Samstag, 9. April 2011

»Tätlicher Angriff« – Wie Sprache Realität herstellt

Das jetzige Opferentschädigungsgesetz (OEG) trat am 7. Januar 1985 in Kraft. Es löste das bisherige OEG vom 15. Mai 1976 ab.
Der Leitgedanke des Gesetzes ist die Verantwortung des Staates, seine Bürger vor Gewalttaten und Schädigungen durch kriminelle Handlungen zu schützen, da er der Träger des Gewaltmonopols und der Verbrechensverhütung und -bekämpfung sei. Versagt dieser Schutz, so haftet der Staat.
Wenn die Opfer von Gewaltdelikten erwerbsunfähig, hilflos oder pflegebedürftig werden, so muss ihnen der Staat Schutz gewähren.
Wichtigste Regelung ist die Anspruchsklausel in § 1 Abs. 1 OEG. Anspruch auf Versorgung hat demnach, wer durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriff an der Gesundheit geschädigt ist. (Genaueres bei Wikipedia)

»Der Begriff des tätlichen Angriffs ist dem Strafrecht entliehen und wird dort in den §§ 113, 121 StGB sinngleich mit dem in § 125 StGB benutzten Begriff der "Gewalttätigkeit" verwendet. Enger als der allgemeine Gewaltbegriff bezeichnet dieser die Entfaltung, also das Inbewegungsetzen physischer Kraft unmittelbar gegen eine Person, und zwar als aggressives Handeln.
Ein Angriff erfordert bestimmungsgemäß daher eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende Einwirkung.« (Unterstreichung von mir, Quelle: Global Help)

Der aktuelle Fall
- im Sozialticker
- auf der Internetpräsenz der Anwaltskanzlei Ferner-Alsdorf

Ich zitiere aus kostenlose-Urteile.de

»Im zugrunde liegenden Fall hatte die inzwischen 60-jährige Klägerin mehrere Monate mit einem alkoholkranken Mann zusammengelebt. Ab Oktober 2001 versuchte sie, diese Beziehung zu beenden. Der Mann akzeptierte dies nicht und stellte der Klägerin über zwei Jahre lang nach. Er lauerte ihr immer wieder auf, um sie zu verfolgen und mit ihr zu sprechen, rief sie häufig zu jeder Tages- und Nachtzeit an und sandte ihr SMS, Briefe, Postkarten und "Geschenke". Darüber hinaus veranlasste er missbräuchlich u.a. Einsätze von Polizei, Notarzt und Feuerwehr zur Wohnung der Klägerin. Wiederholt kam es zu Bomben- oder Todesdrohungen des Mannes gegenüber der Klägerin und ihren Familienangehörigen. Obwohl gegen ihn zwei gerichtliche Schutzanordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz ergangen waren, ließ er nicht von der Klägerin ab, bis er schließlich wegen Bedrohung und mehrfachen Verstoßes gegen die Schutzanordnungen zu Freiheitsstrafen verurteilt wurde. Über den gesamten Zeitraum der Nachstellungen kam es – abgesehen von einem Griff an den Arm mit Herumreißen der Klägerin vor einem Geschäft – nicht zu körperlichen Übergriffen.
[..]
Die Klägerin wechselte infolge der jahrelangen Nachstellungen zweimal ihre Wohnung und ließ Auskunftssperren (Adresse, Telefonnummer) einrichten. Sie erkrankte schließlich an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Erschöpfungs- und Angstzuständen, Nervosität, Konzentrations- und Schlafstörungen; diese Erkrankung führte bei ihr zur Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft.«

Man wird, wenn man den Sachverhalt kennt, erst einmal den Kopf schütteln. Aber es ist nun einmal in der deutschen Rechtsprechung so, daß sich der Begriff »tätlicher Angriff« nur auf den Körper bezieht.

Ich zitiere aus Goleman, Emotionale Intelligenz:

»Wer Opfer eines verheerenden Traumas geworden ist, ist biologisch nicht mehr derselbe wie vorher«, erklärte mir Dr. Dennis Charney. Charney, ein Yale Psychiater, ist Direktor der klinischen Neurowissenschaft am National Center. »Ob es der endlose Schrecken des Gefechts war, ob Folterung oder wiederholte Mißhandlung in der Kindheit oder ein einmaliges Erlebnis wie etwa, daß man in einem Hurrikan gefangensaß oder bei einem Autounfall beinahe gestorben wäre, spielt keine Rolle. Jeder unkontrollierbare Stress kann dieselbe biologische Wirkung haben.«
Das entscheidende Wort ist »unkontrollierbar«. Wenn man in einer Katastrophensituation etwas tun, eine gewisse, noch so geringe Kontrolle ausüben kann, geht es einem emotional weit besser, als wenn man völlig hilflos ist. Es liegt an der Hilflosigkeit, wenn man sich von einem Ereignis subjektiv überwältigt fühlt. Dr. John Krystal, Direktor des Laboratoriums für klinische Psychopharmakologie am National Center, erklärte mir: »Angenommen, jemand wird mit einem Messer angegriffen, weiß sich aber zu verteidigen und tut etwas, während ein anderer in derselben Situation denkt: ›jetzt ist es aus mit mir‹. Der Hilflose ist hinterher anfälliger für PTSD. Man hat das Gefühl, daß das eigene Leben in Gefahr ist und man nichts tun kann, um ihr zu entrinnen – in diesem Moment setzt die Veränderung des Gehirns ein.«
Daß PTSD vor allem durch Hilflosigkeit ausgelöst wird, wurde in Laborversuchen mit Ratten gezeigt. Zwei Ratten sitzen in getrennten Käfigen und erhalten schwache, für Ratten aber sehr belastende Elektroschocks von gleicher Stärke. Nur in einem Käfig befindet sich ein Hebel; wird er von der Ratte gedrückt, hört der Schock für beide Ratten auf. Tage und wochenlang erhalten beide genau die gleiche Menge an Schocks. Doch die Ratte, die sie ausschalten kann, kommt ohne bleibende Zeichen von Stress durch. Nur bei der hilflosen treten die stressbedingten Gehirnveränderungen auf.