Mahamudra (skt.; tib.: phyag rgya chen po; auch: Chag Chen; deutsch: Großes Siegel bzw. Großes Symbol) ist ein zentraler Begriff in den Schulen der „Neuen Übersetzungen“ (Sarma) des tibetischen Buddhismus.
Mahamudra bezeichnet in diesen Schulen (zu denen die Kagyü-, Sakya- und Gelug-Schule zählen) die höchsten buddhistischen Lehren als die „Grundlage“, auf welcher die Meditationspraxis fußt; die auf diesen Lehren beruhende Praxis selbst als den „Pfad“; und die durch diese Praxis erreichte Erleuchtungserfahrung als die letztlich erreichte „Frucht“. Man spricht daher auch vom „Grundlagen-, Pfad- und Frucht-Mahamudra“.
Die Lehre der Mahamudra basiert auf verschiedenen Stufen meditativer Praxis, den sogenannten „Vier Yogas der Mahamudra“:
Es wird gesagt, dass durch diese vier Stufen der Praktizierende die vollständige Verwirklichung der Mahamudra erlangt. [aus Mahamudra, Wikpedia, abgerufen am 08.12.2017]
- Die Entwicklung eines einsgerichteten Geistes,
- Die Transzendierung konzeptueller Vorstellungen,
- Die Kultivierung der Sicht, dass alle Phänomene von grundlegend nichtdualer Natur, „ein Geschmack“ sind,
- Die Frucht des Pfades, der jenseits der Anstrengung der Meditation liegt.
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Um nach einer schönen meditativen Erfahrung nicht in meditative Starre zu fallen, richten wir uns einfach wieder auf die gegenwärtige Erfahrung aus. Wir können uns dazu den Impuls geben: »Vergangen ist vergangen, die Erfahrung von eben ist vorbei und ich bin einfach so mit dem, was jetzt ist.« Denn sonst finden wir uns schnell dabei wieder, dieses Fließende, Offene, das uns so gut getan hat, festhalten zu wollen. Vermutlich hat das jeder schon erlebt. Wenn das geschieht, sind wir nicht mehr im Erleben, sondern im Bewahren. Das ist das Ende des frischen Gewahrseins und nicht mehr Mahāmudrā. Wir versuchen, unsere Meditation zu konservieren. Übertrieben ausgedrückt, werden wir zu einer Meditationsleiche – wir mumifizieren unseren Geisteszustand. Ich selbst bin in meinem ersten Retreat offenbar monatelang in solch ein bewahrendes Meditieren gerutscht. Zum Glück hat mich Gendün Rinpoche darauf hingewiesen. Man erlebt dabei scheinbar offene, ruhige Geisteszustände, die aber nicht wirklich frisch sind, da es subtil um ein Bewahren der Ruhe geht. Sinneseindrücke und andere geistige Bewegungen werden dabei ausgeklammert. Frische Gewahrseinspraxis hingegen bezieht alles mit ein, beim sitzenden Meditieren wie auch beim Handeln.
Auch beim Sprechen kann man sich üben, dieses freie Gewahrsein wachzuhalten, ohne etwas zu erwarten oder zu befürchten, ohne sich in etwas zu verstricken. Das kann uns sehr dabei unterstützen, keine Angst vor anderen Menschen oder vor Fehlern zu haben. Es geht darum, alles zu nehmen, wie es ist, ohne Kommentar. Sein, mit einer klaren inneren Ausrichtung, die durch uns wirkt, ohne dass es ein wollendes Ich braucht. Diese liebevoll wissende innere Kraft, die alle Situationen gestaltet und alle einbezieht, ist Bodhicitta. Es ist ein liebevolles Gewahrsein, offen und empfindsam, das weise durch uns wirkt. Wir könnten es vielleicht so ausdrücken, dass wir zum Werkzeug dieses Gewahrseins werden – das normale Ich wird zum Werkzeug dessen, was weiter, unbesorgter und offener ist als das gewöhnliche Selbst.
Der neunte Karmapa schreibt zu der Gewahrseinspraxis nach der formellen Meditation:
»Bleibe zunächst unabgelenkt [in diesem nicht greifenden Gegenwartsbewusstsein] solange du kannst: für die Dauer, in der du einen Bissen Nahrung oder eine Schluck Tee zu dir nimmst, ein Mantra zitierst oder nach dem Aufstehen [von der Meditation] drei Schritte gehst.«Wenigstens für drei Schritte – wie oft haben wir das schon gehört und wie oft vergessen wir es! Gewahr sein für einen Schritt, ein Einatmen, ein Ausatmen, einmal Schlucken, einmal den Kopf nach rechts wenden, ihn wieder in die Mitte zurück gleiten lassen. Ganz kurze Praxisperioden, so kurz, dass wir uns nicht verspannen.
(aus: Tilmann Lhündrup Borghardt, Fred von Allmen, Ursula Flückiger, Mahamudra und Vipassana: Gewahr Sein. Retreat-Unterweisungen, Norbu Verlag, Badenweiler, Mai 2015, S. 96f.)
Da ist beispielsweise die Geschichte des Bahiyers Daruciriyo, der, zutiefst beunruhigt ob der Kürze und Ungewissheit des Lebens und zugleich an der Wirksamkeit seiner eigenen spirituellen Übung zweifelnd, den Buddha bei dessen Almosengang um Belehrung bittet, ja ihn geradezu bedrängt. Schließlich erhält er Antwort:
„Was das angeht, Bahiyer, kannst du dich so üben:
Gesehenes gelte dir nur als Gesehenes,
Gehörtes nur als Gehörtes,
sinnlich Erfahrenes nur als sinnlich Erfahrenes,
Erkanntes nur als Erkanntes.
So kannst du dich üben, Bahiyer.
Wenn dir Gesehenes nur als Gesehenes,
Gehörtes nur als Gehörtes gelten wird,
sinnlich Erfahrenes nur als sinnlich Erfahrenes,
Erkanntes nur als Erkanntes,
dann bist ‚du‘ nicht ‚dort‘, Bahiyer,
dann ist ‚das‘ nicht ‚deine‘ Sache,
dann Bahiyer, bist ‚du‘ weder ‚hier‘ noch ‚jenseits‘ noch ‚dazwischen‘:
Das eben ist das Ende des Leides.”
Als der Bahiyer Daruciriyo vom Erhabenen diese kurze Lehrdarlegung erhalten hatte, wurde sein Herz ohne Anhangen von Beeinflussung frei.« Er hatte die höchste Erkenntnis und damit ‚Erleuchtung‘ oder ‚Nirvana‘ erlangt.
(Gekürzt nach: Verse zum Aufatmen. Die Sammlung Udana und andere Strophen des Buddha und seiner erlösten Nachfolger. Aus dem Palikanon übersetzt von Fritz Schäfer, Verlag Beyerlein und Steinschulte, Herrnschrot o.J. (1999), S. 12f.)
siehe dazu auch:
Die Dakini bittet zum Tanz – eine Gelegenheit, sich von Wahrheit verführen zu lassen
von Rüdiger Dhammaloka Jansen (veröffentlicht 2002)
siehe auch:
- Meditation: Ausstieg aus dem Verstricktsein mit den drei Zeiten (Post, 01.12.2017)