Donnerstag, 16. Januar 2020

Zeitforscher Geißler: “Mehr Let-it-be- statt To-do-Listen”

Für eine von Stress und Erschöpfung geplagte Gesellschaft ist Zeit zum Luxusartikel geworden. Der deutsche Forscher und Wirtschaftspädagoge Karlheinz Geißler widmet sich seit 30 Jahren dem Phänomen Zeit und untersucht, warum wir so schlecht damit umgehen können.

„Na, Sie sind aber pünktlich!“ Das Lob aus dem Mund eines Zeitforschers für einen Anruf zum abgemachten Zeitpunkt erscheint deswegen paradox, weil Karlheinz Geißler in seinen Büchern und Seminaren für die Abschaffung der Uhren plädiert, selbst keine mehr trägt und den gesellschaftlichen Zwang zur Pünktlichkeit als überholt empfindet. Nein, nein, natürlich würde er seine Überzeugung von einer besseren Welt ohne ein Diktat der Uhr auch selbst leben, aber auf seinem Computerbildschirm habe sich eine Zeitangabe eingeschlichen. Der emeritierte Universitätsprofessor für Wirtschaftspädagogik hat sich seit Jahrzehnten der Erforschung des Phänomens Zeit verschrieben.

Tatsächlich leben wir in einem paradoxen Zustand, was unsere Fähigkeit im Umgang mit der Zeit betrifft. In den vergangenen 100 Jahren hat sich, so der Wiener Freizeitforscher Peter Zellmann, die durchschnittliche Arbeitszeit halbiert; der Elf-Stunden-Tag für Fabriksarbeiter war in der Ersten Republik tatsächlich die Norm; Mitte des 19. Jahrhunderts mussten Arbeiter sogar noch ein Tagespensum von bis zu 18 Stunden bewältigen. Urlaub wurde in Österreich zwar schon 1919 gesetzlich eingeführt, beschränkte sich aber auf maximal zwei Wochen pro Jahr. Seit Jänner 1975 ist die 40-Stunden-Woche gesetzlich verankert. Obwohl wir wesentlich mehr Zeit zur freien Gestaltung als alle Generationen zuvor besitzen, gilt Stress, der auch zu einem großen Teil aus Zeitkonflikten entsteht, heute als Hauptauslöser für seelische Krankheiten. Laut dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger ist die Zahl der Erwerbsunfähigkeitspensionen aufgrund psychiatrischer Erkrankungen seit 1995 auf das Dreifache gestiegen. Stressbedingte Zeitkonflikte sind, so die Experten, die Ursache für viele medizinische Störungen wie Herzrhythmus-Probleme, Rückenschmerzen, Tinnitus und Migräne, um nur die häufigsten aufzuzählen.

mehr:
- Zeitforscher Geißler: “Mehr Let-it-be- statt To-do-Listen” (Angelika HagerInterview mit Karlheinz Geißler, Profil.at, 23.08.2019)
siehe auch:
- Arbeitslosigkeit als erstrebenswertes Ziel (Holger Lang, Freitag-Community, 14.01.2016)
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Karlheinz Geissler | Unsere Not mit der Zeit (NZZ Standpunkte 2013) {49:21}

NZZ Standpunkte
Am 28.05.2016 veröffentlicht 
Zeitdruck, Zeitmangel, die Zeit, die den Menschen davonläuft - das Verhältnis zur Zeit und vor allem der Umgang mit ihr sind eines der großen Themen des modernen Menschen. Professor Karlheinz Geissler ist Zeitforscher. Mit ihm unterhalten sich «NZZ»-Chefredaktor Markus Spillmann und Marco Färber über Zeitzwänge und Zeitsouveränität, über Beschleunigung, Multitasking und grenzenlose Arbeitstage, über Bedeutung von Rhythmen und Langsamkeit und das Eilen mit Weile.
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Sendung vom 29. Dezember 2013
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Mittwoch, 8. Januar 2020

Sigmund Freud – Leiden an der Kultur – Ich-Schwäche

Das Unbehagen in der Kultur ist der Titel einer 1930 erschienenen Schrift von Sigmund Freud. Die Arbeit ist, neben Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921, Freuds umfassendste kulturtheoretische Abhandlung; sie gehört zu den einflussreichsten kulturkritischen Schriften des 20. Jahrhunderts. Thema ist der Gegensatz zwischen der Kultur und den Triebregungen. Die Kultur sei bestrebt, immer größere soziale Einheiten zu bilden. Hierzu schränke sie die Befriedigung sexueller und aggressiver Triebe ein; einen Teil der Aggression verwandle sie in Schuldgefühl. Auf diese Weise sei die Kultur eine Quelle des Leidens; ihre Entwicklung führe zu einem wachsenden Unbehagen.


[Das Unbehagen in der Kultur, Wikipedia, abgerufen am 09.11.2020]

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„Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Sigmund Freud.“ Mit diesen Worten übergibt der vierte Rufer im Mai 1933 in Deutschland und im November 1938 in Österreich die Schriften des Juden Freud den Flammen.

Sigismund Schlomo Freud wird als Sohn chassidischer Juden am 6. Mai 1856 in der österreichisch-ungarischen Monarchie, in Mähren, geboren, er verstirbt am 23. September 1939 in London. Am 4. Juni 1938, im Alter von 82 Jahren, muss er seine Wohnung und Praxis in Wien, in der er seit 47 Jahren wohnte und arbeitete, verlassen. Von 16 Juden, die in der Berggasse 19 in Wien wohnten, überlebten nur drei die Konzentrationslager. Kurz vor seiner Ausreise wird Freud von der Gestapo genötigt eine Erklärung zu unterschreiben, dass er nicht misshandelt worden sei. Freud unterzeichnete und fügte hinzu: „Ich kann die Gestapo jedermann auf das beste empfehlen.“

Während andere dicke Bücher über das Leben des jüdischen Wissenschaftlers im antisemitischen Wien schreiben, notiert er selbst,: „Mein Leben ist äußerlich ruhig und inhaltslos verlaufen und mit wenigen Daten zu erledigen.“ So schmal wie seine biographische Notiz, so schmal sind die Ehrungen die ihm zu Lebzeiten zuteil werden, es sind gerade eben einmal deren zwei. 1935 wird er Ehrenmitglied der Britischen Gesellschaft für Medizin. 1930 steht er, auf Betreiben und mit Einflußnahme von Thomas Mann und Alfred Döblin, auf der Nomininierungsliste für den Goethepreis der Stadt Frankfurt. Mit 4:3, einem denkbar knappen Ergebnis und begleitet von heftigen antisemitischen Angriffen, wird ihm der Preis zu teil. Seit 1964 vergibt die Deutsche Akademie für Sprache einen Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Es ist ein Hinweis, dass Freud gut lesbar ist und Alfred Döblin, Neurologe wie Freud, schreibt über seinen Kollegen und Freund: „Man beachte den einfachen, klaren Stil; er sagt ungekünstelt und phrasenlos, was er meint; so spricht einer, der etwas weiß.“

Eine Ehrenmitgliedschaft, ein Goethepreis der Stadt Frankfurt/Main, seit 1964 ein nach ihm benannter Preis und erst 1984 wird man in Wien einen hausnummernlosen Park nach ihm benennen. Freud war zu Lebzeiten eine persona non grata, er ist es für nicht wenige heute immer noch. Zugleich aber ist er in aller Munde. Noch jeder kennt die Freud’sche Fehlleistung, den Freud’schen Versprecher – es kommt alles zum Vorschwein und vermutlich hat sich jeder schon einmal in Küchenpsychologie versucht. In der Literatur, mehr noch im Film wird heute unendlich psychologisiert und dass nicht wenige Krankheiten eine psychologische Ursache haben ist heute, nachdem das lange tabuisiert und stigmatisiert war, so unzweifelhaft wie die Tatsache, dass die Erkrankungen der Psyche eine enorme Steigerungsrate haben und zwischenzeitlich den dritten Rang unter den Krankschreibungen einnehmen. Im Amtsdeutsch heißt das nicht Krankschreibung, sondern Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die amtliche Definition von krank ist arbeitsunfähig, wobei nicht zu übersehen ist, dass die rastlose Arbeit im Hamsterrad, gelegentlich mit den Folgen eines burnouts nicht eben gesund ist.

Freud ist kein Frühstarter, seine Theorie ist kein intuitiver Geniestreich, nicht das Heureka des Archimedes, es ist das Ergebnis langer praktischer ärztlich-medizinischer und wissenschaftlicher Arbeit. Erst nach einer langen Inkubations- und Latenzzeit, 14 Jahre nach Eröffnung seiner Praxis, erst im Jahre 1900, Freud ist 44, erscheint „Die Traumdeutung“, die Gründungskurkunde der Psychoanalyse. Freud nennt diese Schrift seine via regia zur Kenntnis über das Unbewusste des Seelenlebens. 1901 in der „Psychopathologie des Alltags“ und 1905 mit „Der Witz“ zeigt er die Freisetzung von unbewussten Triebkräften, wie Unbewusstes im Alltäglichen als wirkmächtige Kraft aufscheint. Als er schließlich 1905 in den drei Abhandlungen zur Sexualtheorie verkündet, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist, und dem Unbewussten, den Trieben, und hier wiederum insbesondere der Sexualität eine hohe Bedeutung zukommen lässt und dann noch feststellt, dass Kinder Sexualität haben … Freuds wissenschaftlichen Tätigkeit ist gepflastert mit Skandalen.

Das Buch mit dem Titel „Das Unbehagen in der Kultur“, von dem heute die Rede sein soll, ist ein schmales Werk von eben mal 70 Seiten über das Thomas Mann, ein Kenner und emsiger Verwerter von Freud, Thomas Mann nannte das höheres Abschreiben, Thomas Mann urteilt in einem Brief an Freud mit höchst anerkennenden Worten: „Nur aufs Dürftigste kann ich Ihnen, im Trubel einer, Dank den Herdeninstinkten der Welt katastrophal angeschwollenen Korrespondenz (das ist 1930 geschrieben, da gab es keine email, kein face-book, kein whattsapp und kein twitter) für das außerordentliche Geschenk ihres Buches danken. Dieses Werk, dessen innerer Umfang seinen äußeren so mächtig übertrifft. (70 Seiten) Ich habe es in einem Zuge gelesen, ergriffen von einem Wahrheitsmut, in dem ich, je älter ich werde, mehr und mehr die Quelle aller Genialität erblicke.“ (Thomas Mann, Briefe, 1924-1932, S. 441)

1930 geschrieben, eine Spätschrift, auch eine Zusammenfassung dessen, was die Psychoanalyse bis dahin geleistet hat, ergänzt um die Einsicht, dass der Mensch neben dem Bedürfnis nach Lust auch eine starke Neigung zur Aggression hat. Das Buch ist zu lesen auf dem Hintergrund der geistesgeschichtlichen Entwicklung, und da muss, und den kannten sie um 1900 alle, mit Nietzsche begonnen werden: Nietzsche: „Die Verdüsterung der pessimistischen Färbung kommt notwendig im Gefolge der Aufklärung.“ Verdüsterung im Gefolge der Aufklärung, das dürfte für alle, die in der Aufklärung den Fortschritt und das helle Licht der menschlichen Zukunft sehen, ein starkes Stück sein. Freud ist Naturwissenschaftler und Positivist, Aufklärer, und ausgerechnet er bringt uns manches, mehr als manchem lieb ist, an Pessimismus über unsere Gattung bei.
mehr:
- Sigmund Freud – Leiden an der Kultur (Vortrag von Richard Dollinger, Gera, am 8. Januar 2020, Goethe-Gesellschaft, Erfurt)

Das Es, Freud nennt es auch das Lustprinzip, wird beherrscht vom Ich. Erlebbar wird das Es, wenn sich der Druck des Unbewussten in kleinen psychischen Symptomen, aber auch in Krankheit äußert oder auch in Situationen, in denen wir uns fragen, was nur in uns gefahren ist. Es ist aber nichts in uns hineingefahren, es kam aus uns heraus, was wir an Unbewusstem, Biochemischen und an Verdrängtem, Sozialem in uns aufgesammelt hatten. Freud: „Es gibt Prozesse in uns, die stärker sind als das, was Ich sagt.“ Hinzugefügt werden darf, was offensichtlich ist, dass durch unterschiedliche Sozialisation die Ich-Stärke und Ich-Schwäche individuell sehr unterschiedlich ausgebaut sind. Hinzugefügt auch: In der Sprache des Alltags heißt es: Da stand ich neben mir, ich kenne mich selbst nicht mehr, oder etwas veraltet, aber sehr schön: Sie hat sich vergessen. In der Descartschen Maschinensprache heißt es, da habe ich nicht richtig getickt, da bin ich ausgerastet, ich hatte mich nicht im Griff. Aber dann doch auffallend, häufig geht die Sprache hier direkt ins Tierreich: Ich wurde vom Affen gebissen, da ging der Gaul mit mir durch, ich wurde von der Tarantel gestochen, ich habe die Sau rausgelassen. Für das Bewusste haben wir seit Descartes die Maschinensprache, für das Unbwusste greifen wir häufig zu Metaphern aus dem Tierreich.  
[ebda – Hervorhebung von mir]

 

Sigmund Freud selbst hat sich übrigens erstaunlich zurückhaltend zu den Verheerungen der nationalsozialistischen Verfolgung geäußert. Zur Verbrennung seiner Schriften notierte er am 11. Mai, wenige Tage nach seinem 77. Geburtstag, in sein Tagebuch: „Was für Fortschritte wir machen. Im Mittelalter hätten sie mich verbrannt, heutzutage begnügen sie sich damit, meine Bücher zu verbrennen.“ Aber der weitsichtige Wissenschaftler, der als erster die Hypothese von einem menschlichen Destruktions- oder Todestrieb formuliert hat, erwies sich mit dieser Einschätzung als allzu gutgläubig. Zwar konnte er selbst sich 1938 vor der Verfolgung der Nazis noch in das Londoner Exil retten, in dem er seine letzten Lebensjahre zubrachte. Vier seiner fünf Schwestern aber wurden 1942 in nationalsozialistischen Konzentrationslagern ermordet. Die öffentlichen Bücherverbrennungen lesen sich heute als die Vorläufer der Verbrennungsöfen in Auschwitz, so wie es Heinrich Heine schon 1821 in seiner Tragödie „Almansor“ merkwürdig prophetisch formuliert hat: „Dies war ein Vorspiel nur/dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“
[Vera Kattermann,
Geschichte der Psychoanalyse: „Adel der menschlichen Seele?“, aerzteblatt.de, Mai 2013]

 

siehe auch:
- Ich-Schwäche (Wikipedia)
- Marie-Luise Althoff: Ich und Selbst (Tatjana van de Kamp, Rezension, Socialnet,  27.04.2020)
- Die Theorie der Psychoanalyse (Post, 09.03.2018)
- Das Ich-Stärke-Training (Rüdiger Lenz, nichtkampf-prinzip.de, undatiert)
- Auf dem Weg zur Ich-Stärke - Ich-Schwäche (2) (Carsten, Psychologie-Magazin, 08.02.2017)
- Ich-Schwäche (1) (Carsten, Psychologie-Magazin, 26.10.2016)
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Dienstag, 7. Januar 2020

Materialsammlung: Spannungsfeld Freud – Sartre – Laing

Seit es sie gibt, wird die Psychiatrie kritisiert – von Außenstehenden und von Psychiatern selbst. So schlossen sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts Laien zusammen und protestierten gegen die offensichtlichen Missstände in psychiatrischen Anstalten. 1894 etwa verfassten die Teilnehmer einer Konferenz in Göttingen die „Göttinger Leitsätze“. 1909 formierte sich eine Bewegung mit dem Ziel, „wahrheitsgetreue und beweisbare Mitteilungen über schlechte Behandlung, ungerechtfertigte Internierungen angeblich Geisteskranker, Entmündigungsangelegenheiten et cetera zu sammeln“. Den Anlass lieferte ein erregter Kranker, den man nach der Aufnahme in einer Anstalt vier Wochen lang auf einem Bett festband, weil der zuständige Arzt im Urlaub war. Die Kritisierten reagierten vor allem entrüstet darüber, dass eine solche Kritik verbreitet wurde.

Bereits 1914 beklagte Carl Gustav Jung die einseitige naturwissenschaftliche Ausrichtung der psychiatrischen Ausbildung, welche in dem Leitsatz „Geisteskrankheiten sind Hirnkrankheiten“ gipfele. Er konstatierte: „(. . . ) dass die schlimmsten Katatonien und Dementia-Fälle vielfach Produkte der Irrenanstalt sind, hervorgerufen durch den psychologischen Einfluss des Milieus (. . . ) Alle Bedingungen, die einen normalen Menschen unglücklich machen würden, haben auf einen Kranken eine ebenso unheilvolle Wirkung.“ Fünfzig Jahre später findet man ähnliche Positionen in der „Antipsychiatrie“-Bewegung wieder. Ronald Laing und David Cooper gelten als ihre Begründer. Doch nur Cooper hat sein Konzept so genannt, Laing lehnte die Bezeichnung „Antipsychiater“ für sich ab. Denn er war der Ansicht, dass man den Vertretern der traditionellen Psychiatrie nicht das Monopol auf die Bezeichnung „Psychiater“ überlassen dürfe.

Zwar überschneidet die „Antipsychiatrie“-Bewegung sich mit der internationalen Studentenrevolte der 1960er Jahre. Doch Laing, Cooper und etwa Franco Basaglia entwickelten ihre ersten Modelle bereits 1961 und 1962, als von einer Emanzipationsbewegung der Jugend noch kaum etwas zu spüren war. Unter dem Einfluss der Studentenbewegung wurden ihre Schriften freilich ins Deutsche übersetzt und in der Bundesrepublik gelesen.

mehr:
- Ronald D. Laing: Reise in den inneren Raum (Christof Goddemeier, aerzteblatt.de, Ausgabe September 2014, S. 410)
siehe auch:
[2] In Sartres Philosophie stehen das Subjekt und der Sinn, den das Subjekt seinen Handlungen und seinem Leben insgesamt gibt, im Zentrum. Die Existenzphilosophie i.w.S. seit Kierkegaard war die erste Philosophie, die das Subjekt so radikal ins Zentrum stellte. In einer Gegenbewegung zum Existenzialismus betonten die Strukturalisten (Foucault, Lévi-Strauss, Barthes, Althusser) die Bedeutung der unbewussten Strukturen. Für sie waren Subjekt und Sinn nur Schaumkronen, die über die alles entscheidenden Strukturen jedoch nichts aussagten. Sartre warf Foucault 1966 in Jean-Paul Sartre répond, entretien avec Bernard Pingaud vor, aus der Geschichte eine Geologie zu machen, in der der Mensch nicht mehr vorkommt. Sartre betonte zwar immer wieder, dass das An-sich resp. das Praktisch-Inerte sich gegen den Menschen und die Intention seiner Handlungen richten kann. Doch für ihn war das freie Subjekt mit seinen Handlungen das Schmieröl, das die Maschinerie der Geschichte am laufen hielt. Deshalb war für Sartre auch das (politische) Engagement des Individuums so wichtig – eine Ansicht, die Foucault, der punktuell politisch sehr aktiv war, wenn nicht theoretisch, so doch praktisch teilte. Mehrfach kam es zwischen Sartre und Foucault in den 70er Jahren zu politischer Zusammenarbeit (gegen Rassismus, für bessere Haftbedingungen, Gründung der Nachrichtenagentur Libération). Mit seinen Spätwerken L'Usage des plaisirs und Le Souci de soi (1984) rückte Foucault dann wieder das Subjekt und eine an der Selbsttechnik orientierte Ethik ins Zentrum seiner Betrachtungen.
Den Gegenschlag gegen die Strukturalisten führten ab Mitte der 70er Jahre die Nouveaux Philosophes (Glucksmann, Finkielkraut, B. H. Lévy), die radikal den Menschen und die Menschenrechte ins Zentrum ihrer politischen Philosophie stellten. Sie wandten sich auch gegen alle jene Linken, die zuliessen, dass zugunsten der Revolution über Leichen gegangen werden darf, und damit auch teilweise gegen Sartre und dessen Version der Verantwortungsethik.
Neben der spektakulären Nicht-Diskussion zwischen Sartre und Foucault, der oft als Sartres Nachfolger gesehen wurde, gab es jedoch eine wirklich, sich allerdings über mehrere Jahre (1960-71) hinweg ziehende echte Diskussion, jene zwischen Lévi-Strauss und Sartre. Lévi-Strauss kritisierte 1962 in La Pensée sauvage die Trennung zwischen analytischem und dialektischem denken. Für Lévi-Strauss gibt es letztlich nur analytisches Denken, und in diesem kann der Mensch nur Objekt sein. Entsprechend will Lévi-Strauss die Dialektik auch nicht auf den geisteswissenschaftlichen Bereich begrenzen. Demgegenüer hält Sartre daran fest, dass das analytische Denken, in dem der Mensch nur Objekt ist und das die Einzelwissenschaften auszeichnet, seine Vollendung erst im dialektischen Denken findet. In diesem ist der Mensch Subjekt-Objekt. Es fundiert in der Geschichte und der täglichen Praxis. Wie bei Heidegger hat es einen erlebnishaft-existentiellen Charakter. Dieses dialektische Denken ist die Besonderheit der Philosophie, womit Sartre auch die Philosophie gegen die Einzelwissenschaften behauptet. Dem Streit liegt letztlich die philosophische Unterscheidung zwischen Verstand und vernunft zugrunde. Von Platon bis Kant wurde der Verstand (noesis, intellectus, franz. entendement) als Wesenserkenntnis höher als die Vernunft (dianoia, ratio, franz. raison) als begriffliche-diskursive Bestimmung aufgefasst. Mit Kant dreht sich dieses Verständnis. Der Verstand als an Sinneseindrücke gebundenes Erkenntnisvermögen steht unter der Vernunft, die imstande ist, unabhängig von der Erfahrung Schlüsse zu ziehen. Hegel verband dann die Vernunft mit der Dialektik. Der Verstand steht für das positive, bestimmende Denken, die Vernunft für das negativ- dialektische, das sich in der Geschichte verwirklicht. In der Diskussion mit Lévi-Strauss übernahm Sartre Hegels Grundpositionen (wenn auch in der marxistischen Version) gegen dessen positivistische, szientistische Haltung.
[3] Das Aufkommen der Naturwissenschaften im 19. Jh. bildet eine schwere Bedrohung für die Philosophie als „Mutter der Wissenschaften“. Diese droht auf den Status einer Hilfswissenschaft abzusinken. Der Psychologismus verneint radikal die Möglichkeit eines unabhängigen, freien Denkens. Denken kann nicht mehr wahr oder falsch sein, sondern ist nur durch Motivationen begründet. Der Neukantianismus versucht die Selbständigkeit der Philosophie zu retten, indem er auf Kant und seine Trennung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Verstandesvorstellungen zurückgreift. Zu letzteren gehören die Kategorien der Quantität, Qualität, Relation und Modalität, die erst All-Sätze, Verneinung, Kausalität, Möglichkeit oder Notwendigkeit zulassen.  
[Alfred Betschart, Alfred Dandyk, Unaufrichtigkeit: Die existentielle Psychoanalyse Sartres im Kontext der Philosophiegeschichte, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002SartreOnline.com, undatiert – PDF, Fußnoten 2 und 3]
Jean-Paul Sartres Blick auf die Psychoanalyse des Sigmund Freud (Astrid Kanne, Nea Agora, 2001 – PDF)
- Existenzialismus und Transaktionsanalyse (Claudie Raimond, Deutsche Gesellschaft für Transaktionsanalyse, gekürzte Übersetzung, Oktober 1980 – PDF)
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Montag, 6. Januar 2020

Leseempfehlung: Zur Parallelität der ‘Entwurzelung’ von Gesellschaft, Subjektivität und Denken

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Das Lebenswerk Luhmanns ist eine allgemeine und umfassende Theorie der Gesellschaft, die gleichermaßen Geltung in der wissenschaftlichen Untersuchung sozialer Mikrosysteme (z. B. Liebesbeziehungen) und Makrosysteme (wie Rechtssystemen, politischen Systemen) beansprucht. Der Anspruch seiner Theorie auf besonders große Tragweite beruht darauf, dass seine Systemtheorie von der Kommunikation ausgeht und die Strukturen der Kommunikation in weitgehend allen sozialen Systemen vergleichbare Formen aufweisen. Luhmanns Systemtheorie kann als Fortsetzung des radikalen Konstruktivismus in der Soziologie verstanden werden.[16] Er knüpft vor allem an die theoretischen Grundlagen Humberto Maturanas und dessen Theorie autopoietischer Systeme an.[17] Ferner lieferten Edmund Husserl und Immanuel Kant wichtige Voraussetzungen, was den theoretischen Zeitbegriff anbelangt[18], sowie George Spencer-Brown, was den Form- und Sinnbegriff anlangt.[19] Dem gegenüber bricht Luhmann mit theoretischen Grundannahmen der Soziologie und Philosophie, die in unlösbare Paradoxien hineinführen: So ersetzt er Handlung durch Kommunikation als basalen soziologischen Operationstyp.[20] Er bricht auch mit dem klassischen Subjekt-Objekt-Schema und ersetzt es durch die Leitdifferenz System und Umwelt.[21]
Bereits 1970 lieferten sich Luhmann und der Soziologe Jürgen Habermas, als jüngster Vertreter der Kritischen Theorie, eine ausführliche Kontroverse zu ihren teils gegensätzlichen Theoriemodellen, die sie mit einer gemeinsamen Publikation „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“ dokumentierten.[22] Der wohl wichtigste Streitpunkt dieser Kontroverse war, ob die Soziologie eine moralische Komponente oder eine soziale Utopie (Herrschaftsfreiheit) durchzutragen habe oder lediglich eine Beschreibung der Gesellschaft nach funktionaler Prämisse leisten müsse.[23] Aus der Sicht Luhmanns fällt die Antwort so aus, dass das Erstere nur auf Kosten des Letzteren möglich ist.[24] Wenn sich die Soziologie an der Kritik oder am Diskursorientiert, so ist sie damit auch an bestimmte Ausgangslagen gebunden und kommt fatalerweise nur zu Aussagen von zeitlich begrenzter Gültigkeit. Um dem zu entgehen, muss Luhmann zufolge die Soziologie eine noch größere Abstraktion der sozialen Dynamik finden, die dafür eine längere Geltungsdauer beanspruchen kann. Die moralische Bewertung und Kritik des Zeitgeschehens werde dadurch keineswegs ausgeschlossen, im Gegenteil, sie werde lediglich aus der Funktion der Soziologie ausgelagert in andere Bereiche, nämlich Politik oder Ethik. Dieser Schritt sei besonders deshalb erforderlich, weil die Soziologie bis dato weder über einen allgemeinen Begriff noch über eine allgemeine Theorie der Gesellschaft verfügt. Für die Soziologie als Wissenschaft sei es notwendig, dass sie ihren Gegenstand in allgemeiner Weise bezeichnen kann.
Luhmanns Theorie der Gesellschaft geht davon aus, dass die „moderne“ Gesellschaft durch den Prozess der funktionalen Differenzierung gekennzeichnet ist.[25] Die Gesellschaftsstruktur des alten Europa hat sich aufgrund der Komplexitätszunahme eigener Sinnressourcen von der segmentären zur stratifikatorisch-hierarchischen und weiter zur funktional differenzierten Ordnung umgeformt. In der Moderne lösen sich zunehmend Teilsysteme aus dem Gesamtkontext der Gesellschaft heraus und grenzen sich nach Maßgabe eigener funktionaler Prämissen vom Rest der Gesellschaft ab (Ausdifferenzierung). Die moderne Gesellschaft ist aufgelöst in eine wachsende Vielheit von Teilsystemen, die sich gegenseitig zur Umwelt haben und die strukturell mehr oder weniger fest aneinander gekoppelt sind. Die Gesellschaft überhaupt stellt für jedes einzelne Teilsystem (und für alle Teilsysteme zusammen) einen identischen Hintergrund dar, der funktional auf die Möglichkeit der Kommunikation hin entworfen werden kann.
Luhmann bietet erstmals in der relativ jungen Geschichte der Soziologie (ca. 150–200 Jahre, vergleiche die mindestens 2500 Jahre bestehende Tradition der Philosophie) nach Emil DurkheimMax Weber und weiteren einen allgemein gültigen und zeitlich konsistenten Begriff der Gesellschaft an[26], der die grundlegende Paradoxie aufzulösen vermag, dass die Soziologie selbst ein Teil der Gesellschaft ist, also selbst ein Teil des Gegenstandes ist, den sie wissenschaftlich zu begreifen sucht, und dadurch die Unabhängigkeit und Unbedingtheit dessen, als was Gesellschaft bezeichnet wird, entscheidend beeinträchtigt werden. Schließlich wird alles, womit die Soziologie arbeitet – Sprache, Kommunikation, Buchdruck, Problemlagen, Forschungsziele, Geld usw. – von der Gesellschaft bereitgestellt.
Im Sinne der Wissenschaftslogik ist ein selbst entwickelter Gesellschaftsbegriff selbst-implikativ und ungültig. Das Betätigungsfeld der Soziologie muss nach Luhmann zu der Frage umgedreht werden, wie es trotzdem möglich ist, dass Teilsysteme sich in der Gesellschaft orientieren können und dennoch relativ stabile Strukturen aufweisen und dass sich dauerhafte Institutionen in der Gesellschaft etabliert haben, die anscheinend (vielleicht aber auch nur scheinbar) die Lage beherrschen.[27] Die Teilsysteme der Gesellschaft werden im Hinblick auf ihre evolutiven, selbst-stabilisierenden, autopoietischenStrukturen hin beobachtet und geben selbst die Antwort darauf, was Gesellschaft ist, indem sie zeigen, wie sie mit der Komplexität und Paradoxierung der Gesellschaft umgehen. Diesen Beobachtungen hat sich Luhmann zugewendet.
[Niklas Luhmann, Charakterisierung des Werkes, Wikipedia, abgerufen am 06.01.2019]
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In dieser Arbeit geht es um ein reizvolles Experiment. Im Mittelpunkt steht der Versuch, eine empirische Ausgangsbeobachtung, die wir gleich- sam von der Gesellschaft ‘abgelesen’ haben, im Lichte der Systemtheorie Niklas Luhmanns zu erklären. Es geht also, salopp gesagt, um den Ver- such, das systemtheoretische Denken Luhmanns praktisch anzuwenden. Reizvoll ist unser Unternehmen nicht zuletzt deshalb, weil wir eine als durchweg konservativ geltende Thematik oder Fragestellung mit einer Theorie zusammenbringen, die erklärtermaßen angetreten ist, jedwedes traditionelle Denken hinter sich zu lassen, grundsätzlich neu zu beginnen. 

Ausgangspunkt unserer Arbeit ist die zunächst mehr unreflektiert- emphatische Beobachtung, daß das Subjekt der Moderne, die gegenwärti- ge Gesellschaft sowie die Grundstruktur heutigen Denkens von ‘Bodenlo- sigkeit’ und ‘Entwurzelung’ gekennzeichnet sind. 

Die Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, diesen zunächst mehr vordergründigen Eindruck zu belegen, die Genese des Phänomens aufzuzeigen und eine strukturelle Parallelität zwischen den drei Ebenen nachzuweisen. Vor allem aber unternehmen wir in dieser Arbeit den Versuch, die unterstellte ‘Bodenlosigkeit’ von Subjekt, Gesellschaft und Denken im Bezugsrahmen der Systemtheorie Luhmanns zu erklären sowie gleichermaßen aus dieser Theorie heraus Anhaltspunkte zu finden, mit denen die Parallelität der ‘Entwurzelung’ von Gesellschaft und Denken einerseits sowie von Gesell- schaft und Subjektivität andererseits erklärt werden kann. 

Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil der Arbeit werden im Rahmen einer phänomenologischen Gesamtdarstellung Ausdrucksformen von ‘Bodenlosigkeit’ betrachtet. Das erste Kapitel befaßt sich mit der ‘bodenlosen’ Grundverfassung des Subjekts: An exemplarischen Beob- achtungsfällen wird die widersprüchliche Situation von Entdeckung und Verlust des Selbst aufgezeigt. Unausweichlich und unentwegt ist das Sub- jekt dazu verurteilt, ‘Ontologien’ des Selbst zu entwerfen, zu erneuern und auszutauschen; es ist darum bemüht, in einem permanenten rekursiven Prozeß die subjektive Authentizität eines Selbstprojektes zu konstruieren. Was aus der Sicht des Subjekts wie Selbstbehauptung aussieht, erweist sich aus der globalen Perspektive als ein Prozeß ungezähmter, selbstbe- 2 züglicher Aktivität, der in Spiel und Simulation leerzulaufen scheint und somit die Entwurzelung der Subjektivität im Paradox hervortreten läßt. Das Kapitel schließt mit einem Blick auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten, in die das Subjekt der Moderne eingelassen ist. 

Im zweiten Kapitel wird die ‘Bodenlosigkeit‘ der Gesellschaft an exemplarischen Fällen belegt. Hier wird in direkter Anknüpfung an das erste Kapitel gezeigt, wie die Kultur, die Religion, die Politik und die Wirkungsmechanismen der Medien ihre ehemals hierarchische, oder besser: zentrische Grundstruktur verloren haben und nun gleichsam ‘frei schwebend’ um sich selbst kreisen. Der sich hieran anschließende Exkurs will aufzeigen, daß ‘Bodenlosigkeit’ als gesellschaftliches Phänomen nicht plötzlich aufge- taucht, sondern geschichtlich geworden ist. Bezugspunkt der Betrachtung ist hier der Erklärungsansatz Max Webers sowie die Diskussion um die sogenannte Postmoderne. 

Das dritte Kapitel wendet sich der ‘Bodenlosigkeit’ des Denkens zu. Hier wird aufgezeigt, wie eine kognitive Entwicklungslinie differenztheoreti- schen Denkens bei Nietzsche beginnt und über Adorno bis Luhmann auf eine bisher beispiellose Zuspitzung von ‘Bodenlosigkeit’ und ‘Entwurzelung’ zugesteuert ist. Dementsprechend betrachtet der erste Abschnitt dieses Kapitels das spezifische ‘Profil’ des differenztheoretischen Denkens Friedrich Nietz- sches. In Anknüpfung an die philosophische Kategorie der Bewegung Friedrich Nietzsches wird im zweiten Abschnitt gezeigt, daß Adorno mit seiner Kategorie des „Nichtidentischen“ sowie mit seinem Versuch, in „Konstellationen“ zu denken, das Differenz-Theorem weiterentwickelt hat. Der dritte Abschnitt verfolgt das Ziel, in das systemtheoretische Denken Niklas Luhmanns einzuführen und die Grundstruktur dieses theoretischen Ansatzes als exemplarischen Ausdruck ‘bodenlosen’ Denkens aufzuwei- sen. Zu diesem Zweck entwickeln wir hier einen fiktiven Dialog zwischen dem ontologisierenden Denken der Tradition und dem differenztheoreti- schen Denken aktueller Provenienz, um das charakteristische Denkpara- digma der Systemtheorie Luhmanns im Kontrast herausarbeiten zu kön- nen. Die Zwischenbetrachtung des IV. Kapitels zieht ein vorläufiges Fazit. Das, was wir auf der Ebene der Subjektivität, der Gesellschaft und des 3 Denkens an ‘Bodenlosigkeit’ und ‘Entwurzelung’ jeweils getrennt und pri- mär deskriptiv vorgestellt haben, wird nun zusammengezogen und auf ei- ner abstrakteren analytischen Ebene auf gemeinsame Kategorien ge- bracht. Hier versuchen wir zu zeigen, daß es mit „Differenz“, „Horizontali- tät“, „Rekursivität“ und „Paradoxalität“ Kategorien der ‘Entwurzelung’ gibt, die in den Denkmodellen Luhmanns, Adornos und Nietzsches gemeinsam enthalten sind. Darüberhinaus wird sich zeigen, daß diese Kategorien auch in den Strukturen der Gesellschaft und der Subjektivität verborgen liegen. Wir werden also aus der rückwärts gerichteten Perspektive des ersten Teils dieser Arbeit die innere Verschränkung aller drei Ebenen in ihrer ‘Boden- losigkeit’ und ‘Entwurzelung’ zu belegen versuchen. Im zweiten Teil der Arbeit werden unsere Beobachtungen zur ‘Bodenlo- sigkeit’ mit dem systemtheoretischen Denken zusammengebracht. In ei- nem ersten Schritt geht es darum, mit dem Instrumentarium Luhmanns die ‘Bodenlosigkeit’ der Gesellschaft, des Subjekts und des Denkens zu erklä- ren. Hierzu werden jeweils verschiedene systemtheoretische Blickwinkel eingenommen: Kapitel I betrachtet die funktionale Differenzierung der Ge- sellschaft im Hinblick auf die uns interessierende Frage gesellschaftlicher Einheit sowie den systemtheoretisch gefaßten Rationalitätsbegriff. Kapitel II geht der Frage nach, inwieweit aus dem systemtheoretischen Denken heraus die ‘Bodenlosigkeit’ der Subjektivität erklärt werden kann. Was bleibt übrig, wenn wir entdecken, daß der traditionelle Subjektbegriff hier gleichsam in sich zerlegt auftritt und in dieser Gespaltenheit mit funk- tionaler Differenzierung konfrontiert werden muß? Kapitel III versucht zu zeigen, daß die Kognition des Bewußtseins (als operational geschlossenes Systemgeschehen) in der Paradoxie befangen ist, sich selbst als Maßstab nehmen zu müssen, sich andererseits aber nicht selbst begründen zu können und damit zwangsläufig dazu verurteilt ist, jedwede Einheit immer in der Differenz zu finden. Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels skizzieren wir gleichsam exemplarisch den symbolischen und formalen Charakter des systemtheoretischen Wahrheitsbegriffs im Kontrast zum ‘substantiellen’ Wahrheitsverständnis der Tradition, näherhin Immanuel Kants. Ist es der Tradition noch gelungen, mit der Wahrheit ein Kriterium aufzustellen, das die Übereinstimmung von Denken und Gegen- stand zu garantieren vermochte, so erleben wir in der Systemtheorie eine 4 strukturell ‘bodenlose’ Neuformulierung dieser Thematik, die von völlig an- deren Voraussetzungen ausgeht und grundsätzlich neue Antworten her- vorbringt. Kapitel IV versucht darzulegen, inwieweit mit dem systemtheoretischen Begriff der strukturellen Kopplung die Parallelität von Kognition und Sozia- lität (bzw. Sozialität und Kognition) erklärt werden kann. Der Mechanismus der Kopplung, so werden wir herausarbeiten, hat eine eigene Realitätsba- sis für sich, die von den jeweils gekoppelten Systemen unabhängig ist. Auf dieser Beobachtung aufbauend werden wir dann versuchen, die von uns postulierte Parallelität von Kognition und Sozialität im Rahmen systemtheo- retischer Begriffe und Instrumentarien zu erklären. Das letzte Kapitel knüpft ausdrücklich wieder an den Beginn unserer Ar- beit an. Das dort im Rahmen unserer Ausgangsbeobachtung entwickelte Modell „Wir sind, wenn wir tun“, mit dem wir die spezifische Operationswei- se der Subjekte in der Gesellschaft zu beschreiben versuchten, wird nun direkt mit der Systemtheorie konfrontiert. D.h. wir stellen die Frage, ob bzw. inwieweit der hier vorgestellte Mechanismus (subjektiver Aktivität) als so- zialer autopoietischer Prozeß gedacht werden kann. Sofern es gelänge, diese (auf den ersten Blick widerspruchsvoll anmutende) Zusammenfüh- rung systemtheoretisch plausibel vorzustellen, wäre die Parallelität von Subjektivität und Sozialität begründet nachgewiesen
mehr:
- Universalität der ‘Bodenlosigkeit’ – Zur Parallelität der ‘Entwurzelung’ von Gesellschaft, Subjektivität und Denken – Ein systemtheoretischer Erklärungsversuch (Stefan Feltes, Dissertation, Fachbereich Philosophie-Religionswissenschaft-Gesellschaftswissenschaften der Universität - Gesamthochschule - Duisburg, April 1999 )
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