Montag, 21. Dezember 2015

Eine Psychoanalyse der Kirche – Die Wunde, die man nicht heilen kann

Mit den Mitteln der Psychoanalyse geht der Psychotherapeut und Theologe Dieter Funke den Ursachen des sexuellen Missbrauchs im Umkreis der katholischen Kirche nach. Seiner Meinung nach stehen Traumatisierungen schon am Anfang des Christentums. Sie führten zur Abspaltung von Sex und Sinnlichkeit und erheben die »Heilige Familie«, die makellose Jungfrau und den asexuellen Kleriker zum Ideal. Doch damit werde auch die sexuelle Gewalt begünstigt...
mehr:
- Eine Psychoanalyse der Kirche – Die Wunde, die nicht heilen kann (Dieter Funke, connection-Archiv, August 2014?)
Der Grund für die Verteufelung und Abspaltung des Sexuellen liegt darin, dass Trieb und Sexualität das Ideal des unbefleckten Klerikerkörpers bedrohen. Diesem kollektiven Klerikerideal liegen vergessene und verdrängte Traumatisierungen an den Wurzeln des Christentums zugrunde. Zu nennen ist hier vor allem die theologische Konstruktion der »Heiligen Familie«, die als traumatisierendes Beziehungsmodell Pate steht: Der Vater ist nicht der richtige Vater und kein sexueller Partner der Mutter. Die Mutter ist keine richtige Frau, sondern Jungfrau. Der Sohn wird auf diese Weise seiner Kind-Position beraubt und gerät zum Ersatzpartner der Mutter. Dieser wird von der Mutter zum besseren Partner gemacht, er sitzt auf Vaters Platz.

Solche Beziehungsmodelle sind geprägt von ständiger Rivalität und Machtkämpfen, von Größenfantasien und depressiven Schuldgefühlen, von Entwertungen und Idealisierungen, wie sie sich in der biblischen Konstruktion der Heiligen Familie wiederfinden. Jesus wird zum Partner von Maria, indem der Vater ausgeschlossen und das Kind sexualisiert wird. Das gibt Jesus das großartige Auserwähltheitsgefühl, wie es für Kinder typisch ist, die als Ersatzpartner missbraucht wurden. Gleichzeitig löst dies in ihm tiefe Schuldgefühle aus, die durch die Unterwerfung unter den Willen des Vaters bewältigt werden und worin der spätere christliche Masochismus der Leidensunterwerfung begründet liegt. Unterwerfungsbereitschaft (»unter die Schmach des Kreuzes«) und Überlegenheitsgefühle (Jesus wird an die Stelle des Vaters gesetzt) sind die Folgen der Funktionalisierung als Ersatzpartner.

Diese Feststellung ist keine moralische und hat nichts mit Schuld zu tun, sondern mit Verletzungen. In den biblischen Texten und den Erzählungen der Frömmigkeitsgeschichte wird eine traumatisierte Familie beschrieben: Die Geburt Jesu findet in der Heimatlosigkeit statt, dann folgen Flucht und Morddrohung. Die Eltern sind überfordert. Natürlich hat sich Jesus als Kompensation für diese Traumatisierungen nicht selbst an die Stelle Gottvaters gesetzt. Diese Sicht der Evangelien und der ersten nachchristlichen Jahrhunderte mit ihren Konzilien ist vielmehr das Konstrukt einer Gruppe von Jesus-Anhängern, die selbst schweren Verfolgungen und Entbehrungen ausgesetzt waren.
siehe auch:
- Funke, Dieter: Ich – Eine Illusion? Bewusstseinskonzepte in Psychoanalyse, Mystik und Neurowissenschaften (Rezension von Gotthard Fuchs, Christ in der Gegenwart, 28/2014)
- Vom Zauber in anderer Leute Häuser zu schauen (Hannelore Hippe, Deutschlandfunk, SWR3, 2013, PDF)
- Zum Verhältnis von Psychotherapie und Religion (Carsten Kießwetter, Tag des Herrn Online, Archiv, 19/1999, 16.05.1999)
Im Zuge der gesellschaftlichen Differenzierung habe sich aus der kirchlichen Sorge um die Seelen eine weltliche Seelen-Heilkunde entwickelt. So bezeichne sich die Allgemeine Ortskrankenkasse AOK neuerdings als "Gesundheitskasse", also als eine Organisation, die für das gesamte Heil der Menschen zuständig sei

Für die Seelsorge stellte Pater Funke einen gravierenden Verlust an Wissen im Umgang mit der seelischen Wirklichkeit des Menschen fest. Die Seelsorge kümmere sich, oft in Unkenntnis der seelischen Wirklichkeit des Menschen, nur noch um deren abstraktes Seelenheil. Die konfliktlösende Kraft der Religion im Hinblick auf Grundfragen des Lebens wie Liebe und Haß, Schuld und Vergebung, Abschied und Neubeginn, Leben und Sterben könnte bestenfalls als moralisches Pflichtgebot, nicht aber als psychisches und damit vormoralische Verordnung erfahren werden. […]

Die Psychotherapie übernimmt, so Funke, die Aufgabe, seelisch leidende Menschen aus ihren Fixierungen und ihren Lebenseinschränkungen herauszuführen. Dieser Prozeß geschehe mittels Kommunikation. Psychotherapie wolle dem Leidenden helfen, seinem Leid auf den Grund zu gehen, es tiefer zu verstehen. Diesem Vorgang, der das Heilen an Einsicht in Wahrheit bindet, wohne eine religiöse Dimension inne. Das Bewußtwerden der inneren Wirklichkeit, des wahren Selbst, sei oft mit einem tiefen Erschrecken, "einem heiligen Schaudern", wie Funke es nennt, verbunden. Das Verdrängte hat dem Leidenden die Freiheit für eine kreative Lebensführung genommen. Im Falle einer gelungenen Psychotherapie werde es ihm möglich aufzuhören, sich von Illusionen über die Wirklichkeit hinwegtäuschen zu lassen. Die Psychotherapie werde in der modernen Gesellschaft deshalb zunehmend zum Ort authentischen Lebens. Sie werde deshalb zur Ersatzreligion, da die Religion offensichtlich nicht mehr gesellschaftlich angenommen wird. Deshalb vermittele die Psychotherapie mittlerweile Erfahrungen, die ursprünglich in der Religion und im Christentum zu Hause waren […]

Der Mensch benötige einen Raum, in dem nichts "exkommuniziert" werde und der in gewisser Weise vormoralisch sei. Dieser vormoralische Raum, der die Liturgie kennzeichne, sei durch die Doktrinalisierung und Objektivierung des Glaubens heimat- und ortlos geworden. Deshalb vermittle die Psychotherapie heute Erfahrungen, die früher die Religion vermittelt habe. Im vormoralischen Raum, was nicht bedeute, daß Religion keine moralische Kompetenz mehr haben solle, müsse wieder eine "unzensierte Lebenserlaubnis" möglich sein. Für die Pastoral bedeute dies, die "vorsprachliche Dimension" des Menschen wieder ernster zu nehmen als bisher. Da das Unbewußte des Menschen ein bedeutender Faktor sei, sollte die Pastoral Orte anbieten, an denen der Mensch "ganz" er selbst sein könne […]

denn gegenüber einer idealistischen Vorstellung von Ganzheit und Glück der Moderne sei das Menschenbild der Theologie viel realistischer. Menschliches Dasein stehe bei ihr unter dem Vorzeichen der Gebrochenheit menschlicher Existenz, die niemals aufzuheben sei. Leben sei bei ihr immer konflikthaftes und durchkreuztes Leben. In der Psychotherapie stehe der Konflikt für die Gebrochenheit des Menschen, in der christlichen Religion das Kreuz. Diese Gebrochenheit religiös oder psychotherapeutisch aufheben zu wollen, komme einer Illusion gleich, stellte Pater Funke zusammenfassend fest. Dies aufzuklären sei gleichermaßen die Aufgabe von Religion und Psychotherapie
- Religion und Gewalt bei den Kindern Abrahams (Wolf Schneider, 12.01.2015)
Die drei gewalttätigsten Religionen der Erde beziehen sich alle drei auf Stammvater Abraham, der dafür geehrt wird, dass er fast seinen eigenen Sohn abgemurkst hätte, weil ihm in einer Vision ein Phantom erschien, welches das verlangte. Kein Wunder, dass diese drei Religionen gewalttätig sind! Wir sollten lieber Väter und Mütter ehren, die ihren Kindern niemals sowas antun würden, egal welche Visionen sie haben.