Freitag, 12. August 2016

Bertha Pappenheim: „Mir ward die Liebe nicht“

Die Psychoanalyse schuf den Mythos der Frau mit verkappten sexuellen Wünschen. Die Autorin dieses Gedichts ist die von Sigmund Freud analysierte Anna O. Zu wenig weiß man über ihr erstaunliches Leben nach der Heilung.

Worte sind wie Häuser, sie können sich ihre Mieter nicht aussuchen. Eine der unglücklichsten Einquartierungen stammt aus der Medizingeschichte: „Jede Person, bei welcher ein Anlaß zur sexuellen Erregung überwiegend oder ausschließlich Unlustgefühle hervorruft, würde ich unbedenklich für eine Hysterika halten.“

Mit dieser Entdeckung begründet Sigmund Freud 1895 seine Theorie über die decodierbare Verbindung von Körper und Seele. Es ist die Geburtsstunde der Psychoanalyse. Doch dieser Beginn beruht auf keiner haltbaren Erkenntnis, sondern schafft einen unseligen Mythos. Den Mythos der Frau mit verkappten sexuellen Wünschen. Schon vor Freud entwickelten Ärzte die Vorstellung von der wandernden Gebärmutter, griechisch hystéra. Wenn Frauen Symptome hatten, für die sich keine Erklärung fand, sie unter Lähmungen litten, Sehstörungen oder Sprachverlust, so lautete die Diagnose: Hysterie. – Es ist kein Märchen, man glaubte wirklich, die Gebärmutter geistere auf der Suche nach Sperma in Richtung Gehirn. Logisch, dass sich auf solche Suche vor allem die hystéra junger Mädchen und unverheirateter Frauen begeben musste.
mehr:
- Bertha Pappenheim: „Mir ward die Liebe nicht“ (Marion Titze, faz.net, 12.08.2016)

Die Liste von Berthas Symptomen, die sie im Laufe des Jahres 1880 entwickelt, die Breuer teilweise aus der Rückschau rekonstruiert, ist beachtlich:

Zunächst tauchen im Frühjahr 1880 – also ungefähr zu Berthas 21. Geburtstag – un­ge­klärte Ge­sichtsschmerzen mit Zuckungen auf (349 f.) (ein „Schlag ins Gesicht“?). Da Breuer dies im Zusammenhang mit der Krankengeschichte erwähnt, mag er auch hierin mit aller Vorsicht eine hysterische = psychosomatische Symptomatik ­sehen. Er konstatiert, dass die entsprechende Störung „ohne bekannte Ursache“ sei.

In einer angespannten Situation – als sie in der Nacht vom 17. zum 18. Juli 1880 beim Vater voller Angst Wache hält, an dem ein dringender medizinischer Eingriff vorgenommen werden soll – halluziniert sie im Halbschlaf („Absence“) eine Schlange, die sie abwehren möchte. Ihr eingeschlafener Arm (Drucklähmung) versagt seinen Dienst. Seither lösen Angst oder schlangenähnliche Gebilde Lähmungen des Armes aus.

In ebendieser Situation ist sie stumm vor Schreck, dann fällt ihr erst mühsam ein englischer Spruch ein. In angespannten Situationen kann sie nun oft nur noch Englisch reden oder verstehen.

Als sie am nächsten Tag angestrengt lauscht, ob sie den Doktor kommen hört, gerät sie erneut in eine Absence und bemerkt nicht, wie er das Zimmer betritt. Seither löst ängstliches Horchen Taubheit aus.

An Stelle des Vaters wird eventuell ein Totenkopf oder ein Skelett gesehen. Gehörs­halluzinationen treten auf, dass der Vater etwas sagt oder ruft, nachdem sie den Vater einmal überhört hatte. Seitdem tritt häufiger Nicht-Erkennen und Nicht-Verstehen von Menschen auf.

Bisweilen werden einzelne Gegenstände sehr groß und undeutlich gesehen. Dieses Symptom geht hervor aus einer Situation, in der Tränen das Gesehene deformieren: Sie soll eigentlich zu Hause den Vater pflegen, geht jedoch trotzdem ins Theater; in dem Pro­gramm­heft, das sie dort liest, sind einzelne Stellen durch die Tränen im Auge vergrößert, so dass das Lesen erschwert ist.

Weitere Sehstörungen treten auf: Einwärtsschielen mit Doppelbildern. Gemeinsames Ab­weichen beider Augen nach rechts, so dass die Hand immer links daneben greift. Gesichtsfeldeinschränkung, dass beispielsweise nur einzelne Blumen aus einem Strauß, einzelne Stellen in einem Gesicht gesehen werden können.

Ein Stimmritzenkrampf besteht nach unterdrückter Widerrede in einem Streit, danach wiederholt in ähnli­chen Situationen.

Zeitweilige Streck-Kontraktur (Gelenkversteifung) des rechten Armes und des rechten Beines – der Anlass sei Breuer nicht mehr er­innerlich.

Husten setzt ein, nachdem bei der Krankenwache Musik von draußen gehört wurde. Die leidenschaftliche Tänzerin wäre gerne auf der Veranstaltung, macht sich dann aber selbst Vorwürfe wegen dieses Wunsches. Dann tritt Husten wiederholt bei stark rhythmischer Musik auf.

Einmal lauscht sie nachts an der Tür des Vaters, ob sie ein Lebenszeichen von ihm vernimmt. Ihr Bruder überrascht sie und schüttelt sie heftig, worauf Taubheit eintritt. Danach lösen auch andere Formen von Geschüttelt-Werden (beispielsweise bei einer Kutsch­fahrt) Taubheit aus.

Sie sieht einmal den Hund ihrer Gesellschafterin aus einem Glas trinken, wovor sie sich ekelt. Sie unterdrückt einen Kommentar, um nicht grob zu werden. In der Folge bringt sie – in der heißesten Zeit des Jahres – keinen Tropfen Wasser mehr über die Lippen, sondern stillt den Durst sechs Wochen lang nur durch saftiges Obst. (Von dieser Situation herrührend ist die Vorstellung des Trinkens offenbar mit einem starken Ekelgefühl verbunden.)

Zu den Symptomen bemerkt Breuer: „All diese Dinge wiederholten sich einzeln, immer häufiger, aber immer noch vorübergehend und immer vor allen anderen Menschen vollständig verborgen“ (352).

Ende November 1880 wird Breuer wegen des Hustens erstmals konsultiert. Im Dezember 1880 fällt das Schielen auf. Der Patientin wird ab dem 11. Dezember Bettruhe verordnet. Daraufhin brechen einzelne Störungen deutlicher hervor, andere treten erst­mals auf:

Linksseitiger Hinterkopfschmerz, Schielen.

Sie sieht Wände auf sich einstürzen, sonstige Sehstörungen.

Lähmung des vorderen Halsmuskels, so dass der Kopf nur mit dem ganzen Rumpf bewegt werden kann.

Gelenkunbeweglichkeit und Schmerzunempfindlichkeit von rechtem Arm und Bein – Streckung, Bewegungsunfähigkeit, Drehung nach innen –, gleiche Erscheinung später am linken Bein und am linken Arm, wobei links die Finger beweglich bleiben.

Rapidester Stimmungswechsel in Extremen – Heiterkeit (selten), Angst­ge­fühl, Sehnsucht nach dem Vater, Opposition gegen (gefürchtete) thera­peutische Maßnahmen.

Halluzination von Schlangen aus Haaren, Schnüren oder ähnlichem.

Ungezo­genheiten“: Werfen von Polstern auf ihre Umgebung, Abreißen ihrer Knöpfe, Schimpfen.

Dazwischen klare Zeiten, Klagen über zwei Ichs: In dem einen Zustand ist sie trau­rig, launisch, aber relativ normal, im anderen Zustand halluzinierend, un­gezogen. Hat sich während des Wechsels von dem normalen Zustand in den anderen etwas im Zimmer verändert, so klagt sie, dass ihr die Zeit fehle, dass eine Lücke im Ablauf ihrer bewussten Vorstellung bestehe. Dies wird ihr, wenn möglich, von ihrem Umfeld abgeleugnet. Ihre Klagen, sie werde ver­rückt, versucht man zu beruhigen. (Absencen wurden erstmals beobachtet, als sie, noch außer Bett, mitten im Sprechen stecken bleibt, die letzten Worte wiederholt, um nach kurzer Zeit wieder fortzufahren.)

Es fehlen ihr Worte. Typische grammatikalische Veränderung von Patienten mit Sprachstörungen (Aphasikern) treten auf.

Das Ge­kränkt-Sein durch den Vater (Ursache unklar) führt zu dem Entschluss, nicht mehr nach ihm zu fragen – in dieser Zeit bestehen zwei Wochen lang völlige Sprachlosigkeit. Breuer schreibt, er habe Bertha „gezwungen“ (354; mittels Hypnose?), von ihm zu sprechen. Daraufhin kehrt die Sprache wieder, aber nur Englisch.

Sie zeigt Ekel vor dem Essen, nachdem Appetitlo­sigkeit aufgrund von Angstgefühlen eingetreten war. Das Essen reduziert sie auf ein Minimum.

Nachmittags tritt ein schläfriger Zustand auf. Abends klagt sie dann: „Quälen, quä­len“. Durch Wiederholung eines Stichwortes durch Breuer, das sie tagsüber selbst hatte fallen lassen (zum Beispiel „Sandwüste“), wird dann von ihr eine Ge­schichte erzählt, die ersten Sätze noch in ihrem aphasischen Jargon, im weiteren Verlauf immer besser, bis sie schließlich ganz korrekt spricht. Die Geschichten sind alle tragisch, teilweise sehr hübsch, drehen sich meist um ein Mädchen, das in Angst bei einem Kranken sitzt. Aber auch ganz andere Geschichten kommen vor. Kurz nach dem Ende der Geschichte erwacht sie und ist „gehäglich“ (behaglich), gut aufgelegt, bis sie gegen morgen, nach zwei Stunden Schlaf, in einem anderen Vorstellungskreis gefangen ist. Ist das Geschichten-Erzählen einmal nicht möglich, fehlt die Beru­higung, und am nächsten Abend müssen mehr Geschichten erzählt werden.

In dieser Zeit ist das „Beobachterhirn“ der Patientin bei allem anwesend.

Die Erscheinungen gehen bis März 1881 deutlich zurück: Die Sprachlosigkeit weicht, wobei sie vor allem Englisch redet. Abends spricht sie Fran­zösisch oder Italienisch. Für alles in Englisch Gesprochene besteht keine Er­innerung. Die Kontrakturen schwinden, das Schielen nimmt ab. Der Kopf wird wieder getragen. Am 1. April kann sie aufstehen. […]
Bertha Pappenheim entwickelt selbst den Ansatz zu ihrer Heilung, als sie sich teilweise mit ursprünglich symptomauslösenden Situationen erneut konfrontiert (Breuer & Freud, 1991, S. 57 f & S. 60). Sie führt also gewissermaßen eine „Konfrontation in vivo“ durch, um konditionierte Verbindungen zu lösen. Außerdem entlastet sie sich durch das Erzählen von Märchen. Es stellt Josef Breuers herausragendes Verdienst dar, durch einfühlsames Beobachten die heilsame Wirkung dieser Maßnahme erkannt und sie durch sein aufmerksames Zuhören gefördert zu haben. Die Erzählungen schaffen offenbar ein Ventil, um die Affekte zum Ausdruck zu bringen, die sie einerseits als übergewaltig empfindet, die sie andererseits als ‚gut erzogenes Mädchen’ nicht unbefangen aussprechen kann. Vergleichbar ist dieser Mechanismus mit einem Dampfkochtopf, der sich problemlos öffnen lässt, wenn durch ein Ventil der Druck kontrolliert abgelassen worden ist. Nach einer ersten Reduktion ihrer inneren Spannung gelingt es Bertha, die zugrundeliegenden Situationen zu berichten – dass ihr Bruder sie geschüttelt hatte, dass der Hund ihrer Gesellschafterin aus einem Wasserglas getrunken hatte, dass sie eine vermeintliche Schlange am Bett des Vaters gesehen hatte, usw. Sie kann nun unbefangener ihre eigentlichen Gefühle bezüglich dieser Situationen – Ärger, Ekel, Wut, Abneigung, Angst – zum Ausdruck bringen. Daraufhin verschwinden offenbar die entsprechenden Symptome – die Taubheit, der unüberwindliche Ekel gegen Getränke, die Lähmung. Zum Teil wird wohl von Breuer gezielt Hypnose eingesetzt, um die Erinnerung an die dem Symptom jeweils zugrunde liegende reale Situation zu beleben und sie damit bearbeiten zu können. Bertha selbst nennt diese Art der Behandlung „talking cure“. Das Heilungsprinzip, das dabei wirksam wurde, nennt Breuer „Katharsis“.
[
Berthas Symptome in: Bertha Pappenheim … und ihre Behandlung durch Josef Breuer, König Ödipus, Narziss & Co., undatiert – Hervorhebungen im Original]

 

Bertha Pappenheim: „Mir ward die Liebe nicht“

Mir ward die Liebe nicht –
Drum leb ich wie die Pflanze,
Im Keller ohne Licht.
Mir ward die Liebe nicht –
Drum tön ich wie die Geige,
Der man den Bogen bricht.
Mir ward die Liebe nicht –
Drum wühl ich mich in Arbeit
Und leb mich wund an Pflicht.
Mir ward die Liebe nicht –
Drum denk ich gern des Todes,
Als freundliches Gesicht.

Das Gedicht ist dem folgenden Band entnommen: Marianne Brentzel: „Sigmund Freuds Anna O. – Das Leben der Bertha Pappenheim“. Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 2004. 320 S., br. Vergriffen.

[im Artikel von Marion Tietze zitiert, s.o.] 


siehe auch:
- Bertha Pappenheim (1859–1936) (FrauenMediaTurm, undatiert)
- Eine diskrete Geschichte (Andreas Hartmann, FR, 25.03.2014)
- Anna O. – "Ihre Krankheit war Wien" (Interview mit Louise Hecht, Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 17.01.2011)
mein Kommentar:
Ich halte diese Art von »feministischer Wissenschaft« für überzogen und irreführend.

Der vorstehende Text ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags, der erstmals unter dem Titel Prostitutionswünsche und Rettungsphantasien – auf der Flucht vor dem Vater. Skizzen aus dem Leben einer Frau („Anna O.“ / „P. Berthold“ / Bertha Pappenheim) erschienen ist in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 44, 1990, 788-825.)
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