Die
überlagernde Struktur durchschauen
Lassen Sie mich
über unser Leben wie über ein Haus sprechen. Ein Haus, in dem wir leben in
einem ganz gewöhnlichen Leben. Es gibt stürmische Tage und schöne Tage;
manchmal muß das Haus wieder neu gestrichen werden. Alle Ereignisse, die in dem
Haus, unter den Menschen, die dort wohnen, geschehen, nehmen ihren Lauf. Wir
sind einmal krank, einmal gesund; einmal glücklich, einmal unglücklich; für die
meisten von uns ist es so. Wir leben unser Leben, wir leben in einem Haus oder
in einer Wohnung, und
die Dinge geschehen, so wie sie geschehen. Doch – und hier wird das Üben zu
etwas Wichtigem – besitzen wir dieses Haus und leben dennoch eingesperrt in
einem anderen Haus. Wir haben dieses schöne Haus, doch es ist überlagert und
umgeben von einem an deren Haus, in dem wir eigentlich leben. Es ist, als nähmen
wir eine Erdbeere und tauchten sie in flüssige Schokolade. Wir haben zwar noch
die Erdbeere, aber sie ist überzogen.
Unser Leben,
wie wir es leben (das Haus), ist vollkommen in Ordnung. Das meinen wir meistens
nicht, aber es ist in Wirklichkeit nichts an unserem Leben auszusetzen. Es ist
einfach so, wie es ist. Doch über unserem Haus bauen wir noch eines. Und wenn
wir nicht genau achtgegeben haben, kann diese überlagernde Struktur sehr dick
und sehr dunkel sein. Das Haus, in dem wir leben, wird uns dann düster und
eingeengt vorkommen, da wir es mit etwas Schwerem belastet haben. Diese schwere
Schicht kann etwas Undurchdringliches, Erschreckendes, Deprimierendes
ausstrahlen. Der größte Fehler, den wir in unserem Leben und bei unserem Üben
machen können, ist, zu glauben, daß das Haus, in dem wir wohnen – unser Leben
wie es ist mit all seinen Problemen, all seinen Höhen und Tiefen –, irgendwie
nicht in Ordnung wäre. Und weil wir das glauben, machen wir so viel Aufhebens.
Den größten Teil unseres Lebens haben wir dar auf hingearbeitet, diese
überlagernde Struktur zu schaffen.
Beim zen-Übungsweg geht es vor allem darum,
zu erkennen, daß wir das getan haben, und es geht darum zu sehen, wie diese
überlagernde Struktur eigentlich beschaffen ist, wie sie wirkt, woraus sie
besteht und was wir da mit tun oder nicht tun sollen. Meistens denken wir: »Es ist
etwas Unangenehmes, ich muß es loswerden.« Nein, ich glaube nicht, daß das so
geht. Im Grunde hat diese überlagernde Struktur, die unser Leben verdunkelt,
gar keine Wirklichkeit. Sie ist aus dem Mißbrauch unserer Gedankenkräfte
entstanden. Es geht gar nicht darum, sie loszuwerden, denn sie hat keine eigene
Realität; es geht darum, sie ihrem Wesen nach zu erkennen. Und wenn wir das
erkennen, wird diese Schicht plötzlich klarer, verliert ihre Schwere und
Düsternis, wir können durch sie hindurchsehen. Erleuchtung, also mehr Licht,
mehr Klarheit, ereignet sich beim Üben. Wir werden also nicht eine Struktur
abschaffen, sondern sie durchschauen als die Illusion, die sie ist, und indem
wir ihr wahres Wesen erkennen, kann sie sich nicht mehr so stark über unser
Leben ausbreiten. Zugleich sehen wir genauer, was sich in unserem Alltagsleben
abspielt. Es ist, als müßten wir einmal einen ganzen Kreislauf vollenden. Unser
Leben ist immer richtig, so wie es ist. Es gibt nichts daran auszusetzen.
Selbst wenn wir die größten Probleme haben, ist es noch unser Leben. Doch da
wir uns weigern, das Leben so anzunehmen, wie es ist, da wir die angenehmen
Dinge vorziehen, picken wir uns immer etwas aus dem Leben heraus. Anders
gesagt: Wir haben gar. nicht die Absicht, mit dem Leben zurechtzukommen, wie es
ist, wenn es uns gerade nicht paßt.
Jeder von
Ihnen, der hier sitzt, kennt bestimmte Ereignisse in seinem Leben, die er
einfach nicht akzeptieren will: »Das kann nicht sein! Das darf nicht sein!«
Beispielsweise, als ich ein junges Mädchen war, war es für mich auf keinen Fall
in Ordnung, an einem Samstagabend keine Verabredung zu haben. Ich deutelte an
dieser unangenehmen Tatsache herum: »Irgend etwas stimmt nicht. Vielleicht
sollte ich mir eine andere Frisur machen oder meine Nägel in einer anderen
Farbe lackieren. Ich sollte ... Ich müßte ... Ich bräuchte ... « Das ist
freilich ein lächerliches Beispiel. Doch auch bei den größten Tragödien in unserem Leben machen wir das gleiche. Da wir so wenig bereit sind, das Leben
anzunehmen, wie es ist, fügen wir immer irgend etwas hinzu. Niemand von uns
hier ist da von frei. Wirklich niemand. Solange wir leben, werden wir zumindest
immer eine dünne Schicht haben, die den wesentlichen Kern unseres Lebens
überlagert. Doch wie dick diese Schicht ist, das genau ist die Frage.
Beim zen-Üben
geht es nicht um einen besonderen Ort oder um einen besonderen Frieden oder um
irgend etwas anderes, als einfach unser Leben zu leben, wie es ist. Das ist das
Schwierigste für die meisten Menschen: daß gerade meine Schwierigkeiten in
diesem Augenblick die Vollkommenheit sind. »Was soll das heißen? Sie sind die
Vollkommenheit? Ich werde üben und werde sie dann loswerden!« Nein, wir müssen
sie nicht loswerden, sondern wir müssen ihr wahres Wesen erkennen. Die Schicht,
die sich darübergelagert hat, wird dünner (oder scheint dünner); sie wird immer
durchsichtiger, und manchmal bekommt sie sogar hier und da Löcher. Manchmal.
Ich möchte Sie nun bitten, für sich selbst herauszufinden, was in Ihrem Leben
jetzt gerade so ist, daß Sie es nicht annehmen wollen. Es könnten Schwierigkeiten
mit Ihrem Partner sein, Arbeitslosigkeit, Enttäuschung über ein nicht
erreichtes Ziel. Selbst wenn das, was geschieht, Sie mit Angst und Kummer
erfüllt, ist es gut. Es ist sehr schwer, das zu begreifen. Es bedarf schon sehr
intensiven Übens, um in unsere gewöhnliche Sicht, das Leben zu betrachten, auch
nur eine Bresche zu schlagen. Es ist schwer, einzusehen, daß wir die
Unannehmlichkeiten nicht loswerden müssen. Die Unannehmlichkeiten sind gut, wie sie
sind. Wir müssen Sie ja nicht mögen, aber wir sollten Sie annehmen.
Der erste
Schritt auf dem Übungsweg besteht darin, zu erkennen, daß wir diese
überlagernde Struktur geschaffen haben. Und beim za-zen (vor allem beim
Benennen unserer Gedanken) beginnen wir zu erfahren, daß wir unser Leben fast
nie so leben, wie es ist. Unser Leben verliert sich in egozentrischen Gedanken,
und diese sind die Substanz dieser überlagernden Struktur. (Wir gehen davon
aus, daß wir diese Struktur durchschauen wollen. Aber manche Menschen wollen
das einfach nicht. Und auch das ist in Ordnung. Nicht jeder sollte sich auf zen
einlassen. Das ist sehr fordernd, es ist desillusionierend. Es kann uns anfangs
abschreckend erscheinen. Doch das ist nur die eine Seite. Die andere Seite ist,
daß das Leben durch diesen Übungsweg unbeschreiblich erfüllender wird. Beide
Seiten gehören zusammen.) So bekommen wir durch das Üben vor allem eine
zunächst noch dunkle Ahnung von dem, womit wir unser Leben überdeckt haben; der
zweite Schritt besteht sodann darin, mit dem Üben zu beginnen. Befreiung ist
es, diese unwirkliche, überlagernde Struktur, die wir geschaffen haben,
wirklich zu durchschauen. Ohne sie entfaltet sich das Leben, wie es sich
entfaltet, ohne Hindernisse. Hat das einen Sinn? Es klingt recht merkwürdig,
nicht wahr?
Laßt uns
erkennen, daß gerade unsere Ideale diese überlagernde Struktur sind. Wenn wir
darin befangen sind, wie wir sein zu müssen glauben oder wie wir glauben, die
anderen müßten sein, können wir das Leben, wie es ist, kaum wirklich schätzen.
Das Üben muß unsere falschen Ideale erschüttern. Und damit sagen wir etwas, was
für die meisten nicht im geringsten akzeptabel ist. Sehen Sie sich doch jetzt
Ihr Üben an und fragen Sie sich, ob
Sie das
überhaupt wollen. Nachdem man eine Weile gesessen hat, kommen doch Gedanken
auf, wie: »Ich will es nicht! Ich will es auf keinen Fall!« Aber auch das
gehört zum Übungsweg.
Diese von uns
geschaffene Struktur zu sehen, ist ein sehr subtiler Vorgang, der viel von uns
fordert. Das Geheimnis liegt darin, daß wir diese unwirkliche Struktur viel mehr
schätzen als unser wirkliches Leben. Es gibt Menschen, die sich lieber das
Leben genommen haben, als ihre überlagernde Struktur zu zerstören. Lieber geben
sie ihr physisches Leben auf als ihre Bindung an ihre Träume. Und das ist nicht
einmal selten. Doch ob wir Selbstmord begehen oder nicht, wenn unsere Bindung
an unsere Träume und Illusionen nicht hinterfragt wird und unberührt bleibt,
töten wir uns selbst, da uns das wahre Leben fast völlig entgeht. Wir werden
erstickt von den Idealvorstellungen darüber, wie wir zu sein hätten und wie wir
glauben, daß die anderen zu sein hätten. Es ist eine Katastrophe. Und daß wir
diese Katastrophe nicht sehen, liegt daran, daß unsere Träume sehr angenehm und
sehr verführerisch sein können. Gewöhnlich glauben wir, eine Katastrophe sei
ein Ereignis wie der Untergang der Titanic. Doch wenn wir in unseren
illusionären Idealen und Phantasievorstellungen versinken, so ist das die
Katastrophe, so angenehm sie auch scheinen mögen. Wir gehen damit unter.
Noch etwas
anderes. Ich sprach mit meiner Tochter über einen Mann, der unmögliche Dinge
tat, und murmelte: »Er sollte sich bewußter sein über das, was er tut.« Sie
lachte und sagte: »Mama, wenn du unbewußt bist, was ist dann das Wesen des
Unbewußten? Unbewußt zu sein.« Und sie hatte recht. Unbewußt zu sein bedeutet,
daß man nicht sehen kann, was man tut. Eines der Probleme beim Üben ist
also, daß wir alle bis zu einem gewissen Grad unbewußt und dadurch gar nicht
bereit sind, bewußter zu werden. Wie überwinden wir das? Das ist zum Teil meine
Aufgabe, aber zum großen Teil Ihre. Ich erinnere mich an einen langjährigen
Schüler, der vor einigen Jahren eine wunderbare Rede über das Geben und über
das Mitgefühl gehalten hatte. Einen Tag danach beobachtete ich ihn, als er sich
mit einer Gruppe von Menschen versammelt hatte, um den Meister zu sehen. Er
drängte sich beinahe rücksichtslos nach vorne durch - und war sich seiner
Egozentrik völlig unbewußt. Solange wir nicht erkennen, was wir tun, werden wir
weiter so handeln. Also ist es eine Aufgabe zum Üben, die Fähigkeit zu sehen zu
steigern.
Für manche von
uns bedeutet Disziplin, sich zu etwas zu zwingen. Doch Disziplin heißt einfach,
soviel Licht wie möglich auf unser Üben zu werfen, damit wir ein wenig mehr sehen.
Disziplin kann eine bestimmte Form haben wie im zenda, oder sie kann ungeregelt
sein wie in unserem täglichen Leben. Disziplinierte Schüler sind jene, die in
ihren alltäglichen Tätigkeiten immer versuchen, Möglichkeiten zu finden, wie
sie sich selbst wachrütteln können.
Die Frage ist
immer die gleiche: Was sehen wir in diesem Augenblick, und was sehen wir nicht?
Wenn wir richtig üben, werden wir eines Tages etwas sehen, was wir nie zuvor
gesehen haben. Dann können wir damit arbeiten. Üben heißt, diesen subtilen
Druck von morgens bis abends auszuüben. Wenn uns das gelingt, wird sich die
überlagernde Struktur lichten, und wir werden unser Leben unverhüllter sehen,
wie es ist.
Ich spreche
hier von den großen Linien des Übens; solche Gedanken dazu mögen vielleicht
manches überbetonen und anderes ein wenig übergehen. Das ist unvermeidlich.
Fragen können helfen zu klären, was ich meine.
SCHÜLER: Es
sind zwei Seelen von mir hier, und die kommen ganz durcheinander, wenn Sie
Dinge sagen wie diese. Ein Teil von mir hat viele Ideale ...
JOKO: Ja, und
gerade die wollen wir ja zerstören.
SCHÜLER: Wollen
Sie damit sagen, daß ich mich nicht sozial engagieren sollte?
JOKO: Nein,
natürlich will ich das nicht sagen.
SCHÜLER: Aber
das ist doch ein Ideal.
JOKO: Nein,
nein, nein ... das ist kein Ideal, das tun Sie einfach. Aber Sie sollten alle
idealistischen Gedanken, die Sie dem, was Sie tun, hinzufügen, erkennen. Wenn
jemand vor unserem Haus vor Hunger stirbt, fragen wir uns bestimmt nicht, was
wir da tun sollen. Wir holen schnell etwas zu essen. Doch dann fällt uns
vielleicht ein, wie lieb wir sind, daß wir so etwas tun. Das ist das, was wir
hinzufügen. Das ist die überlagernde Struktur. Hier steht die Tat an sich und
dort die überlagernde Struktur. Vor allem sollten wir etwas tun. Wenn wir die
überlagernde Struktur überflüssig machen wollen, ist es am wirksamsten, all den
Unsinn, den wir immer tun, weiterzutun, doch ihn mit soviel Bewußtsein wie nur
irgend möglich zu tun. Dann erkennen wir mehr.
SCHÜLER: Nun,
das ist eine Hälfte von mir. Die andere Hälfte ist arbeitslos und deprimiert
und nicht satt, und dann hängen da noch einige andere Menschen von mir ab. Und
ich höre, daß Sie sagen, ich sollte meinen Hunger und meine Arbeitslosigkeit
schätzen und vielleicht gar nicht nach einer Stelle suchen?
JOKO: Nein,
nein, keinesfalls! Wenn Sie keine Stelle haben, dann tun Sie alles, um eine zu
bekommen. Oder wenn Sie krank sind, dann bemühen Sie sich nach Kräften, wieder
gesund zu werden. Doch was Sie diesen grundlegenden Handlungen hinzufügen, das
ist überlagernde Struktur. Es könnte so klingen: »Was bin ich für ein armes
Wesen. Niemand wird mir je wieder eine Stelle geben!« Das ist die überlagernde
Struktur. Keine Stelle zu haben, bedeutet, nach allen Möglichkeiten auf dem
zugänglichen Markt nach einer neuen Stelle zu suchen, und, wenn notwendig, eine
zusätzliche Ausbildung zu machen, um bessere Möglichkeiten zu haben. Doch was
fügen wir den grundlegenden Fakten einer Situation nicht alles hinzu?
SCHÜLER: Ich
habe über das Leben meiner Eltern und meine Beziehung zu ihnen nachgedacht. In
bestimmten Bereichen scheinen sie sehr schwach zu sein, und auch ich habe damit
Probleme. Die Psychologen sagen, die ersten fünf Lebensjahre seien von so
großer Bedeutung, daß sie die Basis unseres Lebens bilden. Könnten Sie dazu
etwas sagen?
JOKO: Nun, es
gibt da einen absoluten Standpunkt und einen relativen Standpunkt. Vom relativen
Standpunkt aus haben wir eine Geschichte. Jedem von uns ist viel widerfahren,
und wir sind das, was wir sind, zumindest teilweise aufgrund dieser Geschichte.
Doch in einem anderen Sinne haben wir keine
Geschichte. Beim Üben des zen geht es
darum, unseren Wunsch zu durchschauen, uns an unsere Geschichte zu klammern und
Gründe (Gedanken) zu suchen, warum
wir so sind, wie wir sind, anstatt mit der Wirklichkeit dessen zu arbeiten, was
wir sind. Es gibt viele verschiedene Arten von Therapien. Doch jede Therapie,
die einen dazu bringt, zu glauben, das eigene Leben sei schrecklich, weil einem
jemand etwas angetan habe, ist zumindest unvollständig, denn hat nicht jeder
von uns ähnliches erlebt? Doch in unserer Verantwortung liegt es immer, hier
und jetzt die Wirklichkeit unseres Lebens, wie es ist, zu erleben. Und
schließlich sollen wir dazu kommen, niemanden mehr verantwortlich zu machen. Wenn
wir irgend jemanden verantwortlich machen, sind wir schon in die Falle gegangen.
Dessen können wir sicher sein.
SCHÜLER: Woher
wissen Sie das?
JOKO: Woher
weiß ich was?
SCHÜLER: Woher
wissen Sie all das?
JOKO: Ich
möchte nicht behaupten, daß ich es weiß ... ich glaube, es wird einfach nach Jahren
des za-zen offensichtlich. Ich
erwarte auch nicht, daß Sie mir glauben. Ich möchte von niemandem hier, daß er
glaubt, was ich sage, sondern ich möchte, daß Sie mit Ihrer eigenen Erfahrung
arbeiten. Und dann sollten Sie selbst herausfinden, was für Sie wahr ist. Doch
wollten Sie etwas Bestimmtes, von dem, was ich sagte, in Frage stellen?
SCHÜLER:
Vielleicht stelle ich meine Bereitschaft, Ihnen zu glauben, in Frage.
JOKO: Ich will
ja gar nicht, daß Sie mir glauben! Ich möchte, daß Sie üben. Wir sind beinahe
wie Wissenschaftler, die mit ihrem eigenen Leben arbeiten. Wenn wir gut
beobachten, finden wir selbst heraus, ob das Experiment funktioniert oder
nicht. Wenn wir mit unserem Leben übend umgehen und sich die überlagernde
Struktur langsam auflöst, dann werden wir es für uns selbst herausfinden.
Manche Religionen sagen einfach: »Glaube.« Doch bei dem, war wir hier tun, hat
der Glaube nichts zu suchen. Ich möchte nicht, daß irgend jemand mir glaubt. Es
wird Ihnen nicht schlecht bekommen, wenn Sie üben. Nichts von dem, was ich
Ihnen rate, kann Ihnen schaden.
SCHÜLER: Meine
Frage ist mit der vorhergehenden vermischt. Es scheint mir, daß wir, um so zu
üben, viel Vertrauen und Glauben in uns selbst haben müssen. So kommt es mir
jedenfalls vor.
JOKO: Nun, dann
nennen Sie es Glauben oder Selbstvertrauen, wenn Sie wollen. Ich glaube nicht,
daß Sie hier wären, wenn Sie nicht das Gefühl hätten, daß das Üben Ihnen gut
täte. Das hat natürlich in gewissem Sinn mit Glauben zu tun.
SCHÜLER: Meiner
Meinung nach ist es wichtig zu wissen, was ich in der Kindheit erlebt habe ...
JOKO: Ich habe
ja auch nicht gesagt, daß das nicht in einem gewissen Maß nützlich sein kann.
Doch Ihr Erleben in diesem Augenblick umfaßt Ihr ganzes Dasein einschließlich
der Vergangenheit, und es hängt alles davon ab, ob Sie wissen, wie Sie das
erleben, wie Sie es wirklich erfahren können. Sehen Sie, wir sprechen ja viel
darüber, was es bedeutet, die eigene Erfahrung zu sein. Doch das zu tun, ist
nicht einfach, und es gelingt uns auch nur sehr selten. Es ist leicht, darüber
Reden zu halten, wie es ist, wenn man erlebt, was wirklich ist, doch es ist
schwierig, es zu tun, und deshalb versuchen wir dem gerne aus dem Weg zu gehen.
Doch wenn wir richtig üben, wird sich unser Leben – die Vergangenheit wie die
Gegenwart – von selbst lösen. Ganz allmählich.
SCHÜLER:
Welchen Raum nehmen Gebet und Affirmationen beim zen-Übungsweg ein?
JOKO: Gebet und
za-zen sind das gleiche. Es gibt da
gar keinen Unterschied. Affirmationen würde ich eher vermeiden, da eine
Affirmation wie beispielsweise: »Ich bin vollkommen gesund« zwar vorübergehend
ein Gefühl des Wohlbefindens erzeugen kann, doch nicht der gegenwärtigen
Realität Rechnung trägt, die vielleicht darin besteht, daß ich krank bin.
SCHÜLER: Was
ist mit all den bösen Mächten, die uns umgeben und die immer stärker zu werden
scheinen?
JOKO: Ich
glaube nicht, daß uns böse Mächte umgeben. Ich glaube, daß böse Dinge getan
werden, aber das ist etwas anderes. Wenn jemand einem Kind etwas antut, werden
Sie ihn natürlich davon abhalten; doch den Betreffenden zu verdammen, ist
zweifelhaft und selbst etwas Ungutes. Wir sollten gegen schlechte Handlungen
kämpfen, aber nicht gegen Menschen. Denn sonst sind wir nur noch damit
beschäftigt, jeden zu verurteilen und zu verdammen, einschließlich uns selbst.
SCHÜLER: Mit
demselben Recht kann man dann aber auch niemanden gut nennen.
JOKO: Richtig.
Im Grunde sind wir in zen-Begriffen
nichts, Nicht-Etwas ... wir tun einfach das, was wir tun. Doch wenn wir die
Unwirklichkeit der überlagernden Struktur erkennen, neigen wir dazu, Gutes zu
tun. Wenn es keine Trennung mehr zwischen uns selbst und anderen gibt, tun wir
ganz von selbst Gutes. Unserer Natur entspricht es im Grunde, Gutes zu tun.
SCHÜLER: Darin
besteht unser Handeln.
JOKO: Ja, es
geschieht ganz natürlich. Wenn wir nicht durch egozentrische Gedanken des
Neides, der Wut und der Unwissenheit von den anderen getrennt sind, werden wir
Gutes tun. Wir müssen uns nicht einmal dazu zwingen. Es ist unser natürlicher
Zustand.
aus: Charlotte Joko Beck, Zen im Alltag