Das Üben mit der Angst
Auch der Umgang mit der Angst ist ein wesentlicher
Teil des Übungswegs im Alltag. Die Angst rät uns, uns abzukapseln und nicht
über den schützenden Außenrand unseres Kokons hinauszugehen. Doch wenn wir der
Angst nachgeben, verfestigen wir sie. Wir stärken unseren Kokon, engen unsere
Existenz ein und begrenzen sie. Aufgrund unserer Angst versuchen wir, irgendein
schreckliches Ergebnis zu vermeiden, das wir uns ausmalen, doch das
Ersatzleben, das wir haben, wenn wir unserer Angst nachgeben, ist bereits ein
schreckliches Ergebnis.
Ein guter Freund von mir hat einen
Science-Fiction-Roman geschrieben, in dessen Mittelpunkt Außerirdische stehen.
Wenn sie sich begrüßen, sagen sie nicht »Hallo«, sondern »Bitte tu mir nichts.«
Ist das nicht eine genaue Beschreibung der unterschwelligen Strömung der Angst,
die unser Leben beherrscht?
In Anbetracht der großen Angst, die wir alle haben,
nimmt es wunder, dass wir nicht bereits Experten auf diesem Gebiet sind. Doch
die Angst ist einer der heikelsten Bereiche im Leben und beim Üben. Die Liste
dessen, wovor wir Angst haben, ist sehr lang. Unsere fundamentalsten Ängste
sind die Angst vor Krankheit, Schmerz, Kontrollverlust, Hilflosigkeit und vor
dem Unbekannten. Wir fürchten vielleicht auch den Verlust geliebter Menschen
und materieller Sicherheit. Darüber hinaus haben wir Angst davor, kritisiert zu
werden und uns lächerlich zu machen. Wir fürchten uns vor dem Tod und
vielleicht noch mehr vor dem Sterben. Vielleicht ist die größte Angst von allen
jedoch die Angst vor der Angst.
Es gibt viele weitere Ängste, die uns je nach
unserer Persönlichkeit individuell zu schaffen machen. Dazu gehört die Angst
vor Nähe, Sexualität, Konfrontation, Verrat, Einsamkeit, Verantwortung und
dergleichen mehr. Das erste Stadium im Umgang mit der Angst besteht darin, sich
allmählich dessen bewusst zu werden, wie viel Angst beinahe allem zugrunde
liegt, was wir tun - die Angst hinter vielen Akten sogenannter Freundlichkeit,
die Angst in unserem Ehrgeiz, unserer Depression und natürlich in unserem
Ärger. Man könnte Ärger sogar als nicht wahrgenommene Angst definieren.
Viele unserer persönlichen Strategien sind auf die
eine oder andere Weise von Angst motiviert. Aber häufig bemerken wir nicht,
dass Angst eine Rolle spielt in dem, was wir tun. Oft bemänteln wir sie mit
Ärger oder Verachtung oder betäuben sie durch Aktivität oder Ablenkungen.
Das traf zweifellos auf mich zu, als ich die
Highschool und das College besuchte. Hätte mich jemand auf Angst angesprochen,
hätte ich vielleicht gesagt: »Eigentlich habe ich nicht viel Angst. Angst ist
nicht mein Problem.« Damals ging ich gern auf Partys, tanzte und trank. Ich
wollte mich gut amüsieren, und da ich ziemlich beliebt war, hatte ich das
Gefühl, obenauf zu sein. Noch eine ganze Weile später hielt ich dies für meine
beste Zeit.
Vor einigen Jahren wurde mir jedoch schlagartig
bewusst, wie früh ich schon Angst hatte. Als ich einen alten Song aus dem
Anfang der 6oer-Jahre hörte, überkam mich ein angenehmes, bittersüßes Gefühl
der Nostalgie. Doch inmitten dieser Nostalgie verspürte ich ein Kribbeln in der
Magengrube, das ich als Beklemmung erkannte. Ich dachte: »Warum fühle ich mich
beklommen, wenn ich mich an meine ›goldenen Zeiten‹ erinnere, als angeblich
alles so gut war?« Dann merkte ich, dass dieses Lied genügte, um in meinen
Zellen eine Erinnerung an etwas auszulösen, das die ganze Zeit über da gewesen
war: Beklemmung. Diese Beklemmung hatte mich wahrscheinlich motiviert, hektisch
nach Spaß und Zerstreuung zu suchen. Aber damals war mir das nicht wirklich
klar.
Erst mit Anfang zwanzig kam mir meine Angst langsam
zu Bewusstsein. Um diese Zeit herum machte ich mich auch auf den spirituellen
Weg. Ich ging rasch zum zweiten Stadium im Umgang mit der Angst über: dem
Versuch, sie loszuwerden. Da ich meine Ängste erkannte und sah, wie sie mein
Leben einschränkten, ging ich den althergebrachten Weg und versuchte, sie zu
beseitigen - mich ihnen zu stellen, sie zu bekämpfen, zu überwinden und von
ihnen frei zu werden. Was für ein edles und achtbares Unterfangen! Doch da
diese Herangehensweise oft die Folge unseres typischen, auf dem Kopf
stehenden.Denkens ist, ist das Verfahren, uns unseren Ängsten zu stellen in der
Hoffnung, sie loszuwerden, gewöhnlich begrenzt und fehlgeleitet.
Ich wusste das damals nicht und fing an, eine Sache
nach der nächsten auszuprobieren, um an meinen Ängsten zu arbeiten und sie zu
besiegen. Ich bettelte beispielsweise auf der Straße um Geld oder ging in
Lebensmittelläden und bat um Essen. Das fiel mir sehr schwer, weil ich von mir
das Bild eines wohlerzogenen, netten und verantwortlichen Menschen hatte, der
ausgesprochen unabhängig war und niemals jemanden um etwas bat. Mich auf eine
Art zu verhalten, die dieses Selbstbild infrage stellte, löste bei mir viel Angst
und Einschüchterung aus.
Im Alter von 25 schloss ich mich einer
Gurdjieff-Gruppe in San Francisco an, die mir eine Aufgabe stellte, auf die ich
mich freiwillig nie eingelassen hätte: Ich sollte einen Song schreiben und auf
Fisherman's Wharf singen. Im Sommer tummeln sich auf Fisherman's Wharf Hunderte
von Touristen, um die Drahtseilbahnen zu besteigen. Mir wurde aufgetragen, für
sie zu singen. Anders ausgedrückt: Ich sollte mich absichtlich lächerlich
machen.
Die Aufgabe bestand darin, vor diesen Menschen
einen selbst erdachten Song in Bob-Dylan-Manier zu singen und anschließend den
Hut herumgehen zu lassen. Ich warf mich in Hippie-Klamotten und setzte mir eine
Melone auf. Dabei war ich nicht nur kein Hippie, sondern mochte Hippies auch
nicht und wollte nicht für einen gehalten werden.
Noch jetzt kann ich mich daran erinnern, wie ich
dastand, versteinert, zitternd und davon überzeugt, dass ich entweder
ohnmächtig werden oder mich übergeben würde. Aber ich sang, weil ich einen
starken Willen hatte und Motivation. Ich trug also den Song vor und bat um
Geld. Ein wenig später wiederholte ich das ganze Spiel. Mit jedem Mal wurde es
leichter. Ich merkte, wie ich anfing, es zu genießen und Spaß daran zu haben.
Was ich nicht merkte, war, dass ich einfach nur ein konditioniertes Selbst
durch ein anderes ersetzte. Ich tauschte das ängstliche Selbst durch eins aus,
das in dieser Situation zuversichtlich war. Ebenso wenig begriff ich, dass ich
durch dieses Vorgehen nicht wirklich die Wurzeln der Angst anging, sondern nur
ihren Inhalt. Die Inhalte der Angst aber können endlos sein.
Doch damals begriff ich das nicht. In den nächsten
Jahren bestand also mein Umgang mit der Angst darin, dass ich versuchte, sie
loszuwerden. Ich beschloss, dass ich einen Beruf brauchte, der mich tagtäglich
zwingen würde, gegen die angsterfüllten Muster vorzugehen, die ich löschen
wollte. Nachdem ich als Lehrer und Computerprogrammierer gearbeitet hatte, nahm
ich eine Stelle als Zimmermann an, was einen Sprung ins Unbekannte bedeutete.
Ich wog nur 60 Kilo und hatte überdies kein Geschick in körperlicher Arbeit.
Ich würde mich jeden Tag in neue Situationen begeben müssen, die meine
natürlichen Grenzen ausweiteten. Die Wahrheit ist, dass ich mich einige Jahre
lang jeden Tag neuen und bedrohlichen Situationen aussetzen musste. Dann wurde
es langsam leichter.
Auch wenn das eine wertvolle Übung in anderer
Hinsicht war, rückte sie nicht der Wurzel der Angst zu Leibe. Stattdessen ging
ich einen Inhalt nach dem nächsten an und nicht das Wesen der Angst selbst.
Obwohl ich mehr Kraft bekam, ersetzte ich ein Selbst (ein konditioniertes,
ängstliches Selbst) durch das nächste (ein konditioniertes Selbst, das frei von
Angst war, aber nur in einer bestimmten Situation). Diese Methode ist begrenzt,
denn sie hilft uns nicht, die falschen Bilder unserer Identität aufzulösen.
Das dritte Stadium im Umgang mit der Angst begann
in meinen frühen Dreißigern, als ich offiziell Zen-Schüler wurde. Zum größten
Teil hörte ich auf, die Angst direkt zu attackieren, und ging sie stattdessen
indirekt an. Ich lernte, mich auf meinen Atem zu konzentrieren und Kraft in der
Gegend unterhalb des Nabels, dem sogenannten Rara, zu entwickeln. Ich glaube,
ich hatte die vage, idealisierte Vorstellung, die für viele Meditationsschüler typisch
ist, dass sich Angstfreiheit einstellen würde, wenn ich lange und ausdauernd
genug sitzen würde. Da die Angst ja nur Täuschung und Illusion war, warum
sollte man sich überhaupt um sie kümmern? Mich auf den Atem, das Mantra oder
die zehntausend Verneigungen zu konzentrieren würde die Angst von selbst zum
Verschwinden bringen. Doch trotz ihres verführerischen Reizes und ihrer
offensichtlichen Wirksamkeit in einigen Bereichen bringen diese Übungen wenig,
um dem Wesen der Angst selbst zu Leibe zu rücken.
Eine andere Version dieses dritten Stadiums im
Umgang mit der Angst erlebte ich einige Jahre später bei einem vierwöchigen
Retreat, in dem eine höchst angstauslösende Situation auftauchte. Ich begann
damals, mich darin zu üben, meine Angstenergie direkt in das Hara zu atmen. Ich
versuchte, meine Angst zu transformieren und ihre Energie in Kraft umzuwandeln.
Tatsächlich wurde mein Hara auf gewisse Weise sehr stark. Doch auch wenn diese
Übung mir half, einen schwierigen Monat zu überstehen, setzte ich mich immer
noch nicht wirklich mit der Angst auseinander. Ich versuchte weiter, sie
loszuwerden. Wie die anderen Methoden war auch diese begrenzt, weil sie mir
nicht half, die Vorstellung meiner auf Angst gegründeten Identität zu
durchschauen.
Einige Monate später wurde ich sehr krank. Acht
Monate lang setzte ich mich mit einem ganz neuen Bereich der Angst auseinander.
Mit fortschreitender Krankheit und angesichts der Möglichkeit, dass es keine
Heilung gab, begannen meine Ängste, sich zu vervielfachen. Im Vordergrund stand
die Angst vor körperlichen Beschwerden, an der ich mich festklammerte, indem
ich die Angst vor zunehmenden und unkontrollierbaren Schmerzen in die Zukunft
projizierte. Außerdem befiel mich die Angst, von anderen abhängig zu sein, wie
auch die Angst, isoliert und allein dazustehen. Unter den Schichten von
Selbstmitleid und Depression verbarg sich die Angst vor der HilflOSigkeit, die
mit einem Kontrollverlust einhergeht. Überdies fürchtete ich, dass mein Leben,
so wie ich es bis dahin gekannt hatte, für mich vorbei sein könnte. Ich
verwandelte mich von einem gesunden und aktiven Menschen in jemanden, der
vielleicht nie mehr in der Lage sein würde, körperlich aktiv zu sein. Mich auf
den Atem und das Hara zu konzentrieren nützte nichts, weil ich weder die
Energie noch die Kraft hatte, meine Aufmerksamkeit zu lenken. In dieser Phase
verbrachte ich den größten Teil meiner Zeit damit, mich in der Angst zu
ergehen, und wusste nicht recht, wie ich mit ihr umgehen oder üben sollte.
In meiner Verzweiflung entschloss ich mich, Joko
Beck anzurufen, der ich einige Monate zuvor begegnet war. Nachdem sie sich
meine Geschichte angehört hatte, sagte sie: »Ezra, ich weiß, dass diese
Krankheit weder angenehm ist noch dass sie dir gefällt, aber du musst
begreifen, dass sie dein Weg ist.« Auf irgendeine Weise stellte diese eine
Bemerkung die Dinge wieder vom Kopf auf die Füße. Vielleicht spürte ich zum
ersten Mal in meinem Leben die Bereitschaft, die Angst zuzulassen - sie einfach
nur sein zu lassen, ohne sie wegzuschieben. Das ist der Beginn des vierten
Stadiums im Umgang mit der Angst, und dieses besteht darin, sie nicht mehr als
Feind oder Hindernis zu betrachten, sondern sie bereitwillig einzulassen.
Als ich jedoch wieder gesund wurde, war mir dieser
Prozess immer noch nicht klar. Also begann ich, meine frühere Art der
Meditation wieder aufzunehmen. Ich konzentrierte mich auf den Atem und
versuchte, einen Zustand der Ruhe zu erreichen. Diese Ruhe sollte mir jedoch
nicht vergönnt sein, denn als ich körperlich wieder einigermaßen hergestellt
war, begannen intensive Ängste hochzukommen. Inzwischen ging ich regelmäßig zu
Joko und lernte etwas, was sich zu einer ganz neuen Richtung sowohl auf meinem
Übungsweg als auch im Umgang mit der Angst entwickeln sollte. Sie bat mich, die
Angst anzuschauen, wie es ein Wissenschaftler tun würde, mit der neugierigen
Haltung, einfach nur entdecken zu wollen, was sie ist. Die Methode bestand also
darin, beim Aufkommen der Angst einfach zu fragen: »Was ist das?« Die Antwort
liegt immer im physischen Wahrnehmen des Augenblicks.
Da wir die emotionale Erregung, die die Angst
erzeugt, als schmerzhaft erleben, reagieren wir mit Aversion. Wer will sich
schon dem Schmerz und dem Unbehagen aussetzen? Wir versuchen, ihnen zu
entrinnen, sie zu überwinden oder zu durchbrechen. Gleichzeitig fügen wir oft
einen ganz neuen, negativen Aspekt hinzu, indem wir auf uns selbst ärgerlich
sind und uns dafür schämen, Angst zu haben. Aber wie wäre es, die Angst nur als
einen weiteren Ausdruck unseres konditionierten Geistes zu betrachten? Wir sind
keine schlechten Menschen, weil wir Angst haben. Angst ist lediglich etwas, was
sich infolge unserer Konditionierung einstellt. Und daher könnten wir
beschließen, sie wirklich anzuschauen, indem wir fragen: »Was ist das?« Das
»Was« der Angst besteht wie alle Emotionen aus zwei Hauptkomponenten: den
Gedanken und den körperlichen Empfindungen. Wenn wir nur die Bereitwilligkeit
entwickeln, bei der Angst zu bleiben und ihr mit Neugier zu begegnen, ist das
ein großer Schritt davon fort, sie wegzuschieben oder zu versuchen, sie zu
überwinden. Zugleich ist es ein Schritt hin zu der Bereitwilligkeit zu lernen,
uns auf unser Leben so einzulassen, wie es ist.
Sobald wir fragen: »Was ist das?«, hören wir die
Angstgedanken in unserem Kopf schreien: »Das kann ich nicht.« »Wo führt mich
das hin?« »So sollte das nicht sein.« »Schluss damit.« Wir hören auch die
Stimmen der Selbstkritik: »Das werde ich nie schaffen«, »Mir fehlt die
Hoffnung« und dergleichen mehr. Wir mijssen uns darin üben, diese Gedanken als
Gedanken zu begreifen, auch wenn sie so wirklich und undurchdringlich
erscheinen. Dann lassen wir uns in die körperliche Wahrnehmung der Angst fallen
mit all ihren unangenehmen Empfindungen: der Erregung in Magen und Brust, der
eingeengten Wahrnehmungsfähigkeit, den Verspannungen in den Schultern, den
Verkrampfungen im Bereich des Mundes, der Übelkeit und Schwäche.
Wenn wir uns erlauben, Angst zu haben, stellen wir
fest, dass dieses furchtbare Gefühl einfach nur eine Kombination aus starken
körperlichen Empfindungen und tief gehegten Glaubenssätzen über uns selbst ist.
Nicht diese Empfindungen und Gedanken an sich sind das Problem, sondern unser
Widerstand, sie zuzulassen. Unser Wunsch, die Angst zu vermeiden, und unsere
negative Anhaftung an sie sind es, die so schreckliche Gefühle in uns erzeugen.
Das ist die verkrampfte Faust der Angst. Wir verkrampfen uns so sehr bei dem
Versuch, das Gefühl der Angst zu vermeiden, dass wir unser Herz verschließen.
Wenn wir bereit sind, die Angst zuzulassen und sie
als »Etwas« statt als »Ich« zu betrachten, verliert sie ihre Macht. Wir
begreifen, dass uns, selbst wenn wir in Panik sind, keine wirkliche physische
Gefahr droht. Statt die Angst panisch zu bekämpfen oder sie wegzuschieben,
lassen wir sie ein. Wir geben unsere Angst vor der Angst auf. Mut ist nicht die
Abwesenheit von Angst. Mut ist und erwächst aus der Bereitwilligkeit, die Angst
bewusst wahrzunehmen. Dann beginnt sich die verkrampfte Faust der Angst zu
öffnen - und wir verbinden uns wieder mit unserem Herzen.
Die Übung, bei der Angst zu bleiben, hat nicht den
Charakter eines klar umrissenen, fortschreitenden Prozesses. Für mich war es in
intensiven Phasen der Angst ein Ringen Augenblick für Augenblick. Im einen
Augenblick wollte ich weglaufen und die Angst wegstoßen. Im nächsten wollte ich
sie durchbrechen. Es gab auch Augenblicke der Kapitulation, in denen ich zu ihr
Ja sagen und sie beinahe akzeptieren konnte. Schließlich begann ich zu
begreifen, dass Angst keine undurchlässige Sache ist. Sie besteht einfach nur
aus starken Empfindungen und lähmenden Gedanken, die auf unserer
Konditionierung beruhen.
Wenn wir dieses vierte Stadium im Umgang mit der
Angst erreicht haben und bereit sind, sie zuzulassen, stellen wir fest, dass
wir Angst haben können, ohne uns zu fürchten. Wenn die Angst kommt, sagen wir
nicht »0 nein«, sondern lernen zu sagen: »Da ist sie wieder. Wie wird sie
diesmal sein?« Und was geschieht dann? Die.Undurchlässigkeit und Macht unserer
Angst lösen sich langsam auf.
Wenn wir bereitwillig beim Wahrnehmen der Angst
bleiben können, ohne sie zu unterdrücken, auszudrücken, uns in ihr zu ergehen
oder sie zu beurteilen, treten wir in einen Raum der größeren Bewusstheit ein.
In diesem ruhigen Raum können die Gedanken und Empfindungen der Angst durch uns
hindurchziehen. Auf diese Weise kann die Übung des Gewahrseins die gefrorene
Masse von Emotionen und Gedanken, die wir Angst nennen, zum Schmelzen bringen
und verwandeln. Wenn wir mit unserer Angst vertraut werden, entsteht ganz von selbst
Mitgefühl und macht die Aufgabe leichter. Damit bringen wir ein Gefühl der
Herzensgüte in unser Üben. .
Wenn wir die Angst im gegenwärtigen Augenblick
wahrnehmen - und alle unsere Überzeugungen und Urteile über sie aufgeben -,
werden wir feststellen, dass sie selten unerträglich ist. Bleiben wir wirklich
ganz beim physischen Wahrnehmen der Angst, dann erleben wir vielleicht einen
tiefen und durchdringenden Frieden und empfinden die Weite und Liebe, die
erblühen, wenn die Angst sich von sich aus verwandelt. Wenn die
Undurchlässigkeit der Angst durchlässig wird, fließt die Essenz des Lebens
einfach und frei.
Uns zu öffnen birgt natürlich das Risiko, uns
irgendeiner vermeintlichen Gefahr ausgesetzt zu sehen. Obwohl wir nicht immer
bereit sind, diesen Preis zu zahlen, nimmt unsere Bereitwilligkeit, uns auf die
Angst einzulassen, in diesem vierten Stadium zu. Wir können mit jeder Art von
Angst üben, von der großen Angst, die sich bei einer bedrohlichen medizinischen
Diagnose einstellt, über die mittlere Angst bei einem unerwarteten Geldverlust
bis hin zu der kleinen, fast unmerklichen Angst, die wir erleben, wenn wir
einen unangenehmen Telefonanruf tätigen. Wir fangen immer mehr an zu
registrieren, wo wir einfach nur auf Bequemlichkeit oder Entrinnen aus sind,
und wir lernen langsam, jeden Augenblick der Angst als eine weitere Chance zum
Üben zu sehen.
Das ist das fünfte Stadium im Umgang mit der Angst.
Wir betrachten sie als Signal, das uns anzeigt, wo wir uns festgefahren haben,
wo wir uns selbst behindern und uns dem Leben öffnen können. Ist uns
beispielsweise klar, in welchem Ausmaß Angst eine Rolle in unseren Leistungen
spielt und wo wir die Angst vermeiden wollen, uns zu blamieren? Sehen wir bei
der Untersuchung unserer Beziehungen, wie oft wir dabei die Angst vermeiden
wollen, zurückgewiesen oder nicht geschätzt und geliebt zu werden? Können wir
diese Situationen benutzen, um auf unsere Ängste bereitwillig zuzugehen, was
zweifellos erfordert, offen für das Unbekannte zu sein? Um wirklich zu erleben,
was Angst ist, können wir nicht gleichzeitig an dem Wunsch festhalten, dass sie
weggehen möge. Wir können sie nicht einmal »Angst« nennen, denn das ist einfach
nur ein.begrifflicher Filter zwischen uns und unserer Erfahrung.
Im fünften Stadium des Umgangs mit der Angst
beschließen wir vielleicht, uns unseren Ängsten zu stellen. Vielleicht machen
wir sie sogar ausfindig. Aber wir haben die Hoffnung begraben, sie im
konventionellen Sinn zu überwinden oder frei von ihnen zu sein. Vielmehr werden
wir danach streben, einfach die Wahrheit der Angst kennen zu lernen und
herauszufinden, was jenseits unseres schützenden Kokons liegt.
Häufig nehme ich mir einen ganzen Tag, um zu üben,
zur Angst Ja zu sagen. Sobald ich auch nur einen Anflug von Beklemmung spüre,
übe ich mich darin, auf die Angst zuzugehen, nicht mit der Schwere »meines
Leidens«, sondern vielmehr mit einer gewissen Leichtigkeit des Herzens, die
daher rührt, dass ich die Angst lediglich als eine menschliche Konditionierung
betrachte, von der niemand verschont bleibt. Wie könnten wir ohne diese
Leichtherzigkeit je über unseren schützenden Kokon hinausgehen?
Die Angst zu transformieren bedeutet nicht, dass
wir keine Angstreaktionen mehr haben, sondern dass wir diese Reaktionen nicht
länger für das halten, was wir sind. Darum geht es beim Üben: Wir lernen, der
Überzeugung, dass unsere fest gefügten Reaktionen das sind, was wir sind,
keinen Glauben mehr zu schenken. Unsere wahre Identität ist viel größer als
irgendeine unserer konditionierten Angstreaktionen. Wenn wir die Angst wirklich
wahrnehmen können, durchschauen wir diese falsche Identifikation und erhaschen
vielleicht den Blick auf ein weitaus größeres Gefühl des Seins.
Ich bin noch nicht am Ende meines Übungswegs mit
der Angst angelangt. Ich bin bestimmt nicht frei von Angst, geschweige denn von
dem Glauben, dass ich frei von Angst sein sollte. Aber zum größten Teil wird
mein Leben nicht mehr von dem lebenslangen Tunnel der Angst bestimmt, der mich
beherrscht hatte. Dieser Tunnel schien lange Zeit so wirklich, dass ich nie
wirklich geglaubt hätte, jemals aus ihm herauszutreten. Wenn man
berücksichtigt, wie lange ich mich schon darum bemühe, muss ich wohl sagen,
dass ich jemand bin, der langsam lernt, aber der Ausdauer beweist. In der
Rückschau sehe ich, dass es keine Fehler gab. Die nebulösen Missverständnisse
und fehlgeleiteten Bemühungen sind alle ein notwendiger Bestandteil des
Übungswegs.
Wenn heutzutage Angst in mir hochkommt, zusammen
mit dem Wunsch meines Kopfes, dass sie vergehen möge, erkenne ich meist auf der
Stelle, was geschieht. Versuche ich, sie loszulassen? Selten. Das wäre einfach
nur ein weiterer Versuch, sie loszuwerden und meinem Leben aus dem Weg zu
gehen. Stattdessen atme ich ins Herz und lade die Angst mit der
Bereitwilligkeit ein, ihre Realität und Beschaffenheit zu spüren. Gleichzeitig
weiß ich jedoch, dass sie nicht ich ist. Mein Herz mag klopfen und mein Magen
mag sich flau anfühlen, was bloß konditionierte Reaktionen auf eine
vermeintliche Gefahr sind. Aber es gibt auch eine Leichtigkeit, eine Weite,
durch die man die Angstkonditionierung wahrnehmen kann. Wenn wir uns bewusst
sind, wird der feste Block der Angst durchlässig. Und was bleibt? Einfach das
Leben selbst, mit einem immer größeren und weiteren Gefühl des Seins.
[aus Ezra Bayda, Zen sein – Zen leben, Goldmann Arkana, München 2003. S. 107ff.]
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