Dienstag, 26. Mai 2015

Nicht-urteilendes Gewahrsein: Die Gewinnung des Reinen Objekts

3. Die Gewinnung des Reinen Objekts 
Reines Beobachten ist das bloße Registrieren des Objekts, seine genaue Bestimmung und Abgrenzung. Dies ist, wie der Anfänger in der Übung merken wird, durchaus keine so leichte Aufgabe, wie es den Anschein hat. Das erste wichtige Ergebnis der Übung wird nämlich sein, daß man zu seiner Bestürzung feststellt, wie selten man sich ein reines, unvermischtes Objekt vergegenwärtigt. Eine Seh-Wahrnehmung z.B. wird, wenn sie von irgendwelchem Interesse für den Betrachtenden ist, selten das reine Sehobjekt ergeben, sondern wird durchsetzt sein mit ich-bezogenen Wertfärbungen wie: schön oder häßlich; angenehm oder unangenehm; nützlich, nutzlos oder schädlich. Wenn es sich um ein lebendes Wesen handelt, wird dann noch das Vorurteil hinzukommen: «Dies ist eine Persönlichkeit, ein Ich- oder Seelenwesen, wie auch es bin.» Ein nicht durch Rechte Achtsamkeit kontrollierter Geist nimmt meist nur solche mit verschiedenen Beimischungen (Wertungen, Assoziationen usw.) versehene Objekte vollbewußt in sich auf. Mit diesen Beimischungen verquickt, sinkt dann die Wahrnehmung in das Gedächtnis-Reservoir und beeinflußt so auch künftige Objektvorstellungen, Urteile, Entscheidungen, Stimmungen usw. in oft verhängnisvoller Weise.

Goldfarben gefasster Tripitaka Pali-Kanon, Burma, um 1900 (Quelle: Auctionata AG)
Die Aufgabe der Achtsamkeit beim Reinen Beobachten ist es nun, alle diese fremden Zutaten auszusondern, sie, wenn erwünscht, für sich allein zu betrachten, das anfängliche Wahrnehmungsobjekt aber von ihnen frei zu halten. Dies erfordert beharrliche Übung, bei der die sich allmählich schärfende Achtsamkeit gleichsam Siebe von zunehmender Feinheit benutzt, die zunächst die gröberen und dann immer feinere Beimischungen ausscheiden.

Die Notwendigkeit solch genauer Bestimmung und Abgrenzung des Objekts wird in der Satipatthāna-Lehrrede durch eine regelmäßige zweimalige Erwähnung des Achtsamkeits-Objekts betont: «Er weilt beim Körper in Betrachtung des Körpers», d.h. nicht etwa in Betrachtung des hierauf bezüglichen Gefühls, wie vom Kommentar ausdrücklich erklärt. Wenn man z.B. eine schmerzende Wunde an seinem Körper betrachtet, so besteht das hier zur Körperbetrachtung gehörende Sehobjekt lediglich in der in einem bestimmten Zustand befindlichen Körperstelle. Der empfundene Schmerz ist ein Objekt der Gefühlsbetrachtung. Das mehr oder weniger bewußt gehegte Vorurteil, daß hiermit ein Ich betroffen wird, gehört zur Geistbetrachtung («verblendeter Geist») oder zur Geistobjekt-Betrachtung (über die «Fesseln», die durch den Kontakt des Körpers mit einem berührbaren Objekt entstehen). Der etwa empfundene Unwille gegen den Verursacher der Wunde gehört zur Geistbetrachtung («haßerfüllter Geist») oder zur Geistobjekt-Betrachtung («Hemmung der Abneigung»). Dieses eine Beispiel möge genügen.
Eine Hauptfunktion des Reinen Beobachtens ist also die Gewinnung eines reinen Objekts, ohne Beimischungen und ohne Ich-Bezogenheit. Die gleiche Absicht verfolgt jene bedeutsame Übungsanweisung des Buddha an den Mönch Bāhiya: «Das Gesehene soll lediglich ein Gesehenes sein, das Gehörte lediglich ein Gehörtes, das (durch die drei anderen Körpersinne) Empfundene lediglich ein (so) Empfundenes, das Erkannte lediglich ein Erkanntes.» (Udāna I, 10.) Dieser Ausspruch möge als Leitwort dienen, das die Übung des Reinen Beobachtens begleitet.

(* 21. Juli 1901 in Hanau; † 19. Oktober 1994 in Forest Hermitage, Kandy) wurde als Siegmund Feniger in Hanau geboren und war 57 Jahre lang buddhistischer Mönch in der Theravada-Tradition.)
mehr:
Satipathâna – III. Achtsamkeit und Wissensklarheit – A) Die Übung des Reinen Beobachtens (Tipitaka (Drei-Korb), der Pali Kanon  des Theravāda-Buddhismus)