Neulich musste ich lachen, als sich ein Siebenjähriger vor mir aufbaute und fragte: »Wie viele Fälle hast du gewonnen?« Ich habe ihm geantwortet, dass es nicht ums Gewinnen gehe, sondern darum herauszufinden, was das Beste für ihn sei.
Seit 13 Jahren arbeite ich als Verfahrenspflegerin. Als »Anwältin des Kindes« begleite ich die Kinder durch Gerichtsverfahren beim Familiengericht. Ich vertrete ihre Position, wenn Eltern sich um das Sorgerecht streiten oder sich nicht über den Umgang mit ihren Kindern einigen können.
Im Moment betreue ich 56 Fälle – Kinder aller sozialen Schichten, verschiedener Kulturen und jeden Alters. Vor Kurzem sogar ein Ungeborenes, dessen Mutter auf der Straße lebte. Zwei ihrer Kinder lebten bereits in Pflegefamilien. Sie konnte ihren Säugling behalten und lebt jetzt in einem Mutter-Kind-Heim.
Verfahren vor dem Familiengericht sind hoch emotional. Man muss viel miteinander reden, sonst können sich die Betroffenen das Urteil an die Wand hängen, aber die Entscheidung war umsonst. Gefühle kann man nicht in Paragrafen fassen.
Ich hatte schon immer eine Vorliebe für die Juristerei. Gelernt habe ich Erzieherin. Nach der Ausbildung wollte ich zur Polizei gehen, zum Jugendschutz. Doch dann geriet ich in eine Schlägerei, da war ich 16. Ich zitterte vor Angst und gab meinen Berufswunsch auf. Daneben wurde mir klar, dass sich Schichtdienst nicht mit einem Familienleben vereinbaren lassen würde.
Meine erste Ehe zerbrach leider nach 23 Jahren, und so wurden meine Kinder im Alter von 16 und 14 Jahren selbst zu »Scheidungskindern«. Allerdings war das Sorgerecht zwischen mir und meinem Ex-Mann nie ein Streitpunkt. Heute weiß ich: Jeder Mensch hat eine andere Vorstellung von Familie, und jede einzelne ist grundsätzlich weder besser oder schlechter – bis zu einem gewissen Punkt natürlich.
Einmal kam ein 14-Jähriger zu mir, der sich ans Jugendamt gewandt hatte, weil er sehr darunter litt, dass seine Eltern tranken. Er zog in ein Montessori-Heim, das ich wunderschön fand. Doch für ihn war es wie ein anderer Planet. Zu Hause war den ganzen Tag der Fernseher gelaufen, und er hatte Computer gespielt. Jetzt nichts mehr von alledem, Idylle pur. Nach eineinhalb Jahren konnte er es nicht erwarten zurückzuziehen.
Wenn ich ein Kind das erste Mal besuche oder es zu mir kommt, achte ich nicht darauf, welche Kleidung es trägt oder in welchem Zustand sein Zimmer ist. Ich blende das Materielle aus und achte auf das Zwischenmenschliche, etwa ob sich das Kind auf den Schoß der Mutter setzt oder wie sein Vater mit ihm redet.
Je gebildeter Eltern sind, desto subtiler nehmen sie Einfluss, und umso schwieriger ist es, hinter ihre Fassade zu schauen. In manchen Fällen haben sie intensiv mit dem Kind geredet. Es kennt dann alle wunden Punkte und steht in einem Loyalitätskonflikt. Oder sie geben sich bereit mitzuarbeiten. Doch im Hintergrund spielen andere Dinge eine Rolle: Wer das Haus bekommt oder das Aktienpaket.
Kinder aus einfacheren Verhältnissen reden eher mal frei von der Leber weg. Sie wissen oft gar nicht, wo sie Gefühle verletzen könnten, weil niemand sie auf wunde Punkte hingewiesen hat. Fast alle Mädchen und Jungen, die ich begleite, wollen ihre Eltern befrieden, Es berührt mich manchmal sehr, wie abgeklärt sie sind – und darin ihren Altersgenossen weit voraus.
Es braucht Zeit, bis das Kind sagen kann, was es will. Wir treffen uns in unserem Büro oder im Café und reden. Zwei bis drei Mal vor einer Anhörung. Bei manchen ist das Verfahren nach einem halben Jahr abgeschlossen, bei anderen zieht es sich über Jahre. Manchmal steht der Wunsch des Kindes gegen sein Wohl. Zum Beispiel, wenn erwiesen ist, dass Mutter oder Vater es schlagen – es aber partout wieder dort hinwill, Ich sage ihm dann, dass ich Bauchschmerzen mit seiner Entscheidung habe. Vor Gericht gebe ich seinen Wunsch weiter, ohne ihn ausdrücklich zu unterstützen.
Derjenige, bei dem die Kinder leben, sieht sich meist in einer Machtposition. Und der andere kämpft zuweilen mit allen Mitteln. Einmal erzählten mir Mädchen nach einem Wochenende bei der Mutter, dass ihr Vater Kokain schnupfe, und erzählten bis ins Kleinste, wie er das mache. Ich setzte alles daran herauszufinden, ob das stimmte: Das Familiengericht ordnete sogar einen Haartest an, den der Vater allerdings ablehnte. Doch wie es schien, hatte die Mutter die Kinder beeinflußt. Sie verlor das Interesse, als sie merkte, dass sie ihre Kinder nicht so schnell zurückbekam, wie sie gehofft hatte.
Manchmal fühle ich mich ohnmächtig: Wenn sich ein Verfahren hinzieht oder Behörden nicht so schnell reagieren, wie es für das Kind gut wäre. Ich habe aber den Eindruck, dass sich die Richter und Richterinnen in Hamburg sehr viel Mühe geben, das Wohl des Kindes zu erkennen. Die Entscheidung macht sich keiner leicht. • Protokoll: Sabine Henning
aus Publik-Forum Nr. 3•2008