Freitag, 7. November 2014

Kritik am Umgang mit den fünf Hemmungen

Der Hauptpunkt, um den es mir beim Umgang mit den Hemmungen geht (Die fünf Hemmungen, Post vom Vortag), ist die Schaffung und Aufrechterhaltung von Veränderungsmöglichkeit. Daß das Christentum die Hemmungen als »Laster« bezeichnet (ich kümmere mich jetzt nicht um die Übersetzungsproblematik), ist unglücklich. Ich habe mir auch wohlüberlegt den Begriff der Hemmung für meine beiden Texte gewählt, obwohl »Hindernis« ebenfalls möglich gewesen wäre.
Bei den fünf Hemmungen (und damit sind ebenfalls die sieben christlichen Laster gemeint) wird der Bereich fundamentaler Persönlichkeitsanteile berührt. Ein Umgang mit diesen Hemmungen erfordert Fingerspitzengefühl, Einfühlungsvermögen, Gelassenheit und Sympathie. 
Als Psychotherapeut bin ich davon überzeugt, daß Veränderungen in diesem Bereich zwei wichtige Gegebenheiten zur Voraussetzung haben:
1. ein Gegenüber und
2. dessen wohlwollendes Verstehen

Ich nenne diese Voraussetzungsqualität den »liebevollen Blick«, da dessen Abwesenheit in der Bewältigung bestimmter kindlicher Problemkonstellationen Ursache für die Ausformung des Charakters der Person war. Was zur Folge hat, daß der Erwachsene Verantwortung übernehmen muß für eine Charakterstruktur, für die er primär keine Verantwortung hat, da sie ihm in der Kindheit die einzige zur Verfügung stehende Umgangsmöglichkeit für etwas war, das er anders nicht zu bewältigen imstande gewesen wäre.


Grundvoraussetzung für Veränderungen in diesem Bereich ist also ein wohlwollendes Verstehen für eine Ausformung des Charakters, unter dessen seelischen Prozessen die Person zwar einerseits leidet, mit denen sie sich aber identifiziert. Jeglicher Umgang mit dem, was verändert werden soll, hat aber dessen (verstehende und wohlwollende) Anerkennung zur Voraussetzung.


Zitieren wir Freud:

Der Patient muß den Mut erwerben, seine Aufmerksamkeit mit den Erscheinungen der Krankheit zu beschäftigen. Die Krankheit selbst darf ihm nichts Verächtliches mehr sein, vielmehr ein würdiger Gegner werden, ein Stück seines Wesens, das sich auf gute Motive stützt, aus dem es Wertvolles für sein späteres Leben zu holen gilt. Die Versöhnung mit dem Verdrängten, welches sich in den Symptomen äußert, wird so von Anfang an vorbereitet, aber es wird auch eine gewisse Toleranz fürs Kranksein eingeräumt. 
(zitiert in Mark Epstein, Gedanken ohne den Denker, Kap. 1, Hungergeister, Post, 09.04.2008)

Nehmen wir zum Beispiel die Hemmung, die »Aufgewühltheit« genannt wird. Ich nenne sie lieber »Reagibilität«, womit ich ausdrücken will, daß die Person leicht auf bestimmte Außenreize »anspringt«. Natürlich fehlt dieser Person Gelassenheit. Dieses Wissen aber genügt für das Verstehen der inneren Zwangslage der Person nicht. (Weswegen ich glaube, daß das Meditieren auf einen geistigen Zustand des Gelassen-Seins alleine nicht genügt bzw. nicht genügend stabil ist.) Wichtig ist die Erkenntnis, daß die betreffende Person – ohne daß es ihr notwendigerweise bewußt ist – eine unerträglich große Furcht vor den (in der Kindheit erlebten und jetzt in der Gegenwart phantasierten) Konsequenzen ihres Nicht-Reagierens fühlt (, was in den meisten Fällen verdrängt wird und erst ins Bewußtsein geholt werden muß) und mit ihrem ständigen »Anspringen« diese Furcht (vor der Reaktion anderer auf ihr Nicht-Reagieren) in Schach hält.


Diese Furcht muß zuerst in der Beziehung mit einem wohlwollenden und verstehenden Gegenüber erlebt werden können, damit als allererstes die Person in ihrem Gegenüber wahrnehmen kann, daß ihr Gegenüber diese Furcht auszuhalten imstande ist. In dieser – nicht zwingend therapeutischen – Beziehung kann die betreffende Person nun erleben, daß ihr Gegenüber eine außerordentlich unangenehme – und oft mit Scham besetzte – Gefühlslage auszuhalten imstande ist. Und dieses Erleben ist die Voraussetzung dafür, daß die Person diese unangenehme Gefühlsqualität nun selbst aushalten kann. Das Aushalten-Können wiederum ist die Voraussetzung für die notwendige Distanzierung: dadurch wird das Gefühl nicht mehr als dermaßen bedrängend erlebt.


Ich habe mich der Einfachheit halber auf die vierte Hemmung beschränkt, gehe aber davon aus, daß das Schema der Veränderungsvoraussetzung auf die anderen Hemmnisse in gleicher Weise zutrifft. Ich habe den Begriff der Hemmung gewählt, um einen innerseelischen Prozeß anzudeuten, der zuerst einmal subjektiv als dem Ich zugehörig und als eine Form von Gehemmtheit erlebt wird. Der Begriff des Hindernisses würde etwas als von außen Gekommenes beschreiben, was aus der Sicht der betreffenden Person aber zuerst einmal als aus sich selbst kommend erlebt wird.


Meine Ausführungen führen zum Schluß, daß größere oder längerdauernde Schwierigkeiten in diesen Bereichen therapeutischer Begleitung bedürfen.


Zitat aus Die 5 Hindernisse (Pagode Phật Huệ):

Die rastlose Person soll lernen, alles so zu akzeptieren, wie es ist und mit wenig zufrieden zu sein. Dadurch kann sie sich davon befreien, ständig nach Fehlern suchen zu müssen. Wenn sich Genügsamkeit einstellt, kann sie auch noch am Geringsten ihre Freude zu haben. Da nicht das „mehr und mehr“ Glückseeligkeit verschafft, ist es wichtig, die Dankbarkeit in jedem Augenblick der Gegenwart zu spüren (4). Rastlose müssen strenge Disziplin entwickeln und ihr Leben ordnen (5).

Das erscheint mir recht uneinfühlsam und auch kaum umzusetzen, und ich habe meine Zweifel, ob diese Anweisungen zum gewünschten Ziel führen. Wenn Buddha selbst davon spricht, weltliche Begierden auszuschalten oder Trägheit auszumerzen (wieder kümmere ich mich nicht um die Übersetzung), benutzt er Begriffe, die für den Umgang mit problematischen Charakterzügen kontraproduktiv sind und mit Vorsicht und Zurückhaltung »neu übersetzt« werden sollten.

Während die westliche Psychotherapie in puncto Achtsamkeit sehr viel vom Zen lernen kann, kann umgekehrt das psychoanalytische Wissen um die Bedingtheiten charakterlicher Ausformungen für den Zen-Weg hilfreich sein.



Mein zweiter Kritikpunkt ist die früher von mir immer wieder bewunderte Stufenorganisation der Persönlichkeitsentwicklung, sehr eindrucksvoll dargestellt in den Bildresümees des Buddhismus (Hans Gruber, Buddha heute). Ich glaube heute nicht mehr, daß das so funktioniert.



Nehmen wir als sehr vereinfachtes Beispiel die Organisation des Farbkreises: Wenn ich bei Rot (im Uhrzeigersinn) beginne, werde ich erst, wenn ich weit im Blau bin, ein halbwegs sicheres Gefühl dafür haben, daß ich mich fortbewegt habe. Die recht mechanistische Beschreibung des Entwicklungsweges der Persönlichkeit mag zwar für den Anfänger verlockend und für denjenigen, der auf dem Weg schon weiter fortgeschritten ist, nachvollziehbar sein, für denjenigen, der sich auf dem Weg befindet, ist diese stufenartige Beschreibung wenig hilfreich, aus meiner Sicht sogar eher ein Hindernis. Ich rate also allen an ihrer Entwicklung Arbeitenden, sich um solche Modelle nicht groß zu kümmern.


Alles, was ich beschrieben und kritisiert habe, wurde von Menschen gemacht. Die Tatsache, daß sie es gut gemeint haben, bedeutet nicht, daß die Wahl ihrer Sprache oder ihrer Modelle automatisch hilfreich ist, bedeutet auch keinen prinzipiellen Makel der betreffenden Weltanschauung oder Religion, da auch diese von Menschen gemacht, interpretiert und in eine sprachliche Form gebracht werden. Auch diese Konzepte – wie auch die meinigen – sind immer nur Konzepte. Sie dürfen nicht mit der Realität verwechselt werden…