Donnerstag, 11. Oktober 2012

Das Üben mit der Angst




Das Üben mit der Angst

Auch der Umgang mit der Angst ist ein wesentlicher Teil des Übungswegs im Alltag. Die Angst rät uns, uns abzukapseln und nicht über den schützenden Außenrand unseres Kokons hinauszugehen. Doch wenn wir der Angst nachgeben, verfestigen wir sie. Wir stärken unseren Kokon, engen unsere Existenz ein und begrenzen sie. Aufgrund unserer Angst versuchen wir, irgendein schreckliches Ergebnis zu vermeiden, das wir uns ausmalen, doch das Ersatzleben, das wir haben, wenn wir unserer Angst nachgeben, ist bereits ein schreckliches Ergebnis.
Ein guter Freund von mir hat einen Science-Fiction-Roman geschrieben, in dessen Mittelpunkt Außerirdische stehen. Wenn sie sich begrüßen, sagen sie nicht »Hallo«, sondern »Bitte tu mir nichts.« Ist das nicht eine genaue Beschreibung der unterschwelligen Strömung der Angst, die unser Leben beherrscht?
In Anbetracht der großen Angst, die wir alle haben, nimmt es wunder, dass wir nicht bereits Experten auf diesem Gebiet sind. Doch die Angst ist einer der heikelsten Bereiche im Leben und beim Üben. Die Liste dessen, wovor wir Angst haben, ist sehr lang. Unsere fundamentalsten Ängste sind die Angst vor Krankheit, Schmerz, Kontrollverlust, Hilflosigkeit und vor dem Unbekannten. Wir fürchten vielleicht auch den Verlust geliebter Menschen und materieller Sicherheit. Darüber hinaus haben wir Angst davor, kritisiert zu werden und uns lächerlich zu machen. Wir fürchten uns vor dem Tod und vielleicht noch mehr vor dem Sterben. Vielleicht ist die größte Angst von allen jedoch die Angst vor der Angst.
Es gibt viele weitere Ängste, die uns je nach unserer Persönlichkeit individuell zu schaffen machen. Dazu gehört die Angst vor Nähe, Sexualität, Konfrontation, Verrat, Einsamkeit, Verantwortung und dergleichen mehr. Das erste Stadium im Umgang mit der Angst besteht darin, sich allmählich dessen bewusst zu werden, wie viel Angst beinahe allem zugrunde liegt, was wir tun - die Angst hinter vielen Akten sogenannter Freundlichkeit, die Angst in unserem Ehrgeiz, unserer Depression und natürlich in unserem Ärger. Man könnte Ärger sogar als nicht wahrgenommene Angst definieren.
Viele unserer persönlichen Strategien sind auf die eine oder andere Weise von Angst motiviert. Aber häufig bemerken wir nicht, dass Angst eine Rolle spielt in dem, was wir tun. Oft bemänteln wir sie mit Ärger oder Verachtung oder betäuben sie durch Aktivität oder Ablenkungen.
Das traf zweifellos auf mich zu, als ich die Highschool und das College besuchte. Hätte mich jemand auf Angst angesprochen, hätte ich vielleicht gesagt: »Eigentlich habe ich nicht viel Angst. Angst ist nicht mein Problem.« Damals ging ich gern auf Partys, tanzte und trank. Ich wollte mich gut amüsieren, und da ich ziemlich beliebt war, hatte ich das Gefühl, obenauf zu sein. Noch eine ganze Weile später hielt ich dies für meine beste Zeit.
Vor einigen Jahren wurde mir jedoch schlagartig bewusst, wie früh ich schon Angst hatte. Als ich einen alten Song aus dem Anfang der 6oer-Jahre hörte, überkam mich ein angenehmes, bittersüßes Gefühl der Nostalgie. Doch inmitten dieser Nostalgie verspürte ich ein Kribbeln in der Magengrube, das ich als Beklemmung erkannte. Ich dachte: »Warum fühle ich mich beklommen, wenn ich mich an meine ›goldenen Zeiten‹ erinnere, als angeblich alles so gut war?« Dann merkte ich, dass dieses Lied genügte, um in meinen Zellen eine Erinnerung an etwas auszulösen, das die ganze Zeit über da gewesen war: Beklemmung. Diese Beklemmung hatte mich wahrscheinlich motiviert, hektisch nach Spaß und Zerstreuung zu suchen. Aber damals war mir das nicht wirklich klar.
Erst mit Anfang zwanzig kam mir meine Angst langsam zu Bewusstsein. Um diese Zeit herum machte ich mich auch auf den spirituellen Weg. Ich ging rasch zum zweiten Stadium im Umgang mit der Angst über: dem Versuch, sie loszuwerden. Da ich meine Ängste erkannte und sah, wie sie mein Leben einschränkten, ging ich den althergebrachten Weg und versuchte, sie zu beseitigen - mich ihnen zu stellen, sie zu bekämpfen, zu überwinden und von ihnen frei zu werden. Was für ein edles und achtbares Unterfangen! Doch da diese Herangehensweise oft die Folge unseres typischen, auf dem Kopf stehenden.Denkens ist, ist das Verfahren, uns unseren Ängsten zu stellen in der Hoffnung, sie loszuwerden, gewöhnlich begrenzt und fehlgeleitet.

Ich wusste das damals nicht und fing an, eine Sache nach der nächsten auszuprobieren, um an meinen Ängsten zu arbeiten und sie zu besiegen. Ich bettelte beispielsweise auf der Straße um Geld oder ging in Lebensmittelläden und bat um Essen. Das fiel mir sehr schwer, weil ich von mir das Bild eines wohlerzogenen, netten und verantwortlichen Menschen hatte, der ausgesprochen unabhängig war und niemals jemanden um etwas bat. Mich auf eine Art zu verhalten, die dieses Selbstbild infrage stellte, löste bei mir viel Angst und Einschüchterung aus.
Im Alter von 25 schloss ich mich einer Gurdjieff-Gruppe in San Francisco an, die mir eine Aufgabe stellte, auf die ich mich freiwillig nie eingelassen hätte: Ich sollte einen Song schreiben und auf Fisherman's Wharf singen. Im Sommer tummeln sich auf Fisherman's Wharf Hunderte von Touristen, um die Drahtseilbahnen zu besteigen. Mir wurde aufgetragen, für sie zu singen. Anders ausgedrückt: Ich sollte mich absichtlich lächerlich machen.
Die Aufgabe bestand darin, vor diesen Menschen einen selbst erdachten Song in Bob-Dylan-Manier zu singen und anschließend den Hut herumgehen zu lassen. Ich warf mich in Hippie-Klamotten und setzte mir eine Melone auf. Dabei war ich nicht nur kein Hippie, sondern mochte Hippies auch nicht und wollte nicht für einen gehalten werden.
Noch jetzt kann ich mich daran erinnern, wie ich dastand, versteinert, zitternd und davon überzeugt, dass ich entweder ohnmächtig werden oder mich übergeben würde. Aber ich sang, weil ich einen starken Willen hatte und Motivation. Ich trug also den Song vor und bat um Geld. Ein wenig später wiederholte ich das ganze Spiel. Mit jedem Mal wurde es leichter. Ich merkte, wie ich anfing, es zu genießen und Spaß daran zu haben. Was ich nicht merkte, war, dass ich einfach nur ein konditioniertes Selbst durch ein anderes ersetzte. Ich tauschte das ängstliche Selbst durch eins aus, das in dieser Situation zuversichtlich war. Ebenso wenig begriff ich, dass ich durch dieses Vorgehen nicht wirklich die Wurzeln der Angst anging, sondern nur ihren Inhalt. Die Inhalte der Angst aber können endlos sein.
Doch damals begriff ich das nicht. In den nächsten Jahren bestand also mein Umgang mit der Angst darin, dass ich versuchte, sie loszuwerden. Ich beschloss, dass ich einen Beruf brauchte, der mich tagtäglich zwingen würde, gegen die angsterfüllten Muster vorzugehen, die ich löschen wollte. Nachdem ich als Lehrer und Computerprogrammierer gearbeitet hatte, nahm ich eine Stelle als Zimmermann an, was einen Sprung ins Unbekannte bedeutete. Ich wog nur 60 Kilo und hatte überdies kein Geschick in körperlicher Arbeit. Ich würde mich jeden Tag in neue Situationen begeben müssen, die meine natürlichen Grenzen ausweiteten. Die Wahrheit ist, dass ich mich einige Jahre lang jeden Tag neuen und bedrohlichen Situationen aussetzen musste. Dann wurde es langsam leichter.
Auch wenn das eine wertvolle Übung in anderer Hinsicht war, rückte sie nicht der Wurzel der Angst zu Leibe. Stattdessen ging ich einen Inhalt nach dem nächsten an und nicht das Wesen der Angst selbst. Obwohl ich mehr Kraft bekam, ersetzte ich ein Selbst (ein konditioniertes, ängstliches Selbst) durch das nächste (ein konditioniertes Selbst, das frei von Angst war, aber nur in einer bestimmten Situation). Diese Methode ist begrenzt, denn sie hilft uns nicht, die falschen Bilder unserer Identität aufzulösen.
Das dritte Stadium im Umgang mit der Angst begann in meinen frühen Dreißigern, als ich offiziell Zen-Schüler wurde. Zum größten Teil hörte ich auf, die Angst direkt zu attackieren, und ging sie stattdessen indirekt an. Ich lernte, mich auf meinen Atem zu konzentrieren und Kraft in der Gegend unterhalb des Nabels, dem sogenannten Rara, zu entwickeln. Ich glaube, ich hatte die vage, idealisierte Vorstellung, die für viele Meditationsschüler typisch ist, dass sich Angstfreiheit einstellen würde, wenn ich lange und ausdauernd genug sitzen würde. Da die Angst ja nur Täuschung und Illusion war, warum sollte man sich überhaupt um sie kümmern? Mich auf den Atem, das Mantra oder die zehntausend Verneigungen zu konzentrieren würde die Angst von selbst zum Verschwinden bringen. Doch trotz ihres verführerischen Reizes und ihrer offensichtlichen Wirksamkeit in einigen Bereichen bringen diese Übungen wenig, um dem Wesen der Angst selbst zu Leibe zu rücken.
Eine andere Version dieses dritten Stadiums im Umgang mit der Angst erlebte ich einige Jahre später bei einem vierwöchigen Retreat, in dem eine höchst angstauslösende Situation auftauchte. Ich begann damals, mich darin zu üben, meine Angstenergie direkt in das Hara zu atmen. Ich versuchte, meine Angst zu transformieren und ihre Energie in Kraft umzuwandeln. Tatsächlich wurde mein Hara auf gewisse Weise sehr stark. Doch auch wenn diese Übung mir half, einen schwierigen Monat zu überstehen, setzte ich mich immer noch nicht wirklich mit der Angst auseinander. Ich versuchte weiter, sie loszuwerden. Wie die anderen Methoden war auch diese begrenzt, weil sie mir nicht half, die Vorstellung meiner auf Angst gegründeten Identität zu durchschauen.
Einige Monate später wurde ich sehr krank. Acht Monate lang setzte ich mich mit einem ganz neuen Bereich der Angst auseinander. Mit fortschreitender Krankheit und angesichts der Möglichkeit, dass es keine Heilung gab, begannen meine Ängste, sich zu vervielfachen. Im Vordergrund stand die Angst vor körperlichen Beschwerden, an der ich mich festklammerte, indem ich die Angst vor zunehmenden und unkontrollierbaren Schmerzen in die Zukunft projizierte. Außerdem befiel mich die Angst, von anderen abhängig zu sein, wie auch die Angst, isoliert und allein dazustehen. Unter den Schichten von Selbstmitleid und Depression verbarg sich die Angst vor der HilflOSigkeit, die mit einem Kontrollverlust einhergeht. Überdies fürchtete ich, dass mein Leben, so wie ich es bis dahin gekannt hatte, für mich vorbei sein könnte. Ich verwandelte mich von einem gesunden und aktiven Menschen in jemanden, der vielleicht nie mehr in der Lage sein würde, körperlich aktiv zu sein. Mich auf den Atem und das Hara zu konzentrieren nützte nichts, weil ich weder die Energie noch die Kraft hatte, meine Aufmerksamkeit zu lenken. In dieser Phase verbrachte ich den größten Teil meiner Zeit damit, mich in der Angst zu ergehen, und wusste nicht recht, wie ich mit ihr umgehen oder üben sollte.
In meiner Verzweiflung entschloss ich mich, Joko Beck anzurufen, der ich einige Monate zuvor begegnet war. Nachdem sie sich meine Geschichte angehört hatte, sagte sie: »Ezra, ich weiß, dass diese Krankheit weder angenehm ist noch dass sie dir gefällt, aber du musst begreifen, dass sie dein Weg ist.« Auf irgendeine Weise stellte diese eine Bemerkung die Dinge wieder vom Kopf auf die Füße. Vielleicht spürte ich zum ersten Mal in meinem Leben die Bereitschaft, die Angst zuzulassen - sie einfach nur sein zu lassen, ohne sie wegzuschieben. Das ist der Beginn des vierten Stadiums im Umgang mit der Angst, und dieses besteht darin, sie nicht mehr als Feind oder Hindernis zu betrachten, sondern sie bereitwillig einzulassen.
Als ich jedoch wieder gesund wurde, war mir dieser Prozess immer noch nicht klar. Also begann ich, meine frühere Art der Meditation wieder aufzunehmen. Ich konzentrierte mich auf den Atem und versuchte, einen Zustand der Ruhe zu erreichen. Diese Ruhe sollte mir jedoch nicht vergönnt sein, denn als ich körperlich wieder einigermaßen hergestellt war, begannen intensive Ängste hochzukommen. Inzwischen ging ich regelmäßig zu Joko und lernte etwas, was sich zu einer ganz neuen Richtung sowohl auf meinem Übungsweg als auch im Umgang mit der Angst entwickeln sollte. Sie bat mich, die Angst anzuschauen, wie es ein Wissenschaftler tun würde, mit der neugierigen Haltung, einfach nur entdecken zu wollen, was sie ist. Die Methode bestand also darin, beim Aufkommen der Angst einfach zu fragen: »Was ist das?« Die Antwort liegt immer im physischen Wahrnehmen des Augenblicks.
Da wir die emotionale Erregung, die die Angst erzeugt, als schmerzhaft erleben, reagieren wir mit Aversion. Wer will sich schon dem Schmerz und dem Unbehagen aussetzen? Wir versuchen, ihnen zu entrinnen, sie zu überwinden oder zu durchbrechen. Gleichzeitig fügen wir oft einen ganz neuen, negativen Aspekt hinzu, indem wir auf uns selbst ärgerlich sind und uns dafür schämen, Angst zu haben. Aber wie wäre es, die Angst nur als einen weiteren Ausdruck unseres konditionierten Geistes zu betrachten? Wir sind keine schlechten Menschen, weil wir Angst haben. Angst ist lediglich etwas, was sich infolge unserer Konditionierung einstellt. Und daher könnten wir beschließen, sie wirklich anzuschauen, indem wir fragen: »Was ist das?« Das »Was« der Angst besteht wie alle Emotionen aus zwei Hauptkomponenten: den Gedanken und den körperlichen Empfindungen. Wenn wir nur die Bereitwilligkeit entwickeln, bei der Angst zu bleiben und ihr mit Neugier zu begegnen, ist das ein großer Schritt davon fort, sie wegzuschieben oder zu versuchen, sie zu überwinden. Zugleich ist es ein Schritt hin zu der Bereitwilligkeit zu lernen, uns auf unser Leben so einzulassen, wie es ist.
Sobald wir fragen: »Was ist das?«, hören wir die Angstgedanken in unserem Kopf schreien: »Das kann ich nicht.« »Wo führt mich das hin?« »So sollte das nicht sein.« »Schluss damit.« Wir hören auch die Stimmen der Selbstkritik: »Das werde ich nie schaffen«, »Mir fehlt die Hoffnung« und dergleichen mehr. Wir mijssen uns darin üben, diese Gedanken als Gedanken zu begreifen, auch wenn sie so wirklich und undurchdringlich erscheinen. Dann lassen wir uns in die körperliche Wahrnehmung der Angst fallen mit all ihren unangenehmen Empfindungen: der Erregung in Magen und Brust, der eingeengten Wahrnehmungsfähigkeit, den Verspannungen in den Schultern, den Verkrampfungen im Bereich des Mundes, der Übelkeit und Schwäche.
Wenn wir uns erlauben, Angst zu haben, stellen wir fest, dass dieses furchtbare Gefühl einfach nur eine Kombination aus starken körperlichen Empfindungen und tief gehegten Glaubenssätzen über uns selbst ist. Nicht diese Empfindungen und Gedanken an sich sind das Problem, sondern unser Widerstand, sie zuzulassen. Unser Wunsch, die Angst zu vermeiden, und unsere negative Anhaftung an sie sind es, die so schreckliche Gefühle in uns erzeugen. Das ist die verkrampfte Faust der Angst. Wir verkrampfen uns so sehr bei dem Versuch, das Gefühl der Angst zu vermeiden, dass wir unser Herz verschließen.
Wenn wir bereit sind, die Angst zuzulassen und sie als »Etwas« statt als »Ich« zu betrachten, verliert sie ihre Macht. Wir begreifen, dass uns, selbst wenn wir in Panik sind, keine wirkliche physische Gefahr droht. Statt die Angst panisch zu bekämpfen oder sie wegzuschieben, lassen wir sie ein. Wir geben unsere Angst vor der Angst auf. Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst. Mut ist und erwächst aus der Bereitwilligkeit, die Angst bewusst wahrzunehmen. Dann beginnt sich die verkrampfte Faust der Angst zu öffnen - und wir verbinden uns wieder mit unserem Herzen.
Die Übung, bei der Angst zu bleiben, hat nicht den Charakter eines klar umrissenen, fortschreitenden Prozesses. Für mich war es in intensiven Phasen der Angst ein Ringen Augenblick für Augenblick. Im einen Augenblick wollte ich weglaufen und die Angst wegstoßen. Im nächsten wollte ich sie durchbrechen. Es gab auch Augenblicke der Kapitulation, in denen ich zu ihr Ja sagen und sie beinahe akzeptieren konnte. Schließlich begann ich zu begreifen, dass Angst keine undurchlässige Sache ist. Sie besteht einfach nur aus starken Empfindungen und lähmenden Gedanken, die auf unserer Konditionierung beruhen.
Wenn wir dieses vierte Stadium im Umgang mit der Angst erreicht haben und bereit sind, sie zuzulassen, stellen wir fest, dass wir Angst haben können, ohne uns zu fürchten. Wenn die Angst kommt, sagen wir nicht »0 nein«, sondern lernen zu sagen: »Da ist sie wieder. Wie wird sie diesmal sein?« Und was geschieht dann? Die.Undurchlässigkeit und Macht unserer Angst lösen sich langsam auf.
Wenn wir bereitwillig beim Wahrnehmen der Angst bleiben können, ohne sie zu unterdrücken, auszudrücken, uns in ihr zu ergehen oder sie zu beurteilen, treten wir in einen Raum der größeren Bewusstheit ein. In diesem ruhigen Raum können die Gedanken und Empfindungen der Angst durch uns hindurchziehen. Auf diese Weise kann die Übung des Gewahrseins die gefrorene Masse von Emotionen und Gedanken, die wir Angst nennen, zum Schmelzen bringen und verwandeln. Wenn wir mit unserer Angst vertraut werden, entsteht ganz von selbst Mitgefühl und macht die Aufgabe leichter. Damit bringen wir ein Gefühl der Herzensgüte in unser Üben. .
Wenn wir die Angst im gegenwärtigen Augenblick wahrnehmen - und alle unsere Überzeugungen und Urteile über sie aufgeben -, werden wir feststellen, dass sie selten unerträglich ist. Bleiben wir wirklich ganz beim physischen Wahrnehmen der Angst, dann erleben wir vielleicht einen tiefen und durchdringenden Frieden und empfinden die Weite und Liebe, die erblühen, wenn die Angst sich von sich aus verwandelt. Wenn die Undurchlässigkeit der Angst durchlässig wird, fließt die Essenz des Lebens einfach und frei.
Uns zu öffnen birgt natürlich das Risiko, uns irgendeiner vermeintlichen Gefahr ausgesetzt zu sehen. Obwohl wir nicht immer bereit sind, diesen Preis zu zahlen, nimmt unsere Bereitwilligkeit, uns auf die Angst einzulassen, in diesem vierten Stadium zu. Wir können mit jeder Art von Angst üben, von der großen Angst, die sich bei einer bedrohlichen medizinischen Diagnose einstellt, über die mittlere Angst bei einem unerwarteten Geldverlust bis hin zu der kleinen, fast unmerklichen Angst, die wir erleben, wenn wir einen unangenehmen Telefonanruf tätigen. Wir fangen immer mehr an zu registrieren, wo wir einfach nur auf Bequemlichkeit oder Entrinnen aus sind, und wir lernen langsam, jeden Augenblick der Angst als eine weitere Chance zum Üben zu sehen.
Das ist das fünfte Stadium im Umgang mit der Angst. Wir betrachten sie als Signal, das uns anzeigt, wo wir uns festgefahren haben, wo wir uns selbst behindern und uns dem Leben öffnen können. Ist uns beispielsweise klar, in welchem Ausmaß Angst eine Rolle in unseren Leistungen spielt und wo wir die Angst vermeiden wollen, uns zu blamieren? Sehen wir bei der Untersuchung unserer Beziehungen, wie oft wir dabei die Angst vermeiden wollen, zurückgewiesen oder nicht geschätzt und geliebt zu werden? Können wir diese Situationen benutzen, um auf unsere Ängste bereitwillig zuzugehen, was zweifellos erfordert, offen für das Unbekannte zu sein? Um wirklich zu erleben, was Angst ist, können wir nicht gleichzeitig an dem Wunsch festhalten, dass sie weggehen möge. Wir können sie nicht einmal »Angst« nennen, denn das ist einfach nur ein.begrifflicher Filter zwischen uns und unserer Erfahrung.
Im fünften Stadium des Umgangs mit der Angst beschließen wir vielleicht, uns unseren Ängsten zu stellen. Vielleicht machen wir sie sogar ausfindig. Aber wir haben die Hoffnung begraben, sie im konventionellen Sinn zu überwinden oder frei von ihnen zu sein. Vielmehr werden wir danach streben, einfach die Wahrheit der Angst kennen zu lernen und herauszufinden, was jenseits unseres schützenden Kokons liegt.
Häufig nehme ich mir einen ganzen Tag, um zu üben, zur Angst Ja zu sagen. Sobald ich auch nur einen Anflug von Beklemmung spüre, übe ich mich darin, auf die Angst zuzugehen, nicht mit der Schwere »meines Leidens«, sondern vielmehr mit einer gewissen Leichtigkeit des Herzens, die daher rührt, dass ich die Angst lediglich als eine menschliche Konditionierung betrachte, von der niemand verschont bleibt. Wie könnten wir ohne diese Leichtherzigkeit je über unseren schützenden Kokon hinausgehen?
Die Angst zu transformieren bedeutet nicht, dass wir keine Angstreaktionen mehr haben, sondern dass wir diese Reaktionen nicht länger für das halten, was wir sind. Darum geht es beim Üben: Wir lernen, der Überzeugung, dass unsere fest gefügten Reaktionen das sind, was wir sind, keinen Glauben mehr zu schenken. Unsere wahre Identität ist viel größer als irgendeine unserer konditionierten Angstreaktionen. Wenn wir die Angst wirklich wahrnehmen können, durchschauen wir diese falsche Identifikation und erhaschen vielleicht den Blick auf ein weitaus größeres Gefühl des Seins.
Ich bin noch nicht am Ende meines Übungswegs mit der Angst angelangt. Ich bin bestimmt nicht frei von Angst, geschweige denn von dem Glauben, dass ich frei von Angst sein sollte. Aber zum größten Teil wird mein Leben nicht mehr von dem lebenslangen Tunnel der Angst bestimmt, der mich beherrscht hatte. Dieser Tunnel schien lange Zeit so wirklich, dass ich nie wirklich geglaubt hätte, jemals aus ihm herauszutreten. Wenn man berücksichtigt, wie lange ich mich schon darum bemühe, muss ich wohl sagen, dass ich jemand bin, der langsam lernt, aber der Ausdauer beweist. In der Rückschau sehe ich, dass es keine Fehler gab. Die nebulösen Missverständnisse und fehlgeleiteten Bemühungen sind alle ein notwendiger Bestandteil des Übungswegs.
Wenn heutzutage Angst in mir hochkommt, zusammen mit dem Wunsch meines Kopfes, dass sie vergehen möge, erkenne ich meist auf der Stelle, was geschieht. Versuche ich, sie loszulassen? Selten. Das wäre einfach nur ein weiterer Versuch, sie loszuwerden und meinem Leben aus dem Weg zu gehen. Stattdessen atme ich ins Herz und lade die Angst mit der Bereitwilligkeit ein, ihre Realität und Beschaffenheit zu spüren. Gleichzeitig weiß ich jedoch, dass sie nicht ich ist. Mein Herz mag klopfen und mein Magen mag sich flau anfühlen, was bloß konditionierte Reaktionen auf eine vermeintliche Gefahr sind. Aber es gibt auch eine Leichtigkeit, eine Weite, durch die man die Angstkonditionierung wahrnehmen kann. Wenn wir uns bewusst sind, wird der feste Block der Angst durchlässig. Und was bleibt? Einfach das Leben selbst, mit einem immer größeren und weiteren Gefühl des Seins.

[aus Ezra Bayda, Zen sein – Zen leben, Goldmann Arkana, München 2003. S. 107ff.]
x