Samstag, 2. Mai 2015

Charlotte Joko Beck, Die überlagernde Struktur durchschauen

Die überlagernde Struktur durchschauen


Lassen Sie mich über unser Leben wie über ein Haus sprechen. Ein Haus, in dem wir leben in einem ganz gewöhnlichen Leben. Es gibt stürmische Tage und schöne Tage; manchmal muß das Haus wieder neu gestrichen werden. Alle Ereignisse, die in dem Haus, unter den Menschen, die dort wohnen, geschehen, nehmen ihren Lauf. Wir sind einmal krank, einmal gesund; einmal glücklich, einmal unglücklich; für die meisten von uns ist es so. Wir leben unser Leben, wir leben in einem Haus oder in einer Wohnung, und die Dinge geschehen, so wie sie geschehen. Doch – und hier wird das Üben zu etwas Wichtigem – besitzen wir dieses Haus und leben dennoch eingesperrt in einem anderen Haus. Wir haben dieses schöne Haus, doch es ist überlagert und umgeben von einem an deren Haus, in dem wir eigentlich leben. Es ist, als nähmen wir eine Erdbeere und tauchten sie in flüssige Schokolade. Wir haben zwar noch die Erdbeere, aber sie ist überzogen.
Unser Leben, wie wir es leben (das Haus), ist vollkommen in Ordnung. Das meinen wir meistens nicht, aber es ist in Wirklichkeit nichts an unserem Leben auszusetzen. Es ist einfach so, wie es ist. Doch über unserem Haus bauen wir noch eines. Und wenn wir nicht genau achtgegeben haben, kann diese überlagernde Struktur sehr dick und sehr dunkel sein. Das Haus, in dem wir leben, wird uns dann düster und eingeengt vorkommen, da wir es mit etwas Schwerem belastet haben. Diese schwere Schicht kann etwas Undurchdringliches, Erschreckendes, Deprimierendes ausstrahlen. Der größte Fehler, den wir in unserem Leben und bei unserem Üben machen können, ist, zu glauben, daß das Haus, in dem wir wohnen – unser Leben wie es ist mit all seinen Problemen, all seinen Höhen und Tiefen –, irgendwie nicht in Ordnung wäre. Und weil wir das glauben, machen wir so viel Aufhebens. Den größten Teil unseres Lebens haben wir dar auf hingearbeitet, diese überlagernde Struktur zu schaffen.
Beim zen-Übungsweg geht es vor allem darum, zu erkennen, daß wir das getan haben, und es geht darum zu sehen, wie diese überlagernde Struktur eigentlich beschaffen ist, wie sie wirkt, woraus sie besteht und was wir da mit tun oder nicht tun sollen. Meistens denken wir: »Es ist etwas Unangenehmes, ich muß es loswerden.« Nein, ich glaube nicht, daß das so geht. Im Grunde hat diese überlagernde Struktur, die unser Leben verdunkelt, gar keine Wirklichkeit. Sie ist aus dem Mißbrauch unserer Gedankenkräfte entstanden. Es geht gar nicht darum, sie loszuwerden, denn sie hat keine eigene Realität; es geht darum, sie ihrem Wesen nach zu erkennen. Und wenn wir das erkennen, wird diese Schicht plötzlich klarer, verliert ihre Schwere und Düsternis, wir können durch sie hindurchsehen. Erleuchtung, also mehr Licht, mehr Klarheit, ereignet sich beim Üben. Wir werden also nicht eine Struktur abschaffen, sondern sie durchschauen als die Illusion, die sie ist, und indem wir ihr wahres Wesen erkennen, kann sie sich nicht mehr so stark über unser Leben ausbreiten. Zugleich sehen wir genauer, was sich in unserem Alltagsleben abspielt. Es ist, als müßten wir einmal einen ganzen Kreislauf vollenden. Unser Leben ist immer richtig, so wie es ist. Es gibt nichts daran auszusetzen. Selbst wenn wir die größten Probleme haben, ist es noch unser Leben. Doch da wir uns weigern, das Leben so anzunehmen, wie es ist, da wir die angenehmen Dinge vorziehen, picken wir uns immer etwas aus dem Leben heraus. Anders gesagt: Wir haben gar. nicht die Absicht, mit dem Leben zurechtzukommen, wie es ist, wenn es uns gerade nicht paßt.
Jeder von Ihnen, der hier sitzt, kennt bestimmte Ereignisse in seinem Leben, die er einfach nicht akzeptieren will: »Das kann nicht sein! Das darf nicht sein!« Beispielsweise, als ich ein junges Mädchen war, war es für mich auf keinen Fall in Ordnung, an einem Samstagabend keine Verabredung zu haben. Ich deutelte an dieser unangenehmen Tatsache herum: »Irgend etwas stimmt nicht. Vielleicht sollte ich mir eine andere Frisur machen oder meine Nägel in einer anderen Farbe lackieren. Ich sollte ... Ich müßte ... Ich bräuchte ... « Das ist freilich ein lächerliches Beispiel. Doch auch bei den größten Tragödien in unserem Leben machen wir das gleiche. Da wir so wenig bereit sind, das Leben anzunehmen, wie es ist, fügen wir immer irgend etwas hinzu. Niemand von uns hier ist da von frei. Wirklich niemand. Solange wir leben, werden wir zumindest immer eine dünne Schicht haben, die den wesentlichen Kern unseres Lebens überlagert. Doch wie dick diese Schicht ist, das genau ist die Frage.
Beim zen-Üben geht es nicht um einen besonderen Ort oder um einen besonderen Frieden oder um irgend etwas anderes, als einfach unser Leben zu leben, wie es ist. Das ist das Schwierigste für die meisten Menschen: daß gerade meine Schwierigkeiten in diesem Augenblick die Vollkommenheit sind. »Was soll das heißen? Sie sind die Vollkommenheit? Ich werde üben und werde sie dann loswerden!« Nein, wir müssen sie nicht loswerden, sondern wir müssen ihr wahres Wesen erkennen. Die Schicht, die sich darübergelagert hat, wird dünner (oder scheint dünner); sie wird immer durchsichtiger, und manchmal bekommt sie sogar hier und da Löcher. Manchmal. Ich möchte Sie nun bitten, für sich selbst herauszufinden, was in Ihrem Leben jetzt gerade so ist, daß Sie es nicht annehmen wollen. Es könnten Schwierigkeiten mit Ihrem Partner sein, Arbeitslosigkeit, Enttäuschung über ein nicht erreichtes Ziel. Selbst wenn das, was geschieht, Sie mit Angst und Kummer erfüllt, ist es gut. Es ist sehr schwer, das zu begreifen. Es bedarf schon sehr intensiven Übens, um in unsere gewöhnliche Sicht, das Leben zu betrachten, auch nur eine Bresche zu schlagen. Es ist schwer, einzusehen, daß wir die Unannehmlichkeiten nicht loswerden müssen. Die Unannehmlichkeiten sind gut, wie sie sind. Wir müssen Sie ja nicht mögen, aber wir sollten Sie annehmen.
Der erste Schritt auf dem Übungsweg besteht darin, zu erkennen, daß wir diese überlagernde Struktur geschaffen haben. Und beim za-zen (vor allem beim Benennen unserer Gedanken) beginnen wir zu erfahren, daß wir unser Leben fast nie so leben, wie es ist. Unser Leben verliert sich in egozentrischen Gedanken, und diese sind die Substanz dieser überlagernden Struktur. (Wir gehen davon aus, daß wir diese Struktur durchschauen wollen. Aber manche Menschen wollen das einfach nicht. Und auch das ist in Ordnung. Nicht jeder sollte sich auf zen einlassen. Das ist sehr fordernd, es ist desillusionierend. Es kann uns anfangs abschreckend erscheinen. Doch das ist nur die eine Seite. Die andere Seite ist, daß das Leben durch diesen Übungsweg unbeschreiblich erfüllender wird. Beide Seiten gehören zusammen.) So bekommen wir durch das Üben vor allem eine zunächst noch dunkle Ahnung von dem, womit wir unser Leben überdeckt haben; der zweite Schritt besteht sodann darin, mit dem Üben zu beginnen. Befreiung ist es, diese unwirkliche, überlagernde Struktur, die wir geschaffen haben, wirklich zu durchschauen. Ohne sie entfaltet sich das Leben, wie es sich entfaltet, ohne Hindernisse. Hat das einen Sinn? Es klingt recht merkwürdig, nicht wahr?
Laßt uns erkennen, daß gerade unsere Ideale diese überlagernde Struktur sind. Wenn wir darin befangen sind, wie wir sein zu müssen glauben oder wie wir glauben, die anderen müßten sein, können wir das Leben, wie es ist, kaum wirklich schätzen. Das Üben muß unsere falschen Ideale erschüttern. Und damit sagen wir etwas, was für die meisten nicht im geringsten akzeptabel ist. Sehen Sie sich doch jetzt Ihr Üben an und fragen Sie sich, ob
Sie das überhaupt wollen. Nachdem man eine Weile gesessen hat, kommen doch Gedanken auf, wie: »Ich will es nicht! Ich will es auf keinen Fall!« Aber auch das gehört zum Übungsweg.
Diese von uns geschaffene Struktur zu sehen, ist ein sehr subtiler Vorgang, der viel von uns fordert. Das Geheimnis liegt darin, daß wir diese unwirkliche Struktur viel mehr schätzen als unser wirkliches Leben. Es gibt Menschen, die sich lieber das Leben genommen haben, als ihre überlagernde Struktur zu zerstören. Lieber geben sie ihr physisches Leben auf als ihre Bindung an ihre Träume. Und das ist nicht einmal selten. Doch ob wir Selbstmord begehen oder nicht, wenn unsere Bindung an unsere Träume und Illusionen nicht hinterfragt wird und unberührt bleibt, töten wir uns selbst, da uns das wahre Leben fast völlig entgeht. Wir werden erstickt von den Idealvorstellungen darüber, wie wir zu sein hätten und wie wir glauben, daß die anderen zu sein hätten. Es ist eine Katastrophe. Und daß wir diese Katastrophe nicht sehen, liegt daran, daß unsere Träume sehr angenehm und sehr verführerisch sein können. Gewöhnlich glauben wir, eine Katastrophe sei ein Ereignis wie der Untergang der Titanic. Doch wenn wir in unseren illusionären Idealen und Phantasievorstellungen versinken, so ist das die Katastrophe, so angenehm sie auch scheinen mögen. Wir gehen damit unter.
Noch etwas anderes. Ich sprach mit meiner Tochter über einen Mann, der unmögliche Dinge tat, und murmelte: »Er sollte sich bewußter sein über das, was er tut.« Sie lachte und sagte: »Mama, wenn du unbewußt bist, was ist dann das Wesen des Unbewußten? Unbewußt zu sein.« Und sie hatte recht. Unbewußt zu sein bedeutet, daß man nicht sehen kann, was man tut. Eines der Probleme beim Üben ist also, daß wir alle bis zu einem gewissen Grad unbewußt und dadurch gar nicht bereit sind, bewußter zu werden. Wie überwinden wir das? Das ist zum Teil meine Aufgabe, aber zum großen Teil Ihre. Ich erinnere mich an einen langjährigen Schüler, der vor einigen Jahren eine wunderbare Rede über das Geben und über das Mitgefühl gehalten hatte. Einen Tag danach beobachtete ich ihn, als er sich mit einer Gruppe von Menschen versammelt hatte, um den Meister zu sehen. Er drängte sich beinahe rücksichtslos nach vorne durch - und war sich seiner Egozentrik völlig unbewußt. Solange wir nicht erkennen, was wir tun, werden wir weiter so handeln. Also ist es eine Aufgabe zum Üben, die Fähigkeit zu sehen zu steigern.
Für manche von uns bedeutet Disziplin, sich zu etwas zu zwingen. Doch Disziplin heißt einfach, soviel Licht wie möglich auf unser Üben zu werfen, damit wir ein wenig mehr sehen. Disziplin kann eine bestimmte Form haben wie im zenda, oder sie kann ungeregelt sein wie in unserem täglichen Leben. Disziplinierte Schüler sind jene, die in ihren alltäglichen Tätigkeiten immer versuchen, Möglichkeiten zu finden, wie sie sich selbst wachrütteln können.
Die Frage ist immer die gleiche: Was sehen wir in diesem Augenblick, und was sehen wir nicht? Wenn wir richtig üben, werden wir eines Tages etwas sehen, was wir nie zuvor gesehen haben. Dann können wir damit arbeiten. Üben heißt, diesen subtilen Druck von morgens bis abends auszuüben. Wenn uns das gelingt, wird sich die überlagernde Struktur lichten, und wir werden unser Leben unverhüllter sehen, wie es ist.
Ich spreche hier von den großen Linien des Übens; solche Gedanken dazu mögen vielleicht manches überbetonen und anderes ein wenig übergehen. Das ist unvermeidlich. Fragen können helfen zu klären, was ich meine.

SCHÜLER: Es sind zwei Seelen von mir hier, und die kommen ganz durcheinander, wenn Sie Dinge sagen wie diese. Ein Teil von mir hat viele Ideale ...

JOKO: Ja, und gerade die wollen wir ja zerstören.

SCHÜLER: Wollen Sie damit sagen, daß ich mich nicht sozial engagieren sollte?

JOKO: Nein, natürlich will ich das nicht sagen.

SCHÜLER: Aber das ist doch ein Ideal.

JOKO: Nein, nein, nein ... das ist kein Ideal, das tun Sie einfach. Aber Sie sollten alle idealistischen Gedanken, die Sie dem, was Sie tun, hinzufügen, erkennen. Wenn jemand vor unserem Haus vor Hunger stirbt, fragen wir uns bestimmt nicht, was wir da tun sollen. Wir holen schnell etwas zu essen. Doch dann fällt uns vielleicht ein, wie lieb wir sind, daß wir so etwas tun. Das ist das, was wir hinzufügen. Das ist die überlagernde Struktur. Hier steht die Tat an sich und dort die überlagernde Struktur. Vor allem sollten wir etwas tun. Wenn wir die überlagernde Struktur überflüssig machen wollen, ist es am wirksamsten, all den Unsinn, den wir immer tun, weiterzutun, doch ihn mit soviel Bewußtsein wie nur irgend möglich zu tun. Dann erkennen wir mehr.

SCHÜLER: Nun, das ist eine Hälfte von mir. Die andere Hälfte ist arbeitslos und deprimiert und nicht satt, und dann hängen da noch einige andere Menschen von mir ab. Und ich höre, daß Sie sagen, ich sollte meinen Hunger und meine Arbeitslosigkeit schätzen und vielleicht gar nicht nach einer Stelle suchen?

JOKO: Nein, nein, keinesfalls! Wenn Sie keine Stelle haben, dann tun Sie alles, um eine zu bekommen. Oder wenn Sie krank sind, dann bemühen Sie sich nach Kräften, wieder gesund zu werden. Doch was Sie diesen grundlegenden Handlungen hinzufügen, das ist überlagernde Struktur. Es könnte so klingen: »Was bin ich für ein armes Wesen. Niemand wird mir je wieder eine Stelle geben!« Das ist die überlagernde Struktur. Keine Stelle zu haben, bedeutet, nach allen Möglichkeiten auf dem zugänglichen Markt nach einer neuen Stelle zu suchen, und, wenn notwendig, eine zusätzliche Ausbildung zu machen, um bessere Möglichkeiten zu haben. Doch was fügen wir den grundlegenden Fakten einer Situation nicht alles hinzu?

SCHÜLER: Ich habe über das Leben meiner Eltern und meine Beziehung zu ihnen nachgedacht. In bestimmten Bereichen scheinen sie sehr schwach zu sein, und auch ich habe damit Probleme. Die Psychologen sagen, die ersten fünf Lebensjahre seien von so großer Bedeutung, daß sie die Basis unseres Lebens bilden. Könnten Sie dazu etwas sagen?

JOKO: Nun, es gibt da einen absoluten Standpunkt und einen relativen Standpunkt. Vom relativen Standpunkt aus haben wir eine Geschichte. Jedem von uns ist viel widerfahren, und wir sind das, was wir sind, zumindest teilweise aufgrund dieser Geschichte. Doch in einem anderen Sinne haben wir keine Geschichte. Beim Üben des zen geht es darum, unseren Wunsch zu durchschauen, uns an unsere Geschichte zu klammern und Gründe (Gedanken) zu suchen, warum wir so sind, wie wir sind, anstatt mit der Wirklichkeit dessen zu arbeiten, was wir sind. Es gibt viele verschiedene Arten von Therapien. Doch jede Therapie, die einen dazu bringt, zu glauben, das eigene Leben sei schrecklich, weil einem jemand etwas angetan habe, ist zumindest unvollständig, denn hat nicht jeder von uns ähnliches erlebt? Doch in unserer Verantwortung liegt es immer, hier und jetzt die Wirklichkeit unseres Lebens, wie es ist, zu erleben. Und schließlich sollen wir dazu kommen, niemanden mehr verantwortlich zu machen. Wenn wir irgend jemanden verantwortlich machen, sind wir schon in die Falle gegangen. Dessen können wir sicher sein.

SCHÜLER: Woher wissen Sie das?

JOKO: Woher weiß ich was?

SCHÜLER: Woher wissen Sie all das?

JOKO: Ich möchte nicht behaupten, daß ich es weiß ... ich glaube, es wird einfach nach Jahren des za-zen offensichtlich. Ich erwarte auch nicht, daß Sie mir glauben. Ich möchte von niemandem hier, daß er glaubt, was ich sage, sondern ich möchte, daß Sie mit Ihrer eigenen Erfahrung arbeiten. Und dann sollten Sie selbst herausfinden, was für Sie wahr ist. Doch wollten Sie etwas Bestimmtes, von dem, was ich sagte, in Frage stellen?

SCHÜLER: Vielleicht stelle ich meine Bereitschaft, Ihnen zu glauben, in Frage.

JOKO: Ich will ja gar nicht, daß Sie mir glauben! Ich möchte, daß Sie üben. Wir sind beinahe wie Wissenschaftler, die mit ihrem eigenen Leben arbeiten. Wenn wir gut beobachten, finden wir selbst heraus, ob das Experiment funktioniert oder nicht. Wenn wir mit unserem Leben übend umgehen und sich die überlagernde Struktur langsam auflöst, dann werden wir es für uns selbst herausfinden. Manche Religionen sagen einfach: »Glaube.« Doch bei dem, war wir hier tun, hat der Glaube nichts zu suchen. Ich möchte nicht, daß irgend jemand mir glaubt. Es wird Ihnen nicht schlecht bekommen, wenn Sie üben. Nichts von dem, was ich Ihnen rate, kann Ihnen schaden.

SCHÜLER: Meine Frage ist mit der vorhergehenden vermischt. Es scheint mir, daß wir, um so zu üben, viel Vertrauen und Glauben in uns selbst haben müssen. So kommt es mir jedenfalls vor.

JOKO: Nun, dann nennen Sie es Glauben oder Selbstvertrauen, wenn Sie wollen. Ich glaube nicht, daß Sie hier wären, wenn Sie nicht das Gefühl hätten, daß das Üben Ihnen gut täte. Das hat natürlich in gewissem Sinn mit Glauben zu tun.

SCHÜLER: Meiner Meinung nach ist es wichtig zu wissen, was ich in der Kindheit erlebt habe ...

JOKO: Ich habe ja auch nicht gesagt, daß das nicht in einem gewissen Maß nützlich sein kann. Doch Ihr Erleben in diesem Augenblick umfaßt Ihr ganzes Dasein einschließlich der Vergangenheit, und es hängt alles davon ab, ob Sie wissen, wie Sie das erleben, wie Sie es wirklich erfahren können. Sehen Sie, wir sprechen ja viel darüber, was es bedeutet, die eigene Erfahrung zu sein. Doch das zu tun, ist nicht einfach, und es gelingt uns auch nur sehr selten. Es ist leicht, darüber Reden zu halten, wie es ist, wenn man erlebt, was wirklich ist, doch es ist schwierig, es zu tun, und deshalb versuchen wir dem gerne aus dem Weg zu gehen. Doch wenn wir richtig üben, wird sich unser Leben – die Vergangenheit wie die Gegenwart – von selbst lösen. Ganz allmählich.

SCHÜLER: Welchen Raum nehmen Gebet und Affirmationen beim zen-Übungsweg ein?

JOKO: Gebet und za-zen sind das gleiche. Es gibt da gar keinen Unterschied. Affirmationen würde ich eher vermeiden, da eine Affirmation wie beispielsweise: »Ich bin vollkommen gesund« zwar vorübergehend ein Gefühl des Wohlbefindens erzeugen kann, doch nicht der gegenwärtigen Realität Rechnung trägt, die vielleicht darin besteht, daß ich krank bin.

SCHÜLER: Was ist mit all den bösen Mächten, die uns umgeben und die immer stärker zu werden scheinen?

JOKO: Ich glaube nicht, daß uns böse Mächte umgeben. Ich glaube, daß böse Dinge getan werden, aber das ist etwas anderes. Wenn jemand einem Kind etwas antut, werden Sie ihn natürlich davon abhalten; doch den Betreffenden zu verdammen, ist zweifelhaft und selbst etwas Ungutes. Wir sollten gegen schlechte Handlungen kämpfen, aber nicht gegen Menschen. Denn sonst sind wir nur noch damit beschäftigt, jeden zu verurteilen und zu verdammen, einschließlich uns selbst.

SCHÜLER: Mit demselben Recht kann man dann aber auch niemanden gut nennen.

JOKO: Richtig. Im Grunde sind wir in zen-Begriffen nichts, Nicht-Etwas ... wir tun einfach das, was wir tun. Doch wenn wir die Unwirklichkeit der überlagernden Struktur erkennen, neigen wir dazu, Gutes zu tun. Wenn es keine Trennung mehr zwischen uns selbst und anderen gibt, tun wir ganz von selbst Gutes. Unserer Natur entspricht es im Grunde, Gutes zu tun.

SCHÜLER: Darin besteht unser Handeln.

JOKO: Ja, es geschieht ganz natürlich. Wenn wir nicht durch egozentrische Gedanken des Neides, der Wut und der Unwissenheit von den anderen getrennt sind, werden wir Gutes tun. Wir müssen uns nicht einmal dazu zwingen. Es ist unser natürlicher Zustand.



aus: Charlotte Joko Beck, Zen im Alltag