Mittwoch, 8. Juni 2011

Der Ödipuskomplex, ein Beispiel aus der Therapie

Der Ödipuskonflikt oder Ödipuskomplex ist ein psychoanalytisches Konzept, dessen Gültigkeit außerhalb der Psychoanalyse umstritten ist. Den Begriff entwickelt Sigmund Freud im Zusammenhang seines Werkes Totem und Tabu, wo zur Klärung des Phänomens Totemismus die These der Darwinschen Urhorde und die Ermordung ihres Urvaters durch seine mannhaft gewordenen Söhne erörtert wird. Im Weiteren bezeichnet der Begriff daher die Gesamtheit der ambivalenten Regungen (zugleich zärtliche als auch feindselige Wünsche), die das Kind während der phallischen bzw. ödipalen Phase seiner psychosexuellen Entwicklung seinen Eltern gegenüber empfindet.[1] Unbewusst richten sich die sexuellen Wünsche des Kindes auf den Elternteil entgegengesetzten Geschlechts und parallel wird gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, den es als Rivalen betrachtet, Eifersucht und Hass empfunden. (Ödipuskonflikt, Wikipedia, abgerufen am 02.04.2017)
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In meine Praxis kam ein Mann, Anfang dreißig, wegen einer Impotentia coeundi. Seit dem dreiundzwanzigsten Lebensjahr hatte er verschiedene, stets vergebliche Versuche zur Aufnahme sexueller Beziehungen unternommen. Seit dreiviertel Jahren war er befreundet mit einer jungen Frau, die er liebte und die sich - Mutter von vier Kindern (!) - seinetwegen scheiden ließ. Verständlich, daß sich der Patient in großer innerer Not befand. Er träumte:
»Ich liege mit meiner Freundin im Bett und versuche vergeblich, mit ihr sexuell zu verkehren. Neben dem Bett steht mein Vater und beobachtet uns. Ich drehe ihm den Rücken zu und kümmere mich nicht um ihn. Da verwandelt sich meine Freundin, und ich halte meine Mutter in den Armen.«
Die ödipale Fixierung scheint eindeutig zu sein: Der Vater wird beseitigt, die Mutter sexuell begehrt. Die Impotenz ist als symbolische Kastration anzusehen, als Strafe für die Übertretung des Inzesttabus.
Das alles sei nur in einer Langzeitanalyse zu erarbeiten und durchzuarbeiten, könnte man meinen. Diese Therapie benötigte jedoch nur vierzehn Stunden. In den ersten acht Sitzungen hatte ich mit dem Patienten seine Situation möglichst genau besprochen, insbesondere seine Einstellung gegenüber den Eltern, allen Frauen, denen er begegnet war, und vornehmlich gegenüber seiner jetzigen Freundin, ferner seine primären Ängste – seine Kontaktschwierigkeiten also – und die Angst, die sich sekundär als Situationsangst aufgepfropft hatte. In der neunten Stunde brachte er den berichteten Traum. Was sagte er mir?
Dieser Mann will gleichzeitig Partner einer Frau und Kind einer Mutter sein. Diesen zunächst unlösbaren Konflikt zwischen Neuersehntem und Altvertrautem versucht er durch partielle Ausschaltung des Ichs zu bewältigen: Pars pro toto unterliegt die Genitalfunktion einer Lähmung. Sein Ich fühlt sich noch nicht stark genug, um das Väterliche zu akzeptieren – daher im Traum die Abwendung vom Vater. Damit aber hat er, wie Lou Andreas-Salomé trefflich formuliert, »das Ihm-selbst-Gleichste, sein eigenes Zukunftsbild hinweggelöscht«, »als er den Vater aus der Welt hinausdachte« (1927, 26f).
»Wie wäre es«, so fragte ich den Patienten daher, »wenn Sie sich dem Vater zuwenden und ihn als Vierten zu sich ins Bett nehmen würden?« Der Patient reagierte zunächst mit Überraschung, dann mit Nachdenklichkeit. Der weitere Verlauf zeigte, daß er – oder es in ihm – meinen Hinweis verstanden hatte, eine Lösung seines Problems sei nicht in der Ablehnung, sondern durch Übernahme der väterlichen Rolle möglich. Ermutigt zu diesem deutenden Hinweis hatte mich auch die Tatsache, daß der Patient durch die instinktiv getroffene Wahl einer Frau mit vier Kindern als Lebenspartnerin schon den Weg zum Männlichen über das Väterliche vorgezeichnet hatte.
In weiteren fünf Stunden von mir ermutigt, wuchs der junge Mann in diese Rolle hinein und konnte nun als »Vater« der »Mutter« beiwohnen.
Ich denke, daß dies ein ganz einprägsames Beispiel dafür ist, wieweit das hier vorgetragene Konzept des ödipalen Konflikts bzw. des Ödipuskomplexes praktische Auswirkungen auf die Gestaltung der psychotherapeutischen Arbeit hat. Es wird daran vielleicht verständlich, daß das bleibende sexuelle Begehren der Mutter eine Abwehr der Weiterentwicklung der Beziehungen zur Frau als der »fremden« Partnerin bedeutet. Einerseits wird bei der Mutter kindliche Abhängigkeit gesucht, andererseits versucht, ihr gegenüber eine männliche Rolle zu übernehmen, wozu der Vater negiert werden muß. Freud hat dies erkannt, wenn er sagt, daß es für die Entwicklung des Menschen entscheidend sei, daß der Ödipuskomplex überwunden werde. Das heißt für die psychoanalytische Arbeit, daß dem Patienten geholfen werden muß, sich aus einer solchen Regression zu befreien und eine neue Ich-Entwicklung aufzunehmen. Heute, sechzig Jahre nach den grundlegenden Entdeckungen von Freud, können wir sein Konzept erweitern und es in Dimensionen sehen, welche die Entwicklung des Menschen in der frühen Mutter-Kind-Einheit, bzw. seine bleibende symbiotische Verhaftung an die Mutter, einbeziehen. Zu dieser Erweiterung gehören auch die Konzepte der Entwicklung von Sozialisation und Gruppenzugehörigkeit, wie wir sie beispielsweise bei Erikson (1950) und in den ganz neuen Überlegungen zur Rolle des primären Vaters in der Familie (vergleiche den Beitrag von J. Stork) finden. 

aus Stolze, Helmuth, Ödipale Situation – Ödipaler Konflikt – Ödipuskomplex, in Eicke, Dieter (Hg.), Tiefenpsychologie, Band 1, S. 610 ff.  

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