt es einen qualitativen Unterschied: Der Neurotiker hat immer noch ein teilweise intaktes Ich und kann sich in seiner Umwelt behaupten. Beim Psychotiker scheint dies oft nicht mehr so zu sein. Sein Ich geht offenbar in gewaltigen Ängsten und Erschütterungen der Persönlichkeit unter; es bleibt ein Rest-Ich, das allerdings in den Zwischenphasen der meistens chronischen Krankheit wieder mehr oder minder intakt wird.
Aber das „somatische Vorurteil” der Psychiater ist trotz der faszinierenden Untersuchungen der Psychoanalytiker beibehalten worden: Sie suchen heute noch nach genetischen Zusammenhängen (Erbsubstanz), nach Stoffwechselanomalien und nach organismuseigenen Toxinen (Giften), die sie als „Krankheitsursache” festmachen wollen. Sie haben aber bis zum heutigen Tag nichts Überzeugendes gefunden. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, daß die „psychogene Erklärung” der Psychosen den richtigen Weg der Forschung darstellt. Es mag irgendwelches „somatisches Entgegenkommen” beim Entstehen der Schizophrenie geben; aber die Hauptereignisse spielen sich vermutlich bei der Sozialisierung im frühesten Kindesalter ab und bei der späteren Werdensgeschichte der Persönlichkeit. Die Psychiater bestreiten das, weil sie von der „Uneinfühlbarkeit des schizophrenen Krankheitsgeschehens” reden; aber Laing und andere sind der Meinung, daß die Ursache des Nicht-Verstehen-Könnens eher beim Psychiater als bei seinem Patienten liegt.
Ein schizophrener Mensch verängstigt sein Gegenüber, weil er durch seinen Wahn aus den Grenzen der menschlichen „Normalwelt” herausgetreten ist. Nach Laing haben nun die Psychiater ein Vokabular, eine Behandlungs- und Diagnosetechnik entwickelt, die diese Angst niederhalten und in Überlegenheit verwandeln soll. Das ganze psychiatrische Vorgehen gegenüber dem Wahnkranken ist eine Technik der „Diskriminierung”, ja sogar oft der Verunglimpfung und Beleidigung. Jedenfalls soll dem Kranken das „Recht auf Personalität” verweigert werden. Man sieht ihn als Maschine, als gestörten Organismus, als defekte Psyche, nicht aber als „Person” an. Diese geheime Entwertungstendenz hat nach Laing – die Kooperation von Psychiatern und Psychotikern seit jeher verunmöglicht. Die Folge davon ist die angebliche „Unheilbarkeit der Schizophrenie”, die eher ein Versagen der Psychiatrie als eine Eigenschaft dieses Krankseins ist. Denn der Schizophrene ist ein zutiefst Beziehungsgestörter, und wenn ihm der Arzt keine echte menschliche Beziehung anbietet, dann kann er nicht gesunden.
Auch die psychoanalytische Theorie, die große Fortschritte im Verstehen und Behandeln der Psychose mit sich brachte, leidet nach Laing an erheblichen Mängeln; sie „verdinglicht” ihre Befunde am Kranken, verweigert ihm die Personalität und schafft lebensfremde Konstrukte, die sich störend zwischen den Therapeuten und den Patienten stellen. Es fehlt uns noch eine personalistische Lehre vom Gemütskranken, auf der sich eine zielsichere Therapie gründen kann. Eine solche wird davon ausgehen, daß Schizophrene „Menschen wie wir selbst” sind; und nur aus dieser Solidarität kann „Verstehen” in Gang gebracht werden – alles andere ist „Reden über eine Sache”, die man prinzipiell verfehlt hat.
Verstehen einer Psychose bedeutet: Das In-der-Welt-Sein des Patienten so nachzuempfinden, wie er es fühlt und selbst interpretiert. Zu diesem Zwecke muß man mit unsäglicher Offenheit dem Kranken gegenübertreten; man muß seine verschlüsselten Botschaften hören und sie nicht voreilig als „Unsinn” abtun. Dabei wird man erkennen, daß das allfällige Gedankenchaos beim Schizophrenen sehr wohl geordnet werden kann – wie man ja auch bei Träumen, bei „freien Assoziationen” usw. durch geduldige Einfühlung oft einen Sinn ermitteln kann, der auf den ersten Blick nicht zu sehen war.
So kann etwa ein Schizophrener sagen, „er sei aus Glas”; logisch ist das abwegig, aber als Symbolsprache kann es bedeuten, daß er Angst davor hat, durchschaut zu werden und daß er sich als „zerbrechlich” empfindet. Wenn wir ihm dieses Verständnis seiner Worte vermitteln, dann befreien wir ihn aus seiner sprachlichen und emotionalen Vereinsamung und tragen zu seiner Genesung bei.
Laing äußert in seinem Buch über den Schizophrenen und das notwendige Vorgehen ihm gegenüber (1960, dt. 1972, S. 46):

Der Schizophrene ist ein Mensch ohne Hoffnung. Ich habe niemals einen Schizophrenen gekannt, der sagen konnte, daß er geliebt wurde, als ein Mensch, von Gott dem Vater oder von der Mutter Gottes oder von einem anderen Menschen. Er ist entweder Gott oder der Teufel oder in der Hölle gottentfremdet. Wenn jemand sagt, er sei ein unwirklicher Mensch oder er sei tot, mit aller Wahrhaftigkeit in radikaler Form die nackte Wahrheit seiner Existenz, wie er sie erfährt, ausdrückend, ist das – Verrücktheit. Was wird von uns gefordert? Ihn zu verstehen? Der innerste Kern der Erfahrung des Schizophrenen von sich selbst muß für uns unbegreiflich bleiben. Solange wir gesund sind und er verrückt ist, wird das so bleiben. Aber Verständnis als ein Bemühen, ihn zu erreichen und zu fassen, während wir in unserer eigenen Welt bleiben und ihn mit unseren eigenen Kategorien beurteilen, wodurch er unvermeidlich zu kurz kommt, das ist es nicht, was der Schizophrene wünscht oder nötig hat. Wir müssen die ganze Zeit seine Eigenheit und Verschiedenartigkeit, sein Getrenntsein, seine Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit erkennen.


Einer der Hauptbefunde am Schizophrenen ist nach Laing seine ontologische Unsicherheit”. Seit jeher ist an schizoiden und schizophrenen Menschen die Schüchternheit und Gehemmtheit aufgefallen; man sprach von unsicheren Menschen”. Wenn Laing noch das Adjektiv ontologisch” beifügt, dann will er akzentuieren, daß die Unsicherheit solcher Patienten nicht nur ihr Inneres” betrifft, sondern auch ihr Sein in der Welt”. Sie haben kein sicheres Realitätsbewußtsein, kein Gefühl für die Verläßlichkeit von Dingen und Menschen. Ihre Welt als Ganzes ist wacklig, und daraus resultiert ihre übertriebene Vorsicht, Umständlichkeit und Abstandhaltung”.
Schon Alfred Adler und Fritz Künkel sprachen davon, daß die Erziehung in der Frühkindheit dem Kinde ein Urvertrauen” einpflanzen muß. Wird derlei versäumt, dann wächst ein Mensch heran, in dem die Mitmenschlichkeit” nur verkümmert zum Tragen kommt. Er fühlt einen weiten Abstand zwischen sich selbst und den anderen. Darum entwickeln sich unter Umständen auch sein Sprachverhalten, sein Benehmen, seine Denkweise und sein Selbstverhältnis nur unter Beeinträchtigungen; die Welt wird für derartige Individualitäten irgendwie irreal”. Sie haben eine niedrige Sicherheitsschwelle” , weil sie immer um ihr Ich bangen müssen. Viele Ereignisse, die für Durchschnittsmenschen” völlig harmlos sind, können für sie umwerfend und vernichtend” sein. Darum neigen sie zur Isolation und Kontaktscheu; sie erleben ihre Umwelt meistens als. sehr bedrohlich.
Laing erwähnt drei große Gefahrenquellen, vor denen sich der Schizoide” andauernd schützen zu müssen glaubt: 1. Das Verschlungenwerden; 2. Die Implosion; 3. Die Petrifikation und Depersonalisation.
Ad 1: Edmund Husserl sagte bei Gelegenheit: Die Dinge stehen nebeneinander im Raum, aber die Seelen der Menschen liegen ineinander.” Damit wollte der Philosoph darauf hinweisen, daß es keine Trennwände” in der menschlichen Interaktion gibt. Wenn zwei Menschen in einer engen Beziehung stehen, dann strömen die Gefühle des einen unweigerlich ins Gemüt des anderen; es entsteht eine Zwei-Einheit, eine Dualunion. Das kann zum Beispiel in einer schönen Liebesbeziehung beseligend sein; aber es enthält auch eine Gefahr, für die vor allem schizoide und schizophrene Menschen äußerst sensibel sind.
Um dieser Gefährdung zu entrinnen, wollen solche Charaktere unter Umständen weder geliebt noch verstanden werden. Denn schon das Verstehen bringt eine wechselseitige Annäherung zustande, die sie nicht zu ertragen vermögen. Das erklärt eventuell die Unverständlichkeit vieler schizophrener Sprachmodalitäten; manche Patienten entwickeln sogar eine regelrechte “Kunstsprache”, die niemand begreift. Nach Laing verursacht diese Konstellation auch die bekannte “negative therapeutische Reaktion” in psychoanalytischen Behandlungen. Freud führte diese unberechtigterweise auf einen (metaphysischen) Todestrieb zurück, als ob schwerkranke Analysanden aus Todeswünschen heraus nicht zur Heilung zu bringen seien. Aber in Wirklichkeit ist es vielleicht nur die Angst vor dem Leben und der Liebe, die die negative therapeutische Reaktion” hervorbringt.
Schizoide Menschen lieben das Alleinsein mehr als den Sozialkontakt, eben weil sie nicht verschlungen werden wollen. In ihrer Therapie muß man stets sehr schonend und langsam vorgehen, um sie nicht in ihren Schlupfwinkel zurückzujagen. Sie träumen oft auch von Untergang, Zerstörung, Festgehaltenwerden, Versinken in Morästen und Feuersbrünsten.
Ad 2: Implosion ist das Gegenteil von Explosion – es besagt das Hineinstürzen” der Welt in das Ich, das sich unfähig fühlt, den Andrang der Menschen und Ereignisse von sich fernzuhalten. Hierüber schreibt Laing (S. 55):

Das ist das stärkste Wort, das ich für die extreme Form dessen, was Winnicott das „Eindringen” der Realität nannte, finden kann. Eindringen vermittelt allerdings nicht den ganzen Schrecken, die Welt als etwas zu erfahren, das jeden Moment einstürzen kann und jede Identität vernichtet wie Gas, das in ein Vakuum einströmt. Das Individuum fühlt, daß es leer ist wie das Vakuum. Aber diese Leere ist es selbst. Obwohl es andererseits ersehnt, daß diese Leere gefüllt werde, fürchtet es die Möglichkeit, daß dies passieren könnte, weil es zu fühlen begonnen hat, daß alles, was es je sein kann, dieses fürchterliche Nichts eben dieses Vakuums ist. Jeder „Kontakt” mit Realität an sich wird dann erfahren als eine furchtbare Drohung, weil Realität, wie sie von dieser Position aus erfahren wird, notwendigerweise implosiv ist und so, wie es das Bezogensein für das Verschlungenwerden ist, in sich selbst eine Bedrohung der Identität ist, die das Individuum fähig ist, als die seine zu akzeptieren.
Realität als solche, Verschlungenwerden oder Implosion androhend, ist der Verfolger.

Ad 3: Petrifikation oder Versteinerung ist ein Zustand, der bei übergroßen Schreckerlebllissen eintritt. Sie kann aber auch durch langsame Prozesse zustande kommen, in denen kontinuierliche Ängste und Frustrationen die entscheidende Rolle spielen. Die Petrifikation ist gewissermaßen eine (pathologische) Schutzvorkehrung gegen die gefürchtete Implosion. Des weiteren ist sie die Konsequenz einer langwierigen emotionalen Abschirmung; nur das Miteinandersein der Menschen (ihr Austausch, ihre Auseinandersetzung) erhält lebendig. Auch die Depersonalisation kann von außen wie auch von innen bewirkt werden. Man verliert die Personalität, wenn andere uns „wie ein Ding” behandeln; man kann sich aber auch selbst „depersonalisieren”, indem man sich verhärtet, absolut setzt und das „Mitmenschsein aufgibt”. Es besteht hier eine Dialektik zwischen Fremdwirkung und Selbstgestaltung.


Theorie des pathologischen Selbst

Wenn der Mensch seelisch intakt ist, dann fühlt er sich in der Welt, in sich selbst und in seinem Leib sicher. Ist er aber seelisch angekränkelt, dann werden wir erwarten dürfen, daß er in allen drei genannten „Instanzen” nicht zu Hause ist. Es fragt sich nun, wie er bei gestörtem Welt-, Selbst- und Leibverhältnis weiterleben soll.
Zunächst wird die Einheit dieser Trias aufgegeben. Der verängstigte Mensch zieht sich auf das Geistige” zurück; er gibt Teile der Welt auf und löst sich – so weit er das kann – von seinem Körper ab. Er betrachtet diesen letzteren als Störfaktor – ein Erdenrest, zu tragen peinlich”. Am liebsten würde er unverkörpert existieren. Das zieht eine ganze Reihe von weiteren Symptomen nach sich, etwa Eßstörungen, Verdauungsanomalien, Sexualkomplikationen, Abneigung gegen gewisse Körpereigenschaften, das Gefühl, häßlich zu sein usw. Auch die Pflege und Förderung des Leiblichen wird reduziert. Unter Umständen stellt sich eine psychosomatische Erkrankung ein, weil nur der “akzeptierte Leib” (von direkten Fremdwirkungen abgesehen) sich gesund erhalten kann.
Das Fremdwort für das Im-Leibe-wohnen” heißt Inkarnation”.
Nach Laing sind viele Menschen nur teilweise inkarniert, und in Streßsituationen oder im Unglück geben sie die Inkarnation auf, weil sie im geistigen Bei-sich-selbst-Sein” eine Zuflucht zu finden meinen. Das erklärt wohl den Körperhaß in fast allen Religionen und die Askese und Selbsttorturierung bei Heiligen und Frömmlern. Es müssen sehr unsichere und neurotische Charaktere gewesen sein, die ihre Liebe zu Gott durch Hungern, Selbstentmannung und tausenderlei Körperquälereien bezeugt haben.
Da die Sexualität eine der eindrücklichsten Inkarnationsformen des
Selbst darstellt, müssen wir annehmen, daß sie bei psychischen Erkrankungen fast immer mitgestört” ist. Im Lichte dieser These bekommt der Freudsche Pansexualismus” doch eine gewisse Rechtfertigung. Indem Freud die Sexualität fast zum Mittelpunkt des Seelenlebens machte, anerkannte er sozusagen die fundamentale Tatsache, daß sich Gesund- und Kranksein der Psyche unweigerlich auch im Sexualverhalten dokumentiert.
Man muß jedoch nicht glauben, daß jedes verkörperte Selbst” auch per se schon den Gesundheitsausweis in der Tasche” trägt. Aber das unverkörperte Selbst ist für die Pathologie besonders anfällig. Es hat nach Laing drei Hauptaspekte (S. 84):
Es wird hyperbewußt;
Es versucht, sich seine eigene Imago zu postulieren, das heißt, es identifiziert sich mit der (irrealen) Vorstellung, die es sich von sich selbst macht;
Es entwickelt eine sehr komplexe Beziehung zu sich selbst und zu seinem Körper.
Es ist das Machtbedürfnis des Schwachen, welches die Inkarnation des Selbst zu vermeiden sucht. Aber manchmal ist die Abwehrbewegung” fast noch schlimmer als das, was abgewehrt wird; nach Laing destruiert sich das Selbst immer, wenn es die Beziehung zu Welt und Leib erheblich vermindert. So sagt er (S. 94):

Wir schlagen darum vor, daß der schizoide Zustand, den wir beschreiben, als ein Versuch verstanden werden kann, ein Sein zu erhalten, das unsicher strukturiert ist. Wir werden später vorschlagen, daß die erste Strukturierung des Seins in seine Grundelemente in der frühen Kindheit stattfindet. Unter normalen Verhältnissen werden diese Grundelemente (zum Beispiel Kontinuität in der Zeit, Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-Selbst, Phantasie und Realität) so definitiv stabil angelegt, daß man darum als gegeben annehmen kann: Auf dieser stabilen Grundlage kann in dem, was wir den “Charakter” einer Person nennen, eine beträchtliche Menge an Plastizität existieren. In der schizoiden Charakterstruktur dagegen finden wir eine unsichere Grundlegung und eine kompensatorische Rigidität im Überbau.
Wenn das ganze Sein des Individuums nicht verteidigt werden kann, verlegt das Individuum seine Verteidigungslinie so lange zurück, bis es sich in eine zentrale Zitadelle zurückzieht. Es ist darauf vorbereitet, alles abzuschreiben, was es ist, nur nicht sein 
Selbst”. Aber das tragische Paradoxon besteht darin, daß das Selbst, je mehr es auf diese Art verteidigt wird, desto mehr zerstört wird. Die sichtbar erfolgende Zerstörung und Auflösung des Selbst in schizophrene Konditionen erfolgt nicht durch extern ale Angriffe des Feindes (tatsächlich oder vermutet) von außen, sondern durch die Verwüstung, die durch die inneren defensiven Manöver selbst verursacht wurde.

Ist das Selbst aus seinem Leib „in sich selbst” zurückgeflüchtet, dann erlebt es oft die Umwelt wie einen Traum, einen Alptraum, etwas Unwirkliches und Unbegreifliches. Meistens fangen Psychosen mit solchen „Derealisationserfahrungen” an; aber auch im Normalleben gibt es Derartiges, wenn wir uns extrem unsicher und verloren vorkommen. Man opfert lieber den Leib und die Welt, als den Rest von Sicherheitsgefühl aufzugeben.
Aber die Sehnsucht nach der Wirklichkeit bleibt, und an sie kann jeder Heilungsversuch bei schweren Neurosen und Psychosen anknüpfen. Niemand kann sich ohne weiteres mit dem Zustand der „Einkapselung” (Sartre) oder der „Verschlossenheit” (Kierkegaard) abfinden. Der Mensch will transzendieren, das heißt sein In-der-Welt-Sein verteidigen und ausweiten. Nur in der äußersten Not bezieht er die einsame Zitadelle seines abgeschirmten Selbst, wo er das Unmögliche versuchen will, nämlich: autonom und autark zu leben. Aber, wie ein englischer Autor sagte: „Kein Mensch ist eine Insel für sich allein.”
Der Aufbau eines falschen (körperlosen), phantastischen Selbst verändert grundlegend die gesamte Wirklichkeitserfahrung: diese wird auch phantastisch und irreal. Der davon betroffene Mensch hat andere Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und Phantasien als ein Mensch, der in der Inkarnation lebt. Alles, was er tut oder sagt oder sich vorstellt, hat einen geringeren Wirklichkeitskoeffizienten als beim „Normalen”. Er zappelt in seinen Fiktionen, die ihm die Realität ersetzen.
Weltlosigkeit, Autismus und Narzißmus sind fast identische Begriffe. Sie alle stellen Hypertrophien des Verteidigungszustandes im Selbst dar, erzwungen aus ontologischer Unsicherheit und einem daraus resultierenden zugespitzten Sicherheitsbedürfnis. Aber es ist schwer erträglich, überwiegend in der Phantasie zu leben und die „Welt der Handlungen” zu vermeiden. Denn nur in dieser kommt es zu Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit; ein phantastisches Selbst stagniert oder regrediert auf noch kümmerlichere Zustände.
Man kann hier aber auch von einer „Pathologie der Freiheit” sprechen. Wer handelt, wird unfrei – er schreibt seine Individualität in den Gang der Dinge ein, und jede Entscheidung für irgend eine Möglichkeit reduziert die anderen Möglichkeiten des Verhaltens. Wer aber phantasierend in seinem Selbst verharrt, kann sich der Illusion hingeben, daß ihm „alle Möglichkeiten offen stehen”. So optiert der seelisch kranke Mensch für Omnipotenzgefühle, die ihm vorgespiegelt werden, weil er sich nicht festlegt; die Kehrseite dieser grenzenlosen Freiheit ist allerdings das konkrete Unfrei- und Hilflossein im Leben.
Das „Leben als Traum” ist zugleich prunkvoller und auch karger als die reale Existenz: der fade Geschmack der Unwirklichkeit haftet ihm an.
Laing entfaltet ein bemerkenswertes Geschick im Beschreiben der Tragödien schizoiden und schizophrenen Menschseins. Er reiht sich dabei ein in die Tradition der phänomenologischen Psychiatrie, stützt sich also auf Ludwig Binswanger (Drei Formen mißglückten Daseins, 1952), J.-P. Sartre (Das Sein und das Nichts, 1952), Medard Boss u. a. m. Alle diese Forscher betonten die Unechtheit und fehlende Authentizität beim schizoiden Menschentypus, der in seinem verängstigten Lebensentwurf die Auseinandersetzung mit dem realen Leben vermeidet. So spielt er eine „Rolle”, zu der er nicht stehen kann. Rein äußerlich vielleicht wohlangepaßt, wächst im Laufe der Zeit bei ihm immer mehr die „Phantomexistenz” an, bis ein eventuell harmloser Vorfall den Riß in der Persönlichkeit offenbart. Die Psychiater sprechen dann von völliger Unbegreiflichkeit des „schizophrenen Einbruchs”, aber ein Studium der „inneren Lebensgeschichte” macht doch verständlich, wie es „urplötzlich” zur Wahnbildung kam. In diesem Sinne ist der Wahn das verspätete Echtwerden, aber auf Kosten der psychischen Gesundheit.
Im Vorfeld der schizophrenen Erkrankung finden wir übersteigerte Selbst-Bewußtheit, ein Übermaß an Selbstbeobachtung und Reflexion über sich selbst. Das ist verständlich, da der Betreffende wenig Weltbezug hat: sein Selbst ist sozusagen seine Welt. Fast alle Autoren betonen die Überempfindlichkeit solcher Menschen, ihre Bereitschaft, emotionale Brücken zur Umwelt abzubrechen. Leicht ist auch der Haß mobilisierbar, der eine Antwort auf die fundamentale Angst darstellt. Liebe wird nach Möglichkeit gemieden, da sie Nähe und Einanderverstehen mit sich bringt. Manche Schizoide fürchten nicht nur, was andere ihnen antun können, sondern auch, daß sie selbst für andere schädlich sein könnten. Dem Fremdhaß ist stets ein latenter Selbsthaß zugeordnet.
Auch Schuldgefühle machen sich im schizoiden Seelenleben deutlich bemerkbar. Es ist nach Laing falsch, solche Schulderfahrung auf verinnerlichte Aggression oder auf onanistische Exzesse zurückzuführen, wie es die Psychoanalytiker zu tun pflegen. Eher trifft schon die Interpretation der Daseinsanalyse zu, welche von der „originären Daseinsschuld” spricht. Danach hat jeder Mensch die Aufgabe, sich für die Bedeutungsfülle der Welt zu öffnen und Sympathie für alles Seiende zu empfinden. Wer aber in innerer Verschlossenheit dahinlebt, fühlt dunkel, daß er der Welt und den Menschen „vieles schuldig bleibt”; dementsprechend haben die Schuldgefühle der Schizoiden und der Depressiven ihren wohlumschriebenen Sinn, aber der Patient sucht seine Schuld bei Bagatellen, die nichts ins Gewicht fallen. Man muß seine Pseudoschuld entlarven und ihn dazu ermutigen, die echte Schuld seines Lebens ins Auge zu fassen.
Wir sehen hieraus, daß seelische Gesundheit identisch ist mit dem, was die Psychoanalyse „Realitätsprinzip” nennt. Nur in der Wirklichkeit kann man seelisch gesund sein und bleiben. Jeder Rückzug aus der Welt wird mit Erstarrung, Einengung und Verarmung bezahlt. Mitunter liegt in der Konsequenz einer solchen Daseinsschrumpfung der Verlust der Zuwendungsmöglichkeit zum anderen Geschlecht. Der schizoide Menschentyp fürchtet das heterosexuelle Du, da dieses anders ist als er selbst. Manchmal eröffnet sich hier der Fluchtweg in die Homosexualität; der Patient glaubt, bei einem gleichgeschlechtlichen Partner weniger Schwierigkeiten zu haben als beim andersgeschlechtlichen. Freud war bekanntlich der Meinung, daß am Ursprung der Paranoia eine homosexuelle Gefühlslage beteiligt sei; das ist nach Laing dahingehend zu korrigieren, daß nicht die Homosexualität die Ursache der Paranoia ist, sondern daß der Wahn und die Sexualpathologie gemeinsam aus der verengten und verarmten Erlebniswelt entspringen.
Man kann den Ausbruch eines Wahns auch als einen Selbstheilungsversuch deuten, da der Patient seine konstante Panik stabilisiert, indem er seine verzweifelten Bemühungen um ein unauffälliges und angepaßtes Leben aufgibt. Das ist kein Naturgeschehen außerhalb der Person (etwa ein gestörter Metabolismus oder eine Dysfunktion der Gehirnzellen), sondern eine Entscheidung der Person, die einen Ausweg aus der Ausweglosigkeit sucht. Nicht selten kommt es zu spontanen Remissionen, wenn der Schizophrene sich einige Zeit ausgeruht hat und aus irgendeinem Grunde den Entschluß wagt, wieder die Rolle eines „gesunden Menschen” zu übernehmen. Aber es besteht auch die Möglichkeit, daß er den Rückweg in die Normalität nicht wiederfindet, und dann bedeutet sein Kranksein einen symbolischen Selbstmord, der dem Leben der Person ein Ende setzt.
Laing hatte selbst viel Erfahrung mit schizophrenen Patienten und weiß davon zu berichten, wie schwer der Schutzwall zu durchbrechen ist, mit dem sich solche Menschen von der Umgebung abschirmen.
Schon durch ihre Kommunikationsweise machen sie es dem Therapeuten schwer, an sie heranzukommen. Sie entmutigen ihn auf jede Weise, weil sie spüren, daß er sie zu einem Leben in der Realität verleiten will – und davor haben sie schreckliche Angst. Nur sehr viel Liebe und Wissen können das selbstgebaute Gefängnis der Schizophrenen zerstören, sie aus ihrem Alptraum aufwecken und den Riß in ihrer Persönlichkeit heilen. Laing sagt mit Recht (S. 203):

Der Hauptfaktor bei der Reintegration des Patienten, der erlaubt, die Stücke zusammenzubringen und zusammenzuhalten, ist die Liebe des Arztes, eine Liebe, die das totale Sein des Patienten anerkennt und es akzeptiert, ohne ihm Fesseln anzulegen.


Das Selbst und die anderen

In dieser Fortsetzung von Das geteilte Selbst untersucht Laing die Interaktion von Menschen, die gegebenenfalls zu psychischen Störungen und zu Psychosen führt. Die Grundlage solcher Interaktionen ist das „Verstehen” zwischen Ich und Du; aber dieses ist immer lückenhaft. Jeder Mensch kann nur mutmaßen, was der andere denkt und meint. Schlimm wird die Sache allerdings, wenn A genügend Autorität besitzt, um B zuzuschreiben, was er bewußt oder unbewußt empfindet. Hier tut sich ein Tor zu allen möglichen seelischen Vergewaltigungen auf.
Selbst die Wissenschaft übt solche Vergewaltigungstechniken aus, indem sie Menschen wie Tiere behavioristisch in Testsituationen bringt, wo sie sie „motivanalytisch” beurteilt. Dabei bekommen Personen „Triebe” und „Antriebe” zugewiesen, von denen sie manipuliert werden, als ob sie Maschinen oder Roboter wären. Auch die Psychoanalytiker berufen sich auf einen „psychischen Apparat” , dem man das Personsein ausgetrieben hat.
Wenn es nach Laing ein „Unbewußtes” gibt, dann ist das ganz schlicht jener Seelenanteil, den wir weder uns selbst noch den anderen mitteilen. Das ist demnach kein „Sack mit perversen Trieben”, sondern ein Teil der Person, der nicht kommunizierbar ist. Man kann ihn allerdings in Mitteilsamkeit verwandeln.
Wir verwenden einen schiefen Realitätsbegriff, um viele Menschen als „verrückt” zu etikettieren. Nach Laing weiß niemand so recht, was nun eigentlich die Wirklichkeit ist. Familien, Gruppen und Völker einigen sich auf ein phantastisches Gebilde, das sie „Realität” zu nennen belieben. Wehe dem, der nicht mitspielt; es kann ihn Kopf, Kragen und Vernunft kosten!
Wir sind alle in sozialen Netzen gefangen, und Psychotiker sind jene, die aus übergroßer Verstrickung mit unbeholfenen Mitteln ausbrechen wollen. Die Menschen erdichten eine Welt, die sie für kompakt und nicht-hinterfragbar halten. Wer die Kraft hat, jenseits dieser angeblichen Normalwelt eine passende Eigenwelt zu schaffen, ist ein Künstler. Wer an diesem Versuch scheitert, ist ein „Gemütskranker”, der interniert werden muß.
Sieht man aber näher zu, dann entdeckt man nach Laing, daß sehr viele Menschen sich mit der üblichen Realität nicht ganz befreunden können und – zumindest teilweise – ein Leben in der Phantasie führen. Wir haben dann einen Fuß im Realen, und den zweiten im Imaginären. Wer Glück hat, kann je nach Situation mal auf dem einen, mal auf dem anderen Beine stehen. Es können sich aber auch Lebenslagen häufen, in denen es vorteilhafter erscheint, auf dem Standbein des Imaginären stehenzubleiben. In solchen Situationen können zukünftige Psychiatriepatienten den lebhaften Wunsch verspüren, „verrückt zu werden”. Manche schaffen es, anderen will es einfach nicht gelingen. In Laings Worten: „Nicht jeder, der will, kann psychotisch sein.” (1961, dt. 1973, S.53).
Vor allem die Sexualität ist ein Freiraum für „alternative Lebensstile”, in denen Phantasie und Realität oft genug „ausgetauscht” werden. So kann man etwa bei einem zwanghaften Onanisten vermuten, daß ihm die phantasierten Sexpartner mehr Genuß bringen als ein leibhaftiges Gegenüber. Jedenfalls ist er souveräner und sicherer, wenn er beim „Lustgeschäft” für sich allein bleibt. In allen Perversionen wird das begleitende Phantasiespiel fast noch wichtiger als der sexuelle Akt, und diese Phantasien sind weder sozial noch kooperativ. Angst und Machtbedürfnis sind ihre Motoren, und deren Ursprung liegt in einem „geteilten Selbst”, das sich sowohl von der Mitwelt als auch vom eigenen Leib weitgehend zurückgezogen hat. Es bleibt dann ein etwas schwerfälliger, mechanisierter Leib, der nur durch sadistische oder masochistische „Extravaganzen” aus seiner „Schwermut” erlöst werden kann. Bei Sartre und Genet findet Laing gute Musterbeispiele für seine Sexual- und Perversionstheorie, die er neben seine Psychosenlehre als Parallelphänomen hinstellt.
Schon Sartre hat in Das Sein und das Nichts erörtert, daß die Beziehungen der Menschen untereinander „normalerweise” Kampf beinhalten. Jedes Bewußtsein will Herr über das andere Bewußtsein werden; die Thematik von „Herr und Knecht” ist die Grundform alles sozialen Bezogenseins. Aber das ist nicht Naturverfassung und schon gar nicht „ethisches Wunschziel”; es ist die traurige Gegebenheit in einer Welt, die durch den ökonomischen Mangel und die unentwickelte Gesellschaftsstruktur sich etabliert hat. Da es nun aber so ist, sollen wir die Psychopathologie als eine Theorie der Kooperations- und Kommunikationsverweigerung definieren. So können zum Beispiel Frigidität und Impotenz durchaus als ein „Lebensstil” beschrieben werden, in den es nicht hineinpaßt, einem heterosexuellen Du den Erfolg eines gelungenen Sexualverkehrs zu gönnen. Das „weiß” weder die frigide Frau noch der impotente Mann; aber sie „leben” es. Wissen und Lebensvollzug müssen nicht deckungsgleich sein.
Gerade am Koitus können wir erkennen, daß menschliche Personen mit Leib und Seele aufeinanderwirken; und jeder erlebt seine Bestätigung, wenn ihn der andere anerkennt. Aber darin sind die Menschen unerfahren und tolpatschig. Sie meinen, mehr an Prestige zu gewinnen, wenn sie dem Du die Anerkennung partiell verweigern.
In der Vorgeschichte jeder Psychose ist nach Laing ein gewaltiges Defizit an Angenommen- und Bestätigtwerden zu diagnostizieren. Das kann schon in der frühesten Kindheit, in der Mutter-Kind-Beziehung anfangen. Auch im späteren Leben kann man schizoide oder hypersensible Menschen „psychotisch” machen, wenn man sie hinsichtlich ihres fundamentalen Anerkennungswunsches frustriert.
Laing gibt hier ein aufschlußreiches Zitat aus Martin Bubers Werk Urdistanz und Beziehung (1960, S.31-32) wieder, das seine eigene Überzeugung ausspricht (S.103):

In der menschlichen Gesellschaft, auf allen ihren Stufen, bestätigen die Personen, in irgendeinem Maße, einander praktisch in ihrer persönlichen Beschaffenheit und Befähigung, und man darf eine Gesellschaft in dem Maße eine menschliche nennen, als ihre Mitglieder einander bestätigen.
Das Fundament des Mensch-mit-Mensch-seins ist dies Zwiefache und Eine: der Wunsch jedes Menschen, als das, was er ist, ja was er werden kann, von Menschen bestätigt zu werden, und die dem Menschen eingeborene Fähigkeit, seine Mitmenschen eben so zu bestätigen. Daß diese Fähigkeit so unermeßlich brachliegt, macht die eigentliche Schwäche und Fraglichkeit des Menschengeschlechts aus: aktuale Menschheit gibt es stets nur da, wo diese Fähigkeit sich entfaltet. Wie freilich anderseits der leere Anspruch auf Bestätigung ohne die Andacht zu Sein und Werden je und je die Wahrheit der Existenz zwischen Mensch und Mensch zuschanden macht.
Es ist den Menschen not und ist ihnen gewährt, in echten Begegnungen einander in ihrem individualen Sein zu bestätigen; aber darüber hinaus ist ihnen not und gewährt, die Wahrheit, die die Seele sich erringt, der verbrüderten andern anders aufleuchten und ebenso bestätigt werden zu sehn.

Aber Bestätigung und Nicht-Bestätigung in menschlichen Interaktionen sind noch sehr schlecht erforscht. Darum meinen wir oft, bei schizophrenen Lebensläufen vor Rätseln zu stehen, indes wir mit Menschen zu tun haben, die von Kindheit an verkannt, mißverstanden und negiert wurden. Das sind nicht immer grobe Traumatisierungen; auch langdauernde Mikrotraumen erzielen dasselbe Resultat. Eine besondere Variante des Nicht-Bestätigens besteht darin, daß bei einem Heranwachsenden immer „das falsche Selbst bestätigt wird”. So können etwa Eltern ein Kind immer dann loben und bewundern, wenn es sein eigenes Ich verleugnet und das „brave Kind” spielt, das die Erwachsenen haben wollen. Auch gibt es Ideologien, die „falsches Selbstsein” geradezu zum Ideal erheben (Religion, Patriotismus, Spießbürgertum usw.).
Für solche Erlebniswelten mag der Sartresche Satz gelten: „Die Hölle – das sind die anderen!” Wenn jemand in einer Umgebung lebt, wo niemand sich um sein wahres Selbst kümmert, kann ihm das sehr wohl als „höllisch” vorkommen.
Wo sich ein Ich und ein Du zusammenschließen, um wechselseitige Pflege und Anerkennung des „falschen Selbst” zu betreiben, spricht man von „Kollusion” oder „heimlichem Einverständnis”. Die Partnerschaftspsychologie und -therapie glaubt in vielen Ehen solche Kollusionsverhältnisse aufzudecken: Man kann auch auf genereller Unwahrhaftigkeit ein andauerndes Zusammenleben gründen.
In den Naturwissenschaften ist Wahrheit „die Übereinstimmung des Intellekts mit der Sache”. Für humane Verhältnisse (und also auch für die Psychotherapie) bevorzugt Laing die Heideggersche Formel: „Wahrheit ist Unverborgenheit (des Seins).” Seelische Gesundheit wird dann faßbar, wenn Menschen freimütig und offen kommunizieren. Wer sein Selbst zu zeigen wagt, hat Chancen, es zu entwickeln. Menschen, die sich vor anderen verstecken, sind möglicherweise krank oder können es noch werden. Schon C. G. Jung hat auf die pathogene Macht des „Geheimnissehabens” hingewiesen. Es ist interessant, daß im Wort „Selbstvertrauen” auch das sprachliche Partikel „Vertrauen” steckt; vielleicht sind beide Tugenden irgendwie verkoppelt.
In Das Selbst und die anderen bringt Laing Falldarstellungen und Beispiele aus der Weltliteratur – leider überzeugen die ersteren weniger als die letzteren. Sartre, Genet, Strindberg und Dostojewski sind hervorragende Kronzeugen für eine phänomenologische Psychiatrie; daran ist nicht zu zweifeln. So kann man in Strindbergs Theaterstück Der Vater deutlich nachvollziehen, wie das Selbstbewußtsein des Kapitäns von seiner Umwelt (der Frau) systematisch untergraben wird. Dostojewskis Schuld und Sühne zeigt einen zartfühlenden Menschen (Rodion Raskolnikoff), der einen Mord begeht, um sein „falsches Selbst” (er will Napoleon sein!) zu „verwirklichen”. Genet in Der Balkon beschreibt parodistisch, wie sich Sex- und Machtspiele ineinander verschränken, wobei der Ort der Handlung ganz sinngemäß „das Bordell” ist.
Wenn aber Laing selbst Fälle aus eigener oder fremder Erfahrung demonstriert, gibt er merkwürdig blasse Anamnesen und erarbeitet den inneren und äußeren Werdegang dieser mißglückten Daseinsformen nur relativ oberflächlich. Er schildert die Kranken bloß als „Opfer der Verhältnisse”; wie sie sich selbst durch einen pathologischen Lebensentwurf in die Krankheit hineinmanövrieren, wird kaum sichtbar. Wer an Sigmund Freuds voluminöse und hyperexakte Lebensbeschreibungen von Neurotikern zurückdenkt, wird Laings Berichte manchmal fast als laienhaft empfinden. Es genügt nicht, irgendwelche Double-bind-Verstrickungen (Beziehungsfallen) namhaft zu machen, um die Psychogenese eines Wahns zu erklären. Oft erwähnt Laing nicht einmal den Beruf, die politischen und religiösen Ansichten seiner Patienten. In seiner Beschränkung auf „Liebesschicksale” ist er der bekämpften Psychoanalyse mehr hörig geblieben als er selbst weiß.


Phänomenologie der Erfahrung

In diesem Büchlein aus dem Jahre 1967 will Laing der menschlichen Selbstentfremdung auf den Grund gehen; warum leben wir in einer Welt, wo Personalität verleugnet wird und wo anscheinend niemand mehr so recht weiß, was Person sein bedeutet? Das kommt einem Verlust wirklicher menschlicher Erfahrung gleich – würden wir noch urtümliche „Erfahrung” erleben, dann wüßten wir um unser eigenes Selbst und um das Selbst des anderen. Die Wiedereinsetzung solcher lebensspendender Ich-, Du- und Ich-Du-Beziehung ist eine der Aufgaben der „Sozialphänomenologie”.
Person ist Bezogensein auf andere Personen, die nicht „Objekte” sind und auch nicht sein können. Immer, wenn man eine Person „objektiviert”, hat man mit einem Artefakt zu tun, dem die wesentliche Eigenschaft der Personalität abgeht. Person ist das Zentrum von Akten, von Welt- und Selbsterfahrung. Wenn man „Verhalten” betrachtet, ohne es auf die Erfahrung der Persönlichkeit zu beziehen, dann hat man scheinbar mit Naturvorgängen zu schaffen, die zähl- und meßbar sind. Aber das ist nicht der wahre Mensch, den etwa die Verhaltenspsychologie exploriert; sie befaßt sich mit einer Karikatur dessen, was der Mensch ist und sein kann.
Alle „reduktiven Verfahren” unterschlagen in der Erforschung des Menschen die Phantasie, aufgrund derer jedermann in einer erträumten und erdichteten Welt lebt. Phantasie ist ein Vermögen der Freiheit, oder genauer: sie ist die Freiheit selbst. Mit jedem Kind wird eine freiheitliche Potenz geboren, aus der Selbstsein und Schöpfertum hervorgehen kann. Erziehung ist jedoch in der Regel ein Unternehmen, diese schöpferische Kraft zu drosseln und zu zerstören.
Da der Mensch in der Interpersonalität (Zwischenmenschlichkeit) existiert, können nur jene die Person des anderen fördern und respektieren, die selbst noch Person sind oder es werden wollen. Viel häufiger aber als wechselseitige Achtung und Unterstützung sind Techniken der „Entpersönlichung”, die Ich und Du betreffen. So beschreibt etwa die Psychoanalyse „Abwehrmechanismen”, die eine Einschränkung der eigenen Persönlichkeit bedeuten (Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion usw.); sie wirken sich aber allemal auch als Negierung der Fremdperson aus.
Alle Abwehrmechanismen verstümmeln die Erfahrung, verhindern die Begegnung von Ich und Du, reduzieren die Kommunikation auf Klischees und lassen die gemeinsame Welt der Beteiligten verarmen. Wer sein eigenes Ich als ausgelöscht empfindet, kann gar nicht anders, als auch das Du zu annihilieren.
Laing wandelt in den Spuren von Sartre, wenn er „das Nichts” als eine „anthropologische Konstante” einführt. Nach Sartre bringt der Mensch das Nichts in die Fülle des Seins ein; ohne ihn ist das Sein kompakt und kohärent. Kaum taucht aber ein menschliches Bewußtsein auf, wird das Sein in Frage gestellt, angezweifelt, durch Pläne und Entwürfe überschritten. Aus dem Nichts entspringt nicht nur die Daseinsangst, sondern auch die Schöpferkraft des Menschen. Es kommt nur darauf an, sich von dem Nichts und der Angst nicht lähmen zu lassen. Wem dies zustößt, der kann unter Umständen zum „Vernichter” werden, das heißt zu einem Prototyp, der aus. Verzweiflung an der Conditio humana die Selbstdestruktion wählt. Man muß nicht angesichts des Nicht-Seins zur Starrheit des Steines Zuflucht nehmen; man kann um das Nichts wissen und doch für das Sein optieren.
Auf diese philosophischen Erwägungen geht Laing ein, um unter anderem das Wesen der Psychopathologie und der Psychotherapie zu reflektieren. Weil wir heute von der Personalität des Menschen mehr wissen, neigen wir dazu, ihn (auch als „Kranken”) nicht mehr „behandeln” zu wollen, sondern mit ihm eine kooperative Beziehung einzugehen. Dazu müssen wir aber Theorien entwickeln, die das Personsein im Therapeuten und im Analysanden anerkennen. Wir müssen die Erfahrung des letzteren ebenso sehr als „gültig” begreifen wie diejenige des ersteren. Sobald nur die Erfahrungsweise des Psychoanalytikers die „Normalität” ausmacht, kommt es zu einem irrationalen Autoritätsverhältnis, in welchem beide Personen nicht gedeihen können.
Laing sagt (1967; dt. 1969, S.46):

Psychotherapie muß der obstinate Versuch zweier Menschen bleiben, die Ganzheit der Existenz durch ihre Relationen zueinander wiederherzustellen.
Jede Technik, die sich mit dem anderen ohne sein Selbst befaßt, mit Verhalten unter Ausschluß der Erfahrung, mit Beziehung unter Vernachlässigung der in Beziehung stehenden Personen, mit Individuen unter Ausschluß ihrer Beziehungen und vor allem mit zu ändernden Objekten statt mit zu akzeptierenden Personen – jede Technik dieser Art verewigt einfach die Krankheit, die sie zu kurieren vorgibt.

Jede Theorie, die nicht vom Menschen ausgeht, ist Lüge und Betrug an ihm.
Eine inhumane Theorie wird unvermeidlich zu inhumanen Konsequenzen führen, wenn der Therapeut konsequent ist. Glücklicherweise haben viele Therapeuten die Gabe der Inkonsequenz. Mag uns das auch teuer sein, ist es doch nicht als ideal anzusehen.

In den jetzigen Welt- und Kulturverhältnissen ist der Mensch ein „Zerrissener”; es gilt ihn in der Therapie durch gemeinsame Ich-Du-Erfahrung zusammenzufügen.
Mit außergewöhnlicher Schärfe attackiert Laing die Methoden unserer Pädagogik, Propaganda und Psychologie, die zur „Mystifikation von Erfahrung” und zur „Entpersönlichung von Personen” führt. Man verschleiert die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; man präsentiert uns atomare Aufrüstung als den Schutz von Leben und Freiheit; man erzieht Kinder zu Schwachsinnigen, „wenn möglich mit hohem Intelligenzquotienten” (S.51).
Gewalt maskiert sich als Liebe und schleicht sich in die Erziehung ein, so daß Kinder liebevoll ihrer eigenen Welterfahrung beraubt werden; an deren Stelle wird die Erfahrung von erlebnisunfähigen Eltern und Erziehern eingesetzt. Entfremdung ist nicht nur ein ökonomischer Vorgang; sie ist ein Geschehen in der Kinderstube, und gerade dort findet die Ur-Entfremdung statt. Kinder werden, wie Sartre erklärt, frühzeitig zu ihren „eigenen Großvätern” gemacht. Man näht sie gleichsam in die Haut von Verstorbenen ein, erzieht ihnen die Verhaltensweisen des Spießbürgertums an und macht sie auf diese Weise zu „Angepaßten”. Nach Laing sind Neurose und Psychose Revolten von Menschen, bei denen dieser „Anpassungsprozeß” mißlungen ist. Aber „wir Angepaßten” sollten gegenüber diesen „Unangepaßten” nicht stolz und hoffärtig sein; wir sollten uns mit ihnen solidarisieren und mit ihnen zusammen aus einer Welt der Gewalt und Unterdrückung aussteigen.
Fast alle menschlichen Individuen und Gruppen leben davon, daß sie andere Individuen und Gruppen zu Kontrastbildern aufbauen, an denen sich die eigene Positivität im Gegensatz zur Negativität der anderen vorteilhaft zeigt. Das „Vorurteil” ist ein Element dieses unmenschlichen Dynamismus, der die Beziehung zwischen verschiedenartigen Menschen blockiert. So sind Ich und Wir stets von Asozialität durchdrungen.
Auch die Gemüts- und Geisteskranken sind eine „Sie-Gruppe”, die wir unserer „Wir-Gruppe” der „Normalen” entgegenstellen. Damit verfehlen wir ihre Problematik und können ihnen in ihrer Not nicht behilflich sein. Erst wenn wir davon ausgehen, daß „gestörte Menschen” auch in irgendeiner Weise „Recht haben”, werden wir uns mit ihnen verständigen können.
In den psychiatrischen Heilanstalten „depersonalisiert” man die Patienten, indem man sie mit Medikamenten paralysiert, ihnen keine sinngemäße Beschäftigung ermöglicht und ihnen den Gesprächskontakt sehr sparsam und stets „offiziell” zuweist. Die „Kranken” befolgen dann diese (stille) Anordnung und regredieren nicht selten auf die Stufe eines bloß organismischen Daseins.
Ein wichtiges Ergebnis der tiefenpsychologischen Familienforschung ist, daß kein Patient für sich allein neurotisch oder psychotisch wird: Es sind neurotische oder psychotische Familien, in denen solche „Fälle” ausgebrütet werden. Geht man näher auf die Lebensbedingungen der „Kranken” im Vorfeld ihrer Erkrankung ein, dann stellt man fast mit Regelmäßigkeit fest, daß sie in Beziehungsgeflechten lebten, in denen sie „nicht gewinnen konnten”: Sie flüchteten in die Krankheit, weil ihnen entscheidende Möglichkeiten der Expansion und Selbstentfaltung verrammelt waren.
Laing plädiert dafür, daß man die Schizophrenie als eine „Reise nach innen” auffaßt, zu der Menschen aufbrechen, die für eine „Reise nach außen” schlecht gerüstet und auch wenig vorbereitet sind. Seiner Meinung nach soll man solche Expeditionen nicht durch ungeeignete psychiatrische Maßnahmen stören: Man soll erforschen, wie man sich zu solchen Menschen verhalten muß, damit sie den „Rückweg zu uns” finden. Vielleicht sollte man Schizophrenie als „Krankheit des gebrochenen Herzens” definieren.


Die Stimme der Erfahrung

In diesem Spätwerk aus dem Jahre 1982 greift Laing noch einmal seinen umfassenden Erfahrungsbegriff auf, den er dem verengten theoretischen Konzept der Naturwissenschaft und der auf sie aufbauenden Medizin und Psychiatrie entgegenstellt. Schon Edmund Husserl hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß das naturwissenschaftliche Denken großenteils auf lebensfremden Konstrukten beruht; es gibt nach Husserl eine „Lebenswelt”, und diese ist die Basis von allen Wissenschaften, sowohl denen der Natur als auch denen des Menschen und seines Kulturlebens. Diese lebensweltlichen Voraussetzungen zu verstehen, erscheint Husserl und Laing als Grundelement für das Begreifen aller menschlichen Verhaltensformen und Schöpfungen.
Laing nennt derlei „Erfahrung” – sie ist für ihn das Gegenteil von jeglichem „Objektivismus”. Wie wir subjektiv die Welt erfahren, das bestimmt unser seelisches Gesund- und Kranksein. Psychologie sollte eine Wissenschaft von subjektiven Erfahrungswelten sein.
Dann aber ist sie weder Behaviorismus noch offizielle Psychiatrie noch orthodoxe Psychoanalyse. Wiederum reitet Laing seine Attacken gegen diese angeblichen Formen des Menschenverstehens, die sich irrigerweise der „objektiven Naturwissenschaft” angleichen wollen.
Der Geist der Naturwissenschaft aber ist gewaltsam, tough-minded (hartgesotten) und „seelenlos”. Er ist zu nüchtern und zu unbeholfen für seelisch-geistige Qualitäten. Max Scheler meint sogar, daß die modernen exakten Wissenschaften aus dem christlichen Welthaß entsprungen seien. Für die Technik, die ein Kind der objektiven Wissenschaft ist, können wir das heute schon ziemlich leicht nachvollziehen. Sie zerstört die Welt, die sie beherrscht und ausbeutet.
Laing kämpft gegen die Hybris des Szientismus an, vor allem dort, wo er sich in entwertender Weise mit dem Menschen befaßt. Für den Szientisten ist der Mensch Organismus, Apparat, Roboter, Energiebündel. Man kann ihn allerdings so betrachten, aber in erster Linie ist der Mensch Mitmensch, Du und Person. Er ist, genau wie der Betrachter, Schöpfer einer Lebenswelt, und als solcher kann er kein „innerweltliches Ding” sein. Denn Dinge mit Bedeutung gibt es erst in lebensweltlichem Milieu, das von Personen getragen und artikuliert wird.
Wie immer holt Laing seine Beispiele aus der Psychiatrie, die sein Betätigungsfeld ist. Als Ursünde der modernen Psychiatrie sieht er die These, daß schizophrene Menschen an „uneinfühlbaren Seelenzuständen” leiden. Damit hat man eine große Menschengruppe aus der Menschenwelt exkommuniziert. Und auf Exkommunikationen folgen, wie die Geschichte der katholischen Kirche lehrt, Verfolgungen, Quälereien und „Exekutionen”.
Die Psychoanalytiker bekämpften die psychiatrischen Vorurteile und repetierten sie mit anderen Begriffen. Nun sprach man vom „Autismus der Schizophrenen” und deren Gefühlsuntauglichkeit. Neuere Psychoanalytiker therapieren zwar Psychotiker, aber auch sie benützen Techniken der Diskriminierung, die nach Laing meistens die Heilung sabotieren. Tatsächlich zitiert er Behandlungsbeispiele, die erschütternd anmuten. Manche Therapeuten scheinen der Meinung zu sein, daß man Wahn kranken skurrile und „halb-verrückte” Deutungen zumuten kann: auf ein bißchen mehr Wahnsinn kommt es wohl nicht an. Nach Laing jedoch muß man im Schizophrenen den Mitmenschen anerkennen, wenn man ihn fördern will. Das spricht sich leicht aus, aber in praxi stellt es hohe Anforderungen an den „Helfer”.
Ein ausgezeichneter kritischer Abschnitt von Laings Buch ist Ludwig Binswanger gewidmet, den die Daseinsanalytiker als ihren „Erzvater” (neben Medard Boss) verehren. Schon anderen Autoren ist aufgefallen, daß der berühmte Kreuzlinger Psychiater in seinen Falldarstellungen eigentümliche Wege beschreitet. Viele seiner „Fälle” wurden von ihm gar nicht behandelt; er fand sie in den Archiven seiner Klinik, die er von seinem Vater geerbt hatte. Binswangers oft mehr als hundert Druckseiten umfassende Fallinterpretationen sind reine „Schriftstellerarbeit” ; sie haben mit Therapie nichts zu tun. Er gebrauchte die Behandlungsberichte anderer als Textunterlage; darauf errichtete er das luftige Gebäude seiner philosophischen Interpretationen, die von den Ideen Husserls, Heideggers und mancher anderer Denker inspiriert sind.
Am bekannten Binswanger-Fall der schizophrenen Patientin Ellen West zeigt nun Laing, wie gefühlskalt und distanziert der literarisch so fruchtbare „Daseinsanalytiker” mit einer schwer leidenden Frau umging. Schon sein Bericht ist voll von abwertenden Vokabeln; um das eigentliche Innenleben der Patientin, die er kurz vor ihrem Suizid in einigen Konsultationen sah, hat er sich wenig oder gar nicht gekümmert. Er ließ sie gewissermaßen im Stich, und als die Frau in ihrer schlimmen Not und Vereinsamung Selbstmord beging, kommentierte Binswanger dieses Ende mit den fast zynischen Worten: „Sie sah aus, wie nie im Leben – ruhig und glücklich und friedlich.”
Da Ellen West einigen Super-Psychiatern vorgestellt worden war, ist dies für Laing nicht einfach ein Versagen von Binswanger, sondern der ganzen offiziellen Psychiatrie. Diese ist groß im Etikettieren der Kranken – von Therapie weiß sie wenig. Daher bricht unser Autor nach dem Zitieren einiger aufrüttelnder Dokumente der Patientin in die Worte aus (1982; dt. 1983, S. 92):

Wie unheimlich und finster! Wie unbegreiflich, daß Binswanger und die anderen Experten für unbegreifliche Menschen weiterhin die Macht haben, sie lebendig und schreiend in ihren Gruften aus Worten zu begraben. Schreie sind nur Symptome der Hysterie. Angst ist ein Zeichen für Paranoia. Ihre Niederlage enthüllt ihren genetischen Mangel an moralischem Rückgrat. Ihre Schwachheit ist Psychasthenie. Ellen Wests Daseinsgestalt zeigt wie ein nach rückwärts gerichtetes Horoskop die Entwicklung einer schizophrenen Krankheit, die dazu bestimmt war, tödlich zu verlaufen. Armes reiches Mädchen.

Nachdem er den Leser mit Recht auf Kritik eingestimmt hat, geht nun Laing daran, seinen „umfassenden Erfahrungsbegriff” zu erläutern. Wir sollen offenbar lernen, offen zu werden für alle Aspekte der Wirklichkeit, die von der Wissenschaft verkannt oder verleugnet werden. Aber da schießt nun unser Wissenschaftskritiker weit über das sinnvolle Ziel hinaus. Er vertritt den Standpunkt, man müsse sich auch der abseitigsten Themen annehmen, als da sind: außersinnliche Erfahrung, Erfahrung beim Tod, bei der Geburt, vor der Geburt, „während und zwischen früheren Inkarnationen” usw. (S.102)
Laing verachtet manche Exzesse der exakten Wissenschaft, aber es ist kein gutes Heilmittel dagegen, wenn er sich dem Mystizismus übergibt. In Die Stimme der Erfahrung überbietet er die einfallsreichsten und sonderlingshaftesten Psychoanalytiker, indem er selbst zur „Analyse vorgeburtlicher Erfahrungen” schreitet.
Schon Freud und Otto Rank hatten Träume so gedeutet, daß in ihnen dem Geburtserlebnis eine wichtige Rolle zukam. Andere Psychoanalytiker deuteten zumindest an, daß man sich im Traum auch in vorgeburtliche Zustände zurückversetzen könne. Laing ist von solchen kühnen Konjekturen beeindruckt und entwickelt regelrecht eine Uterussymbolik, die seiner Ansicht nach in vielen Träumen durchdringt, aber von Therapeuten zu wenig beachtet wird. Die Themen „Placenta”, „Ei und Nidation”, „Leben im Uterus” sollen bei psychologischen Behandlungen in Zukunft mehr beachtet werden.
Belege und Beispiele können Psychologen bekanntlich immer bringen. Es kommt nur darauf an, ob man den „Symbolkatalog” so formulieren will, daß man allfällige Träume ins vorgefaßte Konzept einreihen kann. Träumt ein Träumer von einem Wasserloch, von Schlamm, Schnee oder Unterholz, so ist dies nach Laing das Endometrium des Uterus; träumt er von Bogengang, Brücke oder Peitsche, so bedeutet dies die Nabelschnur usw. Goethe hat solche Willkürdeutungen ahnend vorweggenommen:
„Im Auslegen seid frisch und munter; legt Ihr's nicht aus, so legt es unter!”
Gerade in diesem Text erkennen wir den etwas phantastisch gesinnten Laing, der mit dem Okkultismus liebäugelt und die „Grenzen des Wissens” aufsprengen will. Th. W. Adorno sagte bei Gelegenheit, das Okkulte sei Inhalt einer „kleinen Schizophrenie”; es sei doch merkwürdig, daß gerade Menschen im seelischen Ungleichgewicht eine besondere Vorliebe für das Außer- und Übersinnliche hätten. Auch bei Laing drängt sich diese Vermutung auf. Nicht umsonst hatte er ein spezifisches Flair für „das Schizophrene”, und vielleicht hat er in seinen Patienten immer auch sich selbst mitbehandelt.
Gerade seine Falldarstellungen in diesem Buch, das so mächtig gegen die Psychiater zu Felde zieht, lassen sehr viel zu wünschen übrig. Sie begnügen sich mit „impressionistischen Andeutungen”, aus denen sehr weitreichende Schlüsse gezogen werden. Laing als Reformer und Rebell erliegt einer Versuchung, die man bei manchen „Revoluzzern” entdeckt; sie sind stark im Verneinen, aber der positive Teil ihrer Bestrebungen wird nicht mit ausreichender Sorgfalt angegangen. Daher ist „Die Stimme der Erfahrung” ein recht unbefriedigender Text.


Psychoanalyse eines Psychotherapeuten:
Die Autobiographie

Unter dem Titel Weisheit, Wahnsinn und Torheit hat Laing 1985 seine Autobiographie publiziert; sie umfaßt die ersten dreißig Jahre seines Lebens und will „The Making of a Psychiatrist” darstellen. Es soll daraus hervorgehen, wie Laing „wurde, der er ist”; und tatsächlich hat er interessante Ereignisse zu erzählen, die begreiflich machen, woher seine Vorzüge und auch seine Mängel stammen.
Laing war Einzelkind und wurde sowohl verwöhnt als auch ziemlich streng erzogen. Der Vater war Elektroingenieur, die Mutter Hausfrau: beide waren offenbar zwanghafte Persönlichkeiten. Daher wurde weidlich geprügelt, wenn der kleine Ronald nicht vollkommen brav war. Die Mutter hatte einen Ernährungsfimmel und verbot dem Knaben, Süßigkeiten zu essen. Wenn er es doch tat und es herauskam, erhielt er Schläge. Kein Wunder, daß der Knabe alsbald mit einem Ekzem reagierte.
Beide Eltern legten viel Wert auf eine religiöse Erziehung. Bis zum siebzehnten Lebensjahr betete Laing vor dem Einschlafen fromm und gläubig sein Nachtgebet. Später kamen ihm Zweifel, aber der religiöse Drill seiner Jugend wurde nie ganz überwunden.
Da die Eltern viel von Musik hielten, wurde auch Laing musikalisch unterwiesen. Er brachte es im Klavierspiel so weit, daß er beinahe ein Musikstudium gewählt hätte, als er die Schule hinter sich ließ.
Aber er wählte doch die Medizin, da er grundlegendes Wissen über den Menschen suchte. Fasziniert war er als Student von der Hypnose; es schien ihm rätselhaft, daß ein Mensch im hypnotischen Zustand falsche Wahrnehmungen hat und seinen Willen einem anderen (dem Hypnotiseur) unterwirft. Laing selbst war ein „Medium” bei solchen „Experimenten”, und versuchte sich selbst in hypnotischen Künsten.
Auch der Okkultismus zog ihn in seinen Bann. Er war bei spiritistischen Veranstaltungen und berichtet leichtgläubig, daß die Person in Trance ihm allerlei „Wahrhaftiges” über sein Leben offenbarte. Folgerichtig war er auch tief ergriffen, als er den banalen amerikanischen Massenprediger Billy Graham in seinen „Erweckungsreden” anhörte; selbst bei diesen geschmacklosen Werbefeldzügen für das Christentum bekam Laing als Zuhörer Herzklopfen, Halsschmerzen und Schweißausbrüche. Lakonisch stellt er fest, daß Billy Graham Erfolge wie ein „erstklassiger Hypnotiseur” hatte.
Als hochgradig sensibler Mensch litt Laing zunächst sehr unter den Härten des medizinischen Berufes. Es tat ihm weh, wenn er sah, wie die Patienten durch grobe Behandlungen gequält wurden. Merkwürdig erschien ihm, daß ein Großteil seiner Studentenkollegen derlei als „gegeben” hinnahm.
Die erste Station seiner Karriere nach Studienabschluß war die Neurochirurgie. Auf einer solchen Abteilung lernte er Joe Schorstein kennen, einen Neurochirurgen, der als österreichischer Emigrant nach Schottland gekommen war. Schorstein war philosophisch hoch gebildet und nahm seinen jüngeren Kollegen unter seine Fittiche; die beiden Ärzte diskutierten die gesamte Philosophie, und erst durch Schorstein wurde Laing mit wichtigen Problemen der Gegenwartsphilosophie vertraut gemacht.
Der junge Laing wurde Militärpsychiater, aber eben ein „philosophisch interessierter Psychiater”. Er schreibt (1985; dt. 1987, S.142):

Als ich zum Militär kam, gärte es heftig in mir: Da waren historischer Materialismus, Nihilismus, Theologie, Philosophie, Psychologie, Neurologie; die Entdeckung der Phänomenologie; Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty, Husserl; die Entdeckung der Unterschiede zwischen dem Verstehen und dem Erklären; die Übersetzung der Hermeneutik eines Textes auf die Hermeneutik zwischenmenschlicher Beziehungen; die – für mich jedenfalls – Zwillings gestalten Kierkegaard und Nietzsche, Christ und Antichrist, der Ritter des Glaubens, das Schicksal des Nihilismus; Nietzsches Kritik an „Überzeugungen” und seine Absage an das Ich, den freien Willen und die Probleme der Psychiatrie und Psychopathologie; Heidegger und die Frage des Seins: Was heißt es, zu sein? Wittgenstein: die Zertrümmerung dieser Frage. Nietzsche und Wittgenstein:
Geschichte. Die sozio-ökonomische materielle Wirklichkeit der Gesellschaft. Das britische Militär. Der Koreakrieg. Die Bombe.

Dieser Philosoph im Ärztekittel weigerte sich, die üblichen Behandlungstechniken der Psychiater als Nonplusultra anzuerkennen. Insulinkuren, Elektroschocks und Lobotomien stießen ihn ab. Auch befremdete es ihn, daß so gar keine echte Kommunikation zwischen Ärzten, Pflegern und Patienten bestand. Vor allem die letzteren lebten in den Kliniken wie in einem „existentiellen Vakuum”. Wie sollten sie da gesunden?
Aus spontaner Identifikation mit den gestörten Menschen solidarisierte sich Laing mit ihnen, nahm Beziehung mit ihnen auf und sprach mit ihnen. Es kam infolge dieser „harmlosen Interventionen” zu entscheidenden Besserungen bei angeblich „aussichtslosen Fällen”. Laing sah, was echte Kontaktnahme bei Psychosen zustandebringen kann.
Offenbar las er viel in jener Zeit. Sartre und die Existenzphilosophie überhaupt scheinen im Mittelpunkt seines Interesses gestanden zu haben. Laing wurde ja später selbst ein existentialistischer Psychiater. Die Bezeichnung „Antipsychiatrie” , die andere auf ihn angewendet haben, lehnt er ab, weil er das Band zur „alten Psychiatrie” nicht einfach zerreißen will.
Durch zahlreiche bewegende Falldarstellungen schildert Laing seine frühen Eindrücke in der psychiatrischen Welt. Er war zu intelligent und zu einfühlsam, um sich dem psychiatrischen Systemzwang zu unterwerfen. Für ihn waren die Patienten in erster Linie Mitmenschen. So kam es, daß dieser junge Psychiater ein Nonkonformist wurde. Ein bißchen halfen ihm dabei auch seine Kollegen. Bei denen war es durchaus üblich, im Gespräch blasiert zu konstatieren: „Eigentlich war doch dieser Hamlet nichts anderes als eine schlecht programmierte Ratte!” Und: „Wenn man dem alten Lear (König Lear) ein paar gute Elektroschocks verabreicht hätte, wäre sein Problem gelöst gewesen!”
Wir haben noch nachzutragen, daß Laing vom Knaben- bis zum Mannesalter unter schwerem Asthma litt. Nimmt man die übrige Vorgeschichte hinzu, dann läßt sich erschließen, daß der spätere Psychotherapeut und Psychiatriekritiker aus seiner eigenen Vorgeschichte viel über emotionale Bedrängnis und seelisches Ausgeliefertsein wissen konnte. Schopenhauer sagt: „Man lacht über andere, und man weint über sich selbst!” Wenn das richtig ist, dann war Laings Mitleid mit den schweren Fällen in der Psychiatrie auch ein wenig Selbstmitleid. Vielleicht konnte er sich wie der berühmte orthodoxe Psychiater Eugen Bleuler sagen:
„Als ich jung war, wußte ich, daß ich in die psychiatrische Klinik mußte; es fragte sich nur, auf welcher Seite der Barriere.” Sowohl Bleuler als auch Laing hatten Glück; sie kamen auf die „Ärzteseite” , aber der letztere bezog aus dem eigenen Gefährdetsein den Impuls, sich mit den Patienten ganz zu solidarisieren.
Nach allem, was wir von Laing wissen, können wir nicht umhin, ihn zu bewundern und seine Leistung als hochrangig einzustufen. Er ist tatsächlich, wie der Verlag im Klappentext der Autobiographie proponiert, „einer der streitbarsten Denker innerhalb der modernen Psychiatrie”. Er hat viele Psychiater und Laien durch seine Schriften aufgerüttelt und zum Nachdenken gebracht. Durch ihn ist ein Selbstprüfungsprozeß im medizinischen und psychotherapeutischen Denken der Gegenwart in Gang gekommen.
Liest man aber genauer in dieser „Selberlebensbeschreibung” (Jean Paul), dann spürt man auch Bruchlinien in Laings Charakter und in seiner Weltanschauung. Gerade diese Biographie ist sehr „ichzentriert”; man meint die Stimme eines „Narziß” zu hören. Von den großen Begebenheiten in Welt, Wissenschaft und Kultur im beschriebenen Zeitraum erfahren wir bei Laing wenig; seine eigene Person und ihre engste Umgebung ist das „universelle Thema”. Auch hören wir kaum von weitreichenden Bildungseinflüssen; es waren doch recht schmale Ausgangspositionen, von denen Laing zu seinen hochgespannten Ambitionen vorstieß.
Er kam zur rechten Zeit, und das macht eventuell eine der Grundlagen seines Ruhmes aus. Überall sind Anti-Bewegungen im Gange; man spricht von Anti-Pädagogik, Anti-Psychiatrie, Anti-Memoiren usw. Auch Laing wurde mit dieser Bewegung groß, die als Parallelerscheinungen etwa die Abschaffung der psychiatrischen Kliniken in Italien durch Franco Basaglia aufzuweisen hat.
Aber viele dieser Rebellen tragen tief im Innern eigene Unadäquatheiten, Labilitäten und sogar Skurrilitäten in sich; die inneren Wunden ihres problematischen Werdeganges sind schlecht verheilt, und wenn sie sich ins Getümmel der Reformen einlassen, bricht so manche alte Wunde auf.


Kritische Bewertung

Man kann die offizielle Psychiatrie in ihrem Verhalten zu den gemütsgestörten Menschen als streng paternalistisch und autoritär bezeichnen; die Anti-Psychiatrie bevorzugt die antiautoritäre und maternalistische Linie, und das ist gewiß eine Art Vorzug. Aber auch diese „weiche Haltung” hat in der Seelenheilkunde ihre Tücken und Gefahren. Sie neigt dazu, die Kranken lediglich als „Opfer der Verhältnisse” zu sehen, Familie und Umwelt anzuklagen, und die Patienten selbst zu exkulpieren. Gelegentlich sogar unternehmen es die Anti-Psychiater, die Wahnkranken zu idealisieren und zu glorifizieren; nach den Thesen von Laing und David Cooper sind die Schizophrenen die wahrhaft authentischen Menschen, indes die Normalen und Angepaßten ihre Authentizität für immer verloren haben.
Das sind Übertreibungen nach dem Gegensatzprinzip; was die Psychiatrie bisher gesündigt hat, soll durch die „Anti-Psychiatrie” wieder gutgemacht werden. Man erkennt das unter anderem auch aus den Behandlungsberichten der Anti-Psychiater, zum Beispiel dargestellt im „Philadelphia Association Report 1965-69”. Darin wird von den Erfahrungen in „Kingsley Hall” erzählt, der Heilanstalt, die Laing und seine Gefährten gegründet haben. Es handelt sich mehr um eine Wohngemeinschaft als eine Klinik; die Ärzte leben mit den Patienten zusammen, und es gibt keine Vorschriften und Anweisungen. Die Patienten dürfen im Bett bleiben, solange sie wollen; sie können sich den Tag einteilen je nach Laune. Sie werden nicht als krank tituliert, sondern ihre Gemütsverfassung ist eine „Reise durch den Wahnsinn” – die Ärzte verstehen sich als „Reisebegleiter”, die ihre Weggenossen zur Authentizität ermutigen sollen. Angeblich hat „Kingsley Hall” gute Erfolge erzielt.
Der berühmteste Fall der Laing-Gruppe ist Mary Barnes, die ihre Krankengeschichte zusammen mit ihrem Arzt unter dem Titel „Meine Reise durch den Wahnsinn” veröffentlicht hat. Wie Szasz in seinem Buch „Schizophrenie – das heilige Symbol der Psychiatrie” maliziös erwähnt, ist Mary Barnes für die Anti-Psychiatrie dasselbe wie der „Wolfsmann” für die Freudsche Psychoanalyse: nämlich ein Paradefall, der belegen soll, wie wunderbar die neue Form der seelischen Krankenbehandlung ist. Als Frau Barnes in „Kingsley Hall” eintrat, war sie eine einfache Krankenschwester. Man flößte ihr ein neues Selbstbewußtsein ein, indem man sie zum Behandlungsmuster erhob und ihre harmlosen „Fingermalereien” zu Kunstwerken hochstilisierte. Eine solche Fülle von maternalistischer Zuwendung half natürlich in eindrücklicher Weise. Aber wir schließen uns Szasz in seinem kritischen Kommentar an, wenn er meint, daß die Anti-Psychiater „moralische Aufrichtung” mit Heilung verwechseln.
Szasz wehrt sich vor allem dagegen, daß in den Gemütskranken ein „auserwähltes Volk” gesehen wird, durch die wir zu einem wahren Lebensverständnis hingeführt werden können. Die sogenannten Schizophrenen sind keine „Reisenden”; sie sind oft kindisch, ziellos, widerspenstig, egozentrisch und haben gewöhnlich keinen sinnvollen Lebensplan. Man soll ihr Versagen im Leben nicht vertuschen, was aber auch heißt, daß wir sie weder anklagen noch diskriminieren. Aber die Anti-Psychiatrie verschleiert die Tatsache, daß das Leben eine Aufgabe ist, die bewältigt werden muß. Wie will man denn das „wahre Selbst” aktualisieren, wenn man den Menschen nicht im Maße seiner Kräfte und Einsichten vor soziale Aufgaben stellt, die er lösen muß? Laing tendiert gewissermaßen zur Anomie, d. h. zur Nivellierung von Wertproblemen und Wertmaßstäben. Das ist oft die Konsequenz eines übersteigerten Maternalismus, der die Fehler der fordernden Vaterwelt durch „absolute Güte und Milde” ausgleichen will.


Ausgewählte Literatur

Barnes, M. & Barke, J. (1973), Meine Reise durch den Wahnsinn, München: Kindler.
Basaglia, F. (Hrsg.) (1973), Die negierte Institution oder: Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Frankfurt: Suhrkamp.
Bateson, G., Jackson, D., Laing, R. D. & Lidz, Th. (1969). Schizophrenie und Familie. Frankfurt: Suhrkamp.
Binswanger, L. (1956). Drei Formen mißglückten Daseins. Tübingen: Niemeyer. – (1957). Schizophrenie. Pfullingen: Neske.
Bleuler, E. (1911). Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien. Reprint München: K. Saur 1978.
Buber, M. (1960). Urdistanz und Beziehung. Hamburg: Schneider, 4. Aufl. 1978. – (1965). Das dialogische Prinzip. Hamburg: Schneider.
Cooper, D. (1971). Psychiatrie und Anti-Psychiatrie. Frankfurt: Suhrkamp. – (1969). Die Dialektik der Befreiung. Reinbek: Rowohlt.
Esterson, A. (1975). Die Blätter des Frühlings. Eine Studie zur Dialektik des Wahnsinns. Gießen: Focus-Verlag.
Glatzei, J. (1975). Antipsychiatrie. Stuttgart: Fischer.
Laing, R. D. (1960). Das geteilte Selbst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1972.
– (1961). Das Selbst und die Anderen. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1973.
- & Cooper (1964). Vernunft und Gewalt. Drei Kommentare zu Sartres Philosophie 1950-1960. Frankfurt: Suhrkamp 1973.
- & Esterson (1964). Wahnsinn und Familie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1975.
- (1965). Mystifizierung, Konfusion und Konflikt. In Schizophrenie und Familie. Frankfurt: Suhrkamp 1969, S. 274-304
- Philipson, H. & Lee, A. R. (1966). Interpersonelle Wahrnehmung. Frankfurt: Suhrkamp 1971.
- (1967). Phänomenologie der Erfahrung. Frankfurt: Suhrkamp 1969.
- (1967). Undurchschaubarkeit und Evidenz in modernen Sozialsystemen. In D. Cooper (1969). Die Dialektik der Befreiung. Reinbek: Rowohlt, S.12-26.
- (1969). Die Politik der Familie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974.
- (1970). Knoten. Reinbek: Rowohlt 1972.
- (1974). Unsere zeitgenössische mittelalterliche Psychiatrie. Psychologie heute, November 1974, S. 69-74.
- (1976). Die Tatsachen des Lebens. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
- (1976). Liebst du mich? Köln: Kiepenheuer & Witsch.
- (1978). Gespräche mit meinen Kindern. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
- (1982). Die Stimme der Erfahrung. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1983; München: dtv 1989.
- (1985). Weisheit, Wahnsinn, Torheit. Werdegang eines Psychiaters. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1987.
Macnab, F. A. (1975). Entfremdung und Interaktion. Erfahrungen mit Schizophrenen. Mit einem Vorwort von R. D. Laing. Gießen: Focus-Verlag.
Sartre, J. P. (1952). Das Sein und das Nichts. Reinbek: Rowohlt 1962
Szasz, T. (1972). Geisteskrankheit, Ein moderner Mythos. Olten: Walter.
- (1976). Schizophrenie – das heilige Symbol der Psychiatrie. Wien: Europaverlag 1979.

aus Rattner, Klassiker der Psychoanalyse


siehe auch:
- Laing, Das geteilte Selbst, Leseprobe (Springer)
- Ronald David Laing durchschaut das geteilte Selbst (Hans Klumbies, Psychologie Guide, 09.07.2010)
- Ronald D. Laing: Reise in den inneren Raum (Christof Goddemeier, Ärzteblatt, September 2014)
Seit langem sind Psychiater sich in der „Uneinfühlbarkeit des schizophrenen Krankheitsgeschehens“ einig. Doch Laing sieht die Gründe für dieses Nichtverstehen eher beim Psychiater als bei seinen Patienten. Ihm zufolge gibt es keine allgemein anerkannten, objektiven Kriterien für die Diagnose Schizophrenie: „Der typische psychiatrische Patient ist eine Funktion des typischen Psychiaters und des typischen psychiatrischen Krankenhauses.“ Dem naturwissenschaftlich-objektivistischen Krankheitsverständnis der Psychiatrie hält Laing seine „existenzielle Phänomenologie“ und damit die Frage nach der Lebenswelt des Schizophrenen und dem biografisch bestimmten Sinn seiner Erkrankung entgegen. Die Psychoanalyse zerlegt den Menschen in Über-Ich, Ich und Es. Deshalb ist sie Laing zufolge für einen ganzheitlichen Ansatz ungeeignet. Mit Bezug auf Wilhelm Diltheys Hermeneutik beschreibt Laing Diagnose und Therapie als „Verstehen“. Schizophren Erkrankte können ihre Gegenüber verunsichern und ihnen Angst einflößen. Laing zufolge dienen Fachsprache, Diagnose- und Behandlungstechniken der Psychiatrie vor allem dazu, diese Angst und Unsicherheit in Überlegenheit zu verwandeln. Laings auch von Martin Buber geprägte Haltung des existenziellen Verstehens erfordert dagegen vom Psychiater, sich nicht scharf als „normal“ vom „Verrückten“ abzugrenzen, sondern mögliche eigene psychotische Verzerrungen zu akzeptieren und zum Verständnis der Kranken zu nutzen. Am schizophren Erkrankten sieht Laing vor allem seine „ontologische Unsicherheit“. Damit betont er, dass die Unsicherheit dieser Menschen ihr gesamtes „In-der-Welt-sein“ betrifft. „Was wird von uns gefordert?“, schreibt er. „(. . . ) Verständnis als ein Bemühen, ihn zu erreichen (. . . ), während wir in unserer eigenen Welt bleiben und ihn mit unseren eigenen Kategorien beurteilen, wodurch er unvermeidlich zu kurz kommt, das ist es nicht, was der Schizophrene wünscht oder nötig hat. Wir müssen die ganze Zeit seine Eigenheit und Verschiedenartigkeit, sein Getrenntsein, seine Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit erkennen.“(Hervorhebungen von mir)

R. D. Laing - MAKING FACES [5:22]
Hochgeladen am 15.03.2011
A conversation between psychoanalyst R. D. Laing and theatre director Joseph Chaikin. Laing makes faces, then they discuss the only time his father gave his mother a birthday present.

Excerpt from "Conversation: R.D. Laing and Joseph Chaikin"
Directed by Merrill Brockway (1973)

From the CBS show "Camera Three" in 1973.

R.D. Laing on Forgetting Depression [3:07]

Veröffentlicht am 26.03.2013
excerpt from "Did you used to be R.D. Laing?" Documentary portrait of Laing by Kirk Tougas and Tom Shandel.

siehe auch:
- Wissen und Bewältigung, Grundkurs Psychose (Thomas Lampert, Psychiatrie-Dienste Süd, Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie, PDF-Version einer PP-Präsentation, Datum unbekannt)
zuletzt aktualisiert am 13.10.2016



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