Die kleinen Momente bewussten Seins setzen Freude frei. Gewahrsein setzt Freude frei, bewusstes Erleben trägt Freude in sich. Es tut so gut, wenn der Geist für einen Augenblick frisch und geeint ist, völlig da. Wer sich viele solche wohltuenden Momente schenkt, hat nie genug vom Meditieren! Vermutlich ist es das Nichtwollen, das dabei besonders wohltuend ist - absichtsloses, anstrengungsloses Gewahrsein.
Das ist also
anders, als wenn wir uns, um unabgelenkt zu bleiben, auf etwas konzentrieren,
was normalerweise mit einer Anstrengung verbunden ist. Hier hingegen geht es um
ein unabgelenktes Sein, das sich von selbst einstellt, wenn die Mechanismen,
gegen die wir üblicherweise ankämpfen müssen, um konzentriert zu bleiben,
außer Kraft gesetzt sind. Es gibt niemanden mehr, der sich für verwickelnde
Gedanken interessiert. Es gibt kein Interesse am Kommentieren, am Überlegen,
was morgen kommt, am Nachdenken, was gestern war. Wenn das alles wegfällt und
uns eine panoramische Motivation »beseelt«, ein offenes Herz, in dem alle, wir
selbst inbegriffen, Platz haben, dann können wir anstrengungslos unabgelenkt
sein. Zudem gibt genau dieses anstrengungslose Sein die Kraft, so gewahr zu
sein.
Wenn
Meditieren anstrengt, können wir uns fragen: »Was strengt eigentlich so an?«
Dann bemerken wir die Muster des Wollens und Befürchtens. Etwas erreichen,
verwirklichen oder sein zu wollen und die damit einhergehenden Befürchtungen,
es nicht zu erreichen oder zu sein - das ist anstrengend!
Offenes
Gewahrsein ist wie ein erfrischender Quell oder Brunnen.
Nicht, dass
wir deswegen etwa nicht mehr schlafen müssten, aber Gewahrsein wirkt
vitalisierend und nährend und wird als zutiefst wohltuend erlebt. Sich nach dem
Meditieren zu sehnen, besonders wenn wir müde sind, zeigt, dass wir auf
wohltuende Weise meditieren. So können wir sogar abends noch in die Frische
finden, wenn wir
nicht mit
Absichten meditieren, die uns zusätzlich ermüden. Und Karmapa schreibt weiter:
»übe dich mit zunehmender Gewöhnung darin, unter keinen Umständen – seien sie gut oder schlecht, [angenehm oder unangenehm,} umgeben von vielen oder von wenigen Menschen [oder auch ganz allein] – von diesem klaren, nicht fassbaren Gewahrsein frei von Anhaften abzuschweifen.«*
Diese
Instruktion kann dazu verleiten, an der Weite dieses Gewahrseins zu haften,
weil wir den weiten Geist so genießen, dass wir nur in dieser Weite bleiben
wollen und das eigentliche, konkrete Erleben als störend erleben. Die Präzision
des Gewahrseins finden wir jedoch in genau diesem unmittelbaren, direkten
Erleben - also wirklich mitzubekommen, wie es ist zu spüren, zu hören, zu
sehen, zu sprechen, zu riechen, zu schmecken, zu denken usw. Es ist wichtig,
sich dem Erleben zuzuwenden und nicht in innere Schutzräume zu flüchten, wo uns
das Leben nicht mehr aufsucht. Wenn wir eine Ablehnung gegenüber den
Erfahrungen der sechs Sinne spüren, dann hilft es, bewusst geistige Bewegungen
einzuladen: zu denken, zu fühlen und
dabei gewahr
zu bleiben.
Wenn wir
bemerken, dass der Körper sich beim Sitzen versteift,
können wir
bewusst eine kleine Bewegung machen, die aus der Fixierung heraushilft. Das mag
zwar etwas übertrieben sein, aber man kommt dadurch mit Sicherheit aus der
Starre heraus. Das Gleiche gilt für den Geist: Wenn wir spüren, dass eine Art
innere Verfestigung eingesetzt hat, dann können wir absichtlich geistige
Bewegung erzeugen, seien es Gedanken, Bilder oder dergleichen, um aus der
Starre und der Abwehr
herauszukommen.
(aus: Tilmann Lhündrup Borghardt, Fred von Allmen, Ursula Flückiger, Mahamudra und Vipassana: Gewahr Sein. Retreat-Unterweisungen, Norbu Verlag, Badenweiler, Mai 2015, S. 102f.)
siehe auch:
- Mahāmudrā – Erleben statt Bewahren (Post, 08.12.2017)