Samstag, 8. November 2014

Verleugnung

Ein viertes gängiges Mißverständnis, das in der sogenannten Transpersonalen Psychologie weit verbreitet ist, ist der Glaube, Selbst-Losigkeit [gemeint ist der Zustand der Erleuchtung, Anmerkung von mir] sei eine Entwicklungsstufe jenseits des Ego — demnach müsse das Ich zuerst existieren, um dann aufgegeben zu werden. Dies ist nur die Kehrseite des Glaubens, vor der Entwicklung des Ich habe es einen Zustand der Ich-Losigkeit gegeben; nur folgt hier die Ich-Losigkeit angeblich auf das Ich. Dieses Mißverständnis ist noch am ehesten zu erklären über die Verleugnung, bei der beunruhigende Emotionen beiseite geschoben werden, als seien sie nicht mehr relevant. Sie werden behandelt, als wären sie nur eine Stufe, die man durchlaufen müsse.

Dieser Ansatz meint, daß das Ich zwar für die Entwicklung wichtig sei, dann aber doch irgendwie transzendiert oder zurückgelassen werden könne. An diesem Punkt gibt es eine unglückselige Begriffsverwirrung. Hören wir zunächst, was der Dalai Lama zu diesem Punkt zu sagen hat: »Selbst- Losigkeit bedeutet nicht, daß etwas, das es in der Vergangenheit gab, nunmehr nicht-existent wird. Vielmehr ist diese Art von ›Selbst‹ etwas, das nie existiert hat. Die Aufgabe besteht darin, etwas als nicht- existent zu erkennen, das schon immer nicht-existent war.«4 Die buddhistische Einsicht zielt nicht auf das Ich im Freudschen Sinne, sondern auf das Selbst-Konzept, die Selbstdarstellungs-Komponente des Ego, auf die tatsächliche innere Erfahrung des eigenen Selbst.


Nicht das ganze Ego wird transzendiert; die Selbstdarstellung wird als etwas enthüllt, dem die konkrete Existenz fehlt. Es ist nicht so, daß etwas Wirkliches beseitigt würde, sondern daß etwas Nicht- Existentes als das erkannt wird, was es immer schon war. Meditierende, denen es schwerfällt, diesen schwierigen Punkt zu erfassen, fühlen sich häufig unter Druck, entscheidende Aspekte ihres Daseins zu verleugnen, also diejenigen, die sie mit dem unzuträglichen »Ich« identifizieren.


Viele verzichten auf Sexualität, Aggression, kritisches Denken oder sogar auf den Gebrauch des Personalpronomens in der ersten Person, Ich. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, Selbst-Losigkeit durch Aufgabe oder Loslassen dieser Aspekte zu erlangen. Meditierende erklären Aspekte des Selbst zu ihrem Feind und versuchen, sich davon zu distanzieren. Das Problem besteht darin, daß die Eigenschaften, die man als unzuträglich bestimmt hat, durch ihre Unterdrückung noch mächtiger werden. Es ist keineswegs unüblich, daß Meditierende in der Therapie darauf beharren, daß sie weder Sex noch einen Orgasmus brauchen, oder leugnen, daß eine Frustration sie zornig macht. Statt die Haltung des nicht urteilenden Gewahrseins einzunehmen, sind diese Meditierenden so damit beschäftigt, es (d. h. ihre unzuträglichen Gefühle) loszulassen, daß sie nie die Erfahrung der Nicht-Wesenhaftigkeit ihrer eigenen Gefühle machen. Durch die Verleugnung bleiben sie daran haften.


Auf ähnliche Weise neigen diejenigen, die diesem Mißverständnis der Selbst-Losigkeit erliegen, dazu, die Idee des »leeren (von Gedanken freien) Geistes« überzubewerten. In diesem Fall wird das Denken mit dem Ich gleichgesetzt; solche Leute scheinen eine Art intellektueller Leere zu kultivieren, wobei die Abwesenheit kritischen Denkens als höchste Errungenschaft gilt. Hierzu schrieb der buddhistische Gelehrte Robert Thurman: »Man weist alle Ansichten zurück, verwirft die Sprache in ihrer Bedeutungshaftigkeit und nimmt an, solange man keine Meinung hat, keine Ansicht vertritt, nichts weiß und es einem gelingt, alles, was man gelernt hat, wieder zu vergessen, befinde man sich gewiß auf dem rechten Weg, am Ort der ›Stille der Weisen‹.«


Im Gegensatz zu dieser Vorstellung führt meditative Einsicht mitnichten dazu, daß das begriffliche Denken verschwindet. Nur der Glaube an die Festigkeit des Ego geht verloren. Diese Einsicht ist jedoch schwierig. Es ist sehr viel verlockender — und leichter —, die Meditation dazu zu verwenden, unsere Verwirrung über uns selbst nicht zur Kenntnis zu nehmen, sich in der ruhigen Stabilisierung, die die Meditation bietet, einzuhausen und zu glauben, dies sei die Annäherung an die Lehre der Selbst-Losigkeit. Das ist es allerdings nicht, was der Buddha mit der Rechten Sicht gemeint hat.


aus Mark Epstein, Gedanken ohne den Denker, Kap. V, Frei schwebend