Mittwoch, 8. Januar 2020

Sigmund Freud – Leiden an der Kultur – Ich-Schwäche

Das Unbehagen in der Kultur ist der Titel einer 1930 erschienenen Schrift von Sigmund Freud. Die Arbeit ist, neben Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921, Freuds umfassendste kulturtheoretische Abhandlung; sie gehört zu den einflussreichsten kulturkritischen Schriften des 20. Jahrhunderts. Thema ist der Gegensatz zwischen der Kultur und den Triebregungen. Die Kultur sei bestrebt, immer größere soziale Einheiten zu bilden. Hierzu schränke sie die Befriedigung sexueller und aggressiver Triebe ein; einen Teil der Aggression verwandle sie in Schuldgefühl. Auf diese Weise sei die Kultur eine Quelle des Leidens; ihre Entwicklung führe zu einem wachsenden Unbehagen.


[Das Unbehagen in der Kultur, Wikipedia, abgerufen am 09.11.2020]

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„Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Sigmund Freud.“ Mit diesen Worten übergibt der vierte Rufer im Mai 1933 in Deutschland und im November 1938 in Österreich die Schriften des Juden Freud den Flammen.

Sigismund Schlomo Freud wird als Sohn chassidischer Juden am 6. Mai 1856 in der österreichisch-ungarischen Monarchie, in Mähren, geboren, er verstirbt am 23. September 1939 in London. Am 4. Juni 1938, im Alter von 82 Jahren, muss er seine Wohnung und Praxis in Wien, in der er seit 47 Jahren wohnte und arbeitete, verlassen. Von 16 Juden, die in der Berggasse 19 in Wien wohnten, überlebten nur drei die Konzentrationslager. Kurz vor seiner Ausreise wird Freud von der Gestapo genötigt eine Erklärung zu unterschreiben, dass er nicht misshandelt worden sei. Freud unterzeichnete und fügte hinzu: „Ich kann die Gestapo jedermann auf das beste empfehlen.“

Während andere dicke Bücher über das Leben des jüdischen Wissenschaftlers im antisemitischen Wien schreiben, notiert er selbst,: „Mein Leben ist äußerlich ruhig und inhaltslos verlaufen und mit wenigen Daten zu erledigen.“ So schmal wie seine biographische Notiz, so schmal sind die Ehrungen die ihm zu Lebzeiten zuteil werden, es sind gerade eben einmal deren zwei. 1935 wird er Ehrenmitglied der Britischen Gesellschaft für Medizin. 1930 steht er, auf Betreiben und mit Einflußnahme von Thomas Mann und Alfred Döblin, auf der Nomininierungsliste für den Goethepreis der Stadt Frankfurt. Mit 4:3, einem denkbar knappen Ergebnis und begleitet von heftigen antisemitischen Angriffen, wird ihm der Preis zu teil. Seit 1964 vergibt die Deutsche Akademie für Sprache einen Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Es ist ein Hinweis, dass Freud gut lesbar ist und Alfred Döblin, Neurologe wie Freud, schreibt über seinen Kollegen und Freund: „Man beachte den einfachen, klaren Stil; er sagt ungekünstelt und phrasenlos, was er meint; so spricht einer, der etwas weiß.“

Eine Ehrenmitgliedschaft, ein Goethepreis der Stadt Frankfurt/Main, seit 1964 ein nach ihm benannter Preis und erst 1984 wird man in Wien einen hausnummernlosen Park nach ihm benennen. Freud war zu Lebzeiten eine persona non grata, er ist es für nicht wenige heute immer noch. Zugleich aber ist er in aller Munde. Noch jeder kennt die Freud’sche Fehlleistung, den Freud’schen Versprecher – es kommt alles zum Vorschwein und vermutlich hat sich jeder schon einmal in Küchenpsychologie versucht. In der Literatur, mehr noch im Film wird heute unendlich psychologisiert und dass nicht wenige Krankheiten eine psychologische Ursache haben ist heute, nachdem das lange tabuisiert und stigmatisiert war, so unzweifelhaft wie die Tatsache, dass die Erkrankungen der Psyche eine enorme Steigerungsrate haben und zwischenzeitlich den dritten Rang unter den Krankschreibungen einnehmen. Im Amtsdeutsch heißt das nicht Krankschreibung, sondern Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die amtliche Definition von krank ist arbeitsunfähig, wobei nicht zu übersehen ist, dass die rastlose Arbeit im Hamsterrad, gelegentlich mit den Folgen eines burnouts nicht eben gesund ist.

Freud ist kein Frühstarter, seine Theorie ist kein intuitiver Geniestreich, nicht das Heureka des Archimedes, es ist das Ergebnis langer praktischer ärztlich-medizinischer und wissenschaftlicher Arbeit. Erst nach einer langen Inkubations- und Latenzzeit, 14 Jahre nach Eröffnung seiner Praxis, erst im Jahre 1900, Freud ist 44, erscheint „Die Traumdeutung“, die Gründungskurkunde der Psychoanalyse. Freud nennt diese Schrift seine via regia zur Kenntnis über das Unbewusste des Seelenlebens. 1901 in der „Psychopathologie des Alltags“ und 1905 mit „Der Witz“ zeigt er die Freisetzung von unbewussten Triebkräften, wie Unbewusstes im Alltäglichen als wirkmächtige Kraft aufscheint. Als er schließlich 1905 in den drei Abhandlungen zur Sexualtheorie verkündet, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist, und dem Unbewussten, den Trieben, und hier wiederum insbesondere der Sexualität eine hohe Bedeutung zukommen lässt und dann noch feststellt, dass Kinder Sexualität haben … Freuds wissenschaftlichen Tätigkeit ist gepflastert mit Skandalen.

Das Buch mit dem Titel „Das Unbehagen in der Kultur“, von dem heute die Rede sein soll, ist ein schmales Werk von eben mal 70 Seiten über das Thomas Mann, ein Kenner und emsiger Verwerter von Freud, Thomas Mann nannte das höheres Abschreiben, Thomas Mann urteilt in einem Brief an Freud mit höchst anerkennenden Worten: „Nur aufs Dürftigste kann ich Ihnen, im Trubel einer, Dank den Herdeninstinkten der Welt katastrophal angeschwollenen Korrespondenz (das ist 1930 geschrieben, da gab es keine email, kein face-book, kein whattsapp und kein twitter) für das außerordentliche Geschenk ihres Buches danken. Dieses Werk, dessen innerer Umfang seinen äußeren so mächtig übertrifft. (70 Seiten) Ich habe es in einem Zuge gelesen, ergriffen von einem Wahrheitsmut, in dem ich, je älter ich werde, mehr und mehr die Quelle aller Genialität erblicke.“ (Thomas Mann, Briefe, 1924-1932, S. 441)

1930 geschrieben, eine Spätschrift, auch eine Zusammenfassung dessen, was die Psychoanalyse bis dahin geleistet hat, ergänzt um die Einsicht, dass der Mensch neben dem Bedürfnis nach Lust auch eine starke Neigung zur Aggression hat. Das Buch ist zu lesen auf dem Hintergrund der geistesgeschichtlichen Entwicklung, und da muss, und den kannten sie um 1900 alle, mit Nietzsche begonnen werden: Nietzsche: „Die Verdüsterung der pessimistischen Färbung kommt notwendig im Gefolge der Aufklärung.“ Verdüsterung im Gefolge der Aufklärung, das dürfte für alle, die in der Aufklärung den Fortschritt und das helle Licht der menschlichen Zukunft sehen, ein starkes Stück sein. Freud ist Naturwissenschaftler und Positivist, Aufklärer, und ausgerechnet er bringt uns manches, mehr als manchem lieb ist, an Pessimismus über unsere Gattung bei.
mehr:
- Sigmund Freud – Leiden an der Kultur (Vortrag von Richard Dollinger, Gera, am 8. Januar 2020, Goethe-Gesellschaft, Erfurt)

Das Es, Freud nennt es auch das Lustprinzip, wird beherrscht vom Ich. Erlebbar wird das Es, wenn sich der Druck des Unbewussten in kleinen psychischen Symptomen, aber auch in Krankheit äußert oder auch in Situationen, in denen wir uns fragen, was nur in uns gefahren ist. Es ist aber nichts in uns hineingefahren, es kam aus uns heraus, was wir an Unbewusstem, Biochemischen und an Verdrängtem, Sozialem in uns aufgesammelt hatten. Freud: „Es gibt Prozesse in uns, die stärker sind als das, was Ich sagt.“ Hinzugefügt werden darf, was offensichtlich ist, dass durch unterschiedliche Sozialisation die Ich-Stärke und Ich-Schwäche individuell sehr unterschiedlich ausgebaut sind. Hinzugefügt auch: In der Sprache des Alltags heißt es: Da stand ich neben mir, ich kenne mich selbst nicht mehr, oder etwas veraltet, aber sehr schön: Sie hat sich vergessen. In der Descartschen Maschinensprache heißt es, da habe ich nicht richtig getickt, da bin ich ausgerastet, ich hatte mich nicht im Griff. Aber dann doch auffallend, häufig geht die Sprache hier direkt ins Tierreich: Ich wurde vom Affen gebissen, da ging der Gaul mit mir durch, ich wurde von der Tarantel gestochen, ich habe die Sau rausgelassen. Für das Bewusste haben wir seit Descartes die Maschinensprache, für das Unbwusste greifen wir häufig zu Metaphern aus dem Tierreich.  
[ebda – Hervorhebung von mir]

 

Sigmund Freud selbst hat sich übrigens erstaunlich zurückhaltend zu den Verheerungen der nationalsozialistischen Verfolgung geäußert. Zur Verbrennung seiner Schriften notierte er am 11. Mai, wenige Tage nach seinem 77. Geburtstag, in sein Tagebuch: „Was für Fortschritte wir machen. Im Mittelalter hätten sie mich verbrannt, heutzutage begnügen sie sich damit, meine Bücher zu verbrennen.“ Aber der weitsichtige Wissenschaftler, der als erster die Hypothese von einem menschlichen Destruktions- oder Todestrieb formuliert hat, erwies sich mit dieser Einschätzung als allzu gutgläubig. Zwar konnte er selbst sich 1938 vor der Verfolgung der Nazis noch in das Londoner Exil retten, in dem er seine letzten Lebensjahre zubrachte. Vier seiner fünf Schwestern aber wurden 1942 in nationalsozialistischen Konzentrationslagern ermordet. Die öffentlichen Bücherverbrennungen lesen sich heute als die Vorläufer der Verbrennungsöfen in Auschwitz, so wie es Heinrich Heine schon 1821 in seiner Tragödie „Almansor“ merkwürdig prophetisch formuliert hat: „Dies war ein Vorspiel nur/dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“
[Vera Kattermann,
Geschichte der Psychoanalyse: „Adel der menschlichen Seele?“, aerzteblatt.de, Mai 2013]

 

siehe auch:
- Ich-Schwäche (Wikipedia)
- Marie-Luise Althoff: Ich und Selbst (Tatjana van de Kamp, Rezension, Socialnet,  27.04.2020)
- Die Theorie der Psychoanalyse (Post, 09.03.2018)
- Das Ich-Stärke-Training (Rüdiger Lenz, nichtkampf-prinzip.de, undatiert)
- Auf dem Weg zur Ich-Stärke - Ich-Schwäche (2) (Carsten, Psychologie-Magazin, 08.02.2017)
- Ich-Schwäche (1) (Carsten, Psychologie-Magazin, 26.10.2016)
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