Montag, 29. Oktober 2012

Narzißmus



Die Angst vor der Liebe

Europa verdankt den Griechen viele Mythen. So den von Narziss, dem jungen Mann, der sich erst verlieben konnte, als er im Wasser sein Spiegelbild sah. Narziss war so von sich einge­nommen, dass er alle zurückwies, die seine Zuneigung wünschten. Als eine Nymphe daher die Götter anrief, er möge niemals glücklich sein, erhörte sie die Rachegöttin Nemesis und strafte Narziss mit eiern Fluch der Selbstliebe.

Heute ist unsere Gesellschaft narzisstisch, diagnostiziert der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz („Die narzisstische Gesellschaft, Ein Psychogramm“, Verlag Beck, 2012): Sie lenkt sich ab mit Konsum, giert nach Bewunderung und will eigenes Unglück nicht sehen.

Von einer narzisstischen Störung sprechen wir Psychotherapeuten, wenn sich bei einem Menschen Streben nach Großartigkeit mit Überempfindlichkeit gegenüber Kritik, Selbst­bezogenheit und Mangel an Einfühlung in andere paart.

Bekommt ein Kind nicht die Anerkennung, die es braucht, kann es keinen gesunden Narzissmus, kein Selbstwertgefühl entwickeln. Narzissten, meint Buchautor Maaz, haben Liebesmangel erlebt und wollen an ihn nicht erinnert werden. Daher sperren sie sich zu fühlen und haben Angst vor der Liebe. Sie wähnen sich großartig, größer, als sie sind, oder auch klein und minderwertig.

Um ihr schwaches Selbstwertgefühl zu stärken, streben Narzissten nach Perfektion. Sie versuchen, andere Menschen dazu zu bringen, sie zu bewundern, und durch Erfolg, Schönheit, Macht die lebensnotwendige Aufmerksamkeit zu erlangen. Gelingt ihnen dies, bringen sie es leicht zu großer Anerkennung, während die innere Leere bleibt. US-Popstar Michael Jackson ist ein tragisches Beispiel.
Beschäftigt mit sich selbst, sieht der Narzisst die Mängel der anderen, nicht die eigenen. Er entwertet andere Menschen und wertet sich selbst auf. Er kritisiert, aber darf nicht kritisiert werden. „Die Kränkbarkeit ist die Achillesferse der narzisstischen Störung“, schreibt Maaz. An Politikern beobachtet er, dass sie Kränkungen abwehren, indem sie alles, was sie tun, zum Erfolg erklären und andere Parteien abwerten.

Den frühen Mangel des Narzissten können heilsame Beziehungen ausgleichen, zum Beispiel wenn,eine aufopfernde Frau ihren narzisstischen Mann erträgt. Zur Therapie kommt dieser nur, wenn er von seinem Gefühl von Grandiosität in eine Depression kippt oder wenn er leidet, weil andere sich ihm entziehen.

Ein Narzisst hat es äußerst schwer, ehrlich zu sich selbst sein. Denn dazu muss er seiner Wut und seinem Schmerz begegnen. Und Milde und Einfühlung gegenüber sich und anderen Menschen lernen.

Prof. Ulfried Geuter in der Beilage zur Welt am Sonntag vom 28.10.2012
(auch hier zu finden:
- Narziss oder die Angst vor der Liebe, Gesund-Magazin, 24.10.2012) 
siehe auch:

(3sat) delta vom 10.01.08: Narzissmus im Alltag [5:13]


Veröffentlicht am 03.03.2012


Narcissistic Personality Disorder: A Portrait [12:07]

Hochgeladen am 12.09.2011
Clinical psychologist Joseph Burgo uses film clips to illustrate the prominent symptoms of narcissistic personality disorder. Burgo is the author of THE NARCISSIST YOU KNOW: DEFENDING YOURSELF AGAINST EXTREME NARCISSISTS IN AN ALL-ABOUT-ME AGE.

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http://www.afterpsychotherapy.com/nar...


Die Symptomatik besteht weniger In klar umschriebenen und vom Patienten benennbaren Symptomen, sondern mehr in vagen Gefühlen innerer Leere, Depression, Sinnlosigkeit und in einer starken Kränkbarkeit und Schamanfälligkeit, also in schweren Selbstwertstörungen. Zur Unterscheidung von ähnlichen Klagen bei klassischen Neurosen bedarf es jedoch des Studiums der spezifischen Übertragungsunterschiede und der anders gelagerten Gegenübertragungsgefühle, die im Analytiker hervorgerufen werden. Leitseil der Diagnose ist also weniger die deskriptive Symptomatik, sondern die Beziehungsfähigkeit des Patienten.

Kohut sieht diese Störung in einem primären Defekt der Selbstentwicklung, der in eine Fixierung an das archaische Größen-Selbst des Kindes bzw. in eine Fixierung an die archaisch idealisierte Eltern- Imago (s. Kap. C. 1d) mündet. Diese blockierten, nach Kohut aber an sich normalen Entwicklungsstadien des primitiven Narzißmus werden entweder verdrängt (horizontale Spaltung) oder durch Verleugnung vom Real-Selbst abgetrennt (vertikale Spaltung). Größenphantasien können dann neben tiefen Minderwertigkeitsgefühlen als scheinbar getrennte Persönlichkeitsanteile nebeneinander bestehen bleiben, zwar bewußt, aber ohne Einsicht in deren Widersprüchlichkeit, sukzessiv erlebt, aber jedesmal mit Absolutheitscharakter. Um sich vor dem Umschlag der Größenphantasie in das Gefühl innerer Leere defensiv zu schützen, bedarf der narzißtisch Gestörte in seinem ständigen Nachholbedarf nach Spiegelung, Widerhall und narzißtischer Zufuhr ständig bewundernder Außenobjekte zur Hebung seines Selbstwertgefühls, deren er sich genau so »egozentrisch« bedient, wie hierzu oft suchtartig ein Gehabe von Pseudovitalität, sexuellem Agieren in Form von Promiskuität und Perversion oder der Gebrauch von Drogen eingesetzt wird, was jedoch nur kurzzeitig die Depression und Apathie zu lindern vermag. Weniger defensiv als kompensatorisch können besondere Begabungen und Fähigkeiten in wissenschaftlicher oder künstlerischer Kreativität und Produktivität entwickelt und eingesetzt werden, die eine sozial akzeptable Verarbeitung ermöglichen, der aber – da es sich um Kompensationen handelt – oft die dauerhafte Freude und echte Befriedigung abgeht. Kohut unterscheidet narzißtische Persönlichkeitsstörungen von narzißtischen Verhaltensstörungen: bei ersteren geschieht das defensive Verdecken mehr autoplastisch durch Phantasien (Hypochondrie, Depression, Überempfindlichkeit gegen Mißachtung), bei letzteren mehr alloplastisch durch promiskuöses und sadistisches Verhalten, Perversion, Straffälligkeit oder Sucht.

Kernberg sieht diese Struktur ebenfalls in einer Störung des Selbstwertgefühls begründet, die auf einem pathologischen Größen-Selbst beruht. In Abhebung von Kohut sieht er jedoch darin nicht einfach eine persistierende normale, aber blockierte Entwicklungsstufe des Kindes, sondern ein komplexes pathologisches Verschmelzungsprodukt zwischen Anteilen des Real-Selbst, des Ideal-Selbst und der Idealobjekte, das unter dem Einfluß dominierender, kalter, narzißtischer und zugleich überfürsorglicher Mütter entstanden ist, die oft ein begabtes Kind zu ihrem Eigenbesitz hochstilisiert haben, ohne es als Eigenwesen wirklich zu lieben. Das Gefühl, im Grunde ungeliebt zu sein, wird daher vom Kind abgewehrt durch die Überzeugung, etwas Besonderes zu sein mit der entsprechenden Sucht nach Größe und Bewunderung durch andere bei gleichzeitiger verächtlicher Entwertungstendenz anderen gegenüber. Im Grunde muß das Größen-Selbst vor allem die frühkindlichen Wut- und Neidgefühle in Schach halten, erfüllt also eine Abwehrfunktion gegen die Gefühle der Ohnmacht. Kernberg sieht also den pathologischen Narzißmus durchaus in Zusammenhang mit Triebfaktoren, als Abwehr gegen oral-aggressive Impulse und als ein durch Triebimpulse, z. B. unneutralisierte Aggression verformtes Phänomen (Fehlentwicklung), das nicht einfach dem kindlichen Narzißmus entspricht und nur anachronistischen Charakter hat (Entwicklungs-Blockade).

Daraus resultieren die beträchtlichen Störungen in den Objektbeziehungen: solche Menschen haben wenig Empathiefähigkeit für die Gefühle anderer, sind weitgehend liebesunfähig, mißtrauisch gegen Abhängigkeiten und im Verhalten oft ausbeuterisch und parasitär. Zu den von ihnen idealisierten Menschen besteht keine wirkliche Objektbeziehung: da diese nur als Erweiterung des Selbst erlebt und daher narzißtisch geliebt werden, also nur insoweit wichtig sind, als sie der Selbstliebe dienen, werden sie bei Enttäuschung fallen gelassen »wie eine heiße Kartoffel«. Die innere Formel solcher Menschen charakterisiert Kernberg so: »Ich brauche ja gar nicht zu fürchten, abgelehnt zu werden, weil ich meinem Idealbild so entspreche, wie ich es müßte, um von der Idealperson, an deren Liebe mir liegt, überhaupt geliebt werden zu können. Nein, diese ideale Person und mein eigenes Ideal und mein wirkliches Selbst sind ein und dasselbe; ich bin selbst mein Ideal, und damit bin ich viel besser als diese Idealperson, die mich hätte lieben sollen, und brauche niemanden.«

Im Gegensatz zu Borderline-Störungen, deren Selbst für eine stabile Übertragung nicht ausreicht, können narzißtische Störungen meist mit Psychoanalyse behandelt werden, da sie ein integriertes, wenn auch pathologisches Größen-Selbst ausgebildet haben. Kohut hat typische Übertragungsformen dieser Patienten beschrieben (narzißtische Übertragungen). Der Analytiker wird nicht wie bei den klassischen Neurosen als eigenständiges Gegenüber erlebt, sondern entweder über lange Zeit idealisiert (idealisierende Übertragung) oder als unabgegrenzter Teil des eigenen Selbst (Verschmelzungs- Übertragung), zumindest als wortlos seelenverwandt (Zwillings-Übertragung) oder als die gute Mutter der Kindheit (Spiegel-Übertragung) erlebt, jedoch als Eigenpersönlichkeit kaum wahrgenommen. Auch Kernberg betont die grundsätzliche Analysierbarkeit, sofern es sich nicht um eine narzißtische Persönlichkeit mit manifestem Borderline-Niveau handelt, für die dann eine modifizierte analytische Therapie in Kombination mit stützenden Verfahren notwendig wird.


aus Elhardt, Siegfried; Tiefenpsychologie, Eine Einführung, Urban Taschenbücher, 
10. Aufl., 1986

siehe auch:


- 12. Narzissmus und Störungen des Selbst (aus: Jens León Tiedemann, Die intersubjektive Natur der Scham, Dissertationen Online, FU Berlin, 04.07.2007, PDF)
- Grundpositionen narzisstischer Theorie- und Therapiekonzepte (Axel Krefting, SAP-Zeitung Nr. 8, Februar 2004, veröffentlich bei Psychoanalyse Salzburg, PDF)
- Heinz Kohut’s Narzissmustheorie (Judith Valk, Werkblatt – Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, 3/4/5-1985, PDF)
- Grandiosität, Größen-Selbst, das grandiose Selbst-Objekt und die narzisstische Wut (Willy Breyvogel, Universität Duisburg-Essen, Vorlesung vom 26.01.2004)
- Ichhaftigkeit und Narzißmus (Margit Fally, ÖAGP-Informationen 8. Jg. (1999),2/99, PDF)

aktualisiert am 28.12.2015