Die Meditationsmeister im alten Indien beschrieben die
Angst oft mit folgendem Bild: Wir befinden uns in einem nur schwach
beleuchteter Raum, wo wir ein Seil auf dem Boden liegen sehen, das wir für eine
Schlange halten. Genauso ist es oft mit unserer Angst. Sie beginnt mit einer
falschen Wahrnehmung, und dann führt ein ängstlicher Gedanke zum nächsten. Die
Praxis beginnt damit, klar zu sehen: Ein Seil ist ein Seil, und eine Schlange
ist eine Schlange. Wenn wirklich ein Schlange im Raum ist, dann wäre Furcht
eine durchaus angebrachte Reaktion. Aber vielfach geht es bei unseren Ängsten
um Seile, die wir nie genau angesehen haben, und wir verbringen unser Leben
damit, sie kontrollieren zu wollen, vor ihnen wegzurennen, sie zu verbergen, zu
verdrängen, komplizierte begriffliche Erklärungen auszutüfteln.
Unsere gewöhnliche Reaktion auf Angst besteht darin, daß
wir ein Schlachtfeld erzeugen. Unsere Angst steht auf Kriegsfuß mit unserer
großen Sehnsucht, frei von ihr zu sein, und der Schauplatz der Schlacht sind
Geist und Körper, wo dieser Prozeß stattfindet. Während der Schlacht verknoten
wir uns und kehren unser Inneres nach außen. Das Ziel der Praxis liegt darin,
diesen Prozeß offenzulegen und zu sehen, daß all seine Elemente ein Teil von
uns sind: die Angst, der Wunsch davon frei zu sein, der Geist und der Körper,
die Achtsamkeit, die alles beobachtet, das bewußte Atmen, das die Achtsamkeit
unterstützt. Wir sitzen mit all dem, und all das ist eins.
Wenn Sie ein starkes Gefühl der Angst betrachten, kann es
sein, daß Sie zuerst vor allem sehen, auf welchen Wegen Sie vor ihr flüchten.
Auch das kann etwas sehr Wertvolles sein. Sie sehen, wie Sie verdrängen,
unterdrücken, erklären, wegrennen, phantasieren. Sie betrachten diese Dinge
vielleicht wieder und immer wieder, bis der Geist schließlich - weil Sie nicht
länger darauf hereinfallen - müde wird. Dann eines Tages, und das können Sie
nicht erzwingen, entsteht Angst und trifft auf Achtsamkeit, wird eins mit ihr
und kann dadurch in ihrer vollen Gestalt erblühen, so wie sie es schon immer
wollte.
„Die Welt besteht aus vielen blühenden Blumen in einem
blühendem Universum“, pflegte ein Zen-Meister zu sagen. Das klingt zuckersüß
und sentimental, aber so hat er es nicht gemeint. Er zählte auch Angst, Zorn,
Einsamkeit, Haß und Neid zu den blühenden Blumen. Das ist das, was alle Erscheinungen
wollen, sie wollen die Erlaubnis haben, zu erscheinen und zu ihrer eigenen Zeit
wieder zu verschwinden.
Wenn wir dieses Erblühen verhindern, indem wir die Angst
ignorieren oder unterdrücken, dann bleibt sie und drückt uns nieder, weil so
viel Energie darauf verwendet werden muß, sie fernzuhalten. Wenn wir sie aber
erblühen lassen, dann kann sie leben und wieder verschwinden. Dann behalten wir
all die Energie, die wir sonst für die Flucht oder den Kampf mit ihr verbraucht
hätten. Uns bleibt auch die Energie der Angst selbst erhalten. Wir gewinnen
sehr viel Energie, wenn wir die Dinge einfach geschehen lassen.
Das Fundament von Angstlosigkeit ist die Angst selbst.
Um furchtlos werden zu können, müssen Sie mitten in Ihrer
Angst stehen. Wir sollten keiner Angstlosigkeit trauen, die dies nicht als
Grundlage hat. Der Anfang der Angstlosigkeit ist, daß Sie Ihre Angst sehen und
sie sich eingestehen. Geben Sie zu, daß Sie Angst haben, und haben Sie dann den
enormen Mut – und die Demut –, diese Angst zu erforschen. Das kann ein langer
Prozeß sein.
In unserer Übung gehen wir – wie in unserem Leben – oft
von der Meinung aus, Meditation sollte aus einer stets warmen, erfüllenden
Erfahrung bestehen. Ständig sollten Verzückung und Glückseligkeit in uns herrschen
und ein warmer Glanz auf unserem spirituell und erfüllt anmutenden Gesicht liegen.
Es ist ganz natürlich, daß wir uns diese Dinge wünschen, aber sie werden leicht
zu einer Falle. Dann stolziert man umher, zeigt eine Fassade und leugnet
tatsächlich seine wahren Gefühle.
Wenn Sie todunglücklich sind und wirklich bei ihrem
Unglücklichsein sind, dann entspricht das mehr dem, worum es hier geht, als
wenn Sie vor Glück strahlen und innerlich taub sind. Ersteres ist die echtere
Praxis. Achtsamkeit führt nicht dazu, daß Sie unablässig glücklich sind. Wenn
Sie Angst oder blankes Entsetzen erleben – und niemand möchte diese Gefühle
erfahren –, dann empfinden Sie eine bestimmte Art der Befriedigung, wenn Sie
wirklich dabeibleiben. Es ist nicht gerade das Gefühl, daß Sie damit etwas erreichen.
Sie leben einfach nur Ihr Leben, so wie es jetzt gerade ist.
Das ist mit „die geistigen Aktivitäten zur Ruhe kommen
lassen“ gemeint. Ein Gefühl, und sei es ein so starkes wie Angst, entsteht, und
Sie bleiben bei dem Gefühl, indem Sie das Atembewußtsein zu Hilfe nehmen – Sie
bleiben dabei, Sie bleiben dabei. Sie lassen es einfach sein. Bewußtes Atmen
und die Achtsamkeit nehmen dem Gefühl seine Macht, so daß es Ihren Geist nicht
mehr dazu bringen kann, hysterisch zu reagieren. Unsere Gefühle verlieren das
Potential, uns in diese unweisen Geisteszustände hineinzuschleudern.
Die definitive Aussage Buddhas über die Gefühle ist: „Der
Erleuchtete hat Freiheit gefunden und wurde von allem Anhaften befreit, indem
er betrachtete, wie die Gefühle sich wirklich verhalten, daß sie kommen und
gehen. Er erfuhr den Genuß, den sie bereiten, die Gefahr, die von ihnen
ausgeht, und die Erlösung von ihnen.“
»Der Punkt, wo sich gewöhnlich das Konzept von Erfolg und Mißerfolg und damit etwas Zwanghaftes in die Übung einschleicht, liegt in der Aufgabe, beim Atem zu bleiben. Aus dieser Aufforderung machen wir ein Drama von Erfolg und Mißerfolg: Wir sind erfolgreich, wenn wir beim Atem bleiben können, wir versagen, wenn wir nicht dabei bleiben können. In Wahrheit besteht die Meditation in dem gesamten Ablauf: mit dem Atem sein, abschweifen, sehen, daß wir abgeschweift sind, sanft zum Atem zurückkehren. Es ist außerordentlich wichtig, daß wir zurückkommen, ohne uns selbst Vorwürfe zu machen, uns zu verurteilen oder ein Gefühl des Versagens aufkommen zu lassen. Wenn Sie während einer Sitzperiode innerhalb von fünf Minuten tausendmal zum Atem zurückkehren müssen, dann tun Sie es einfach. Das ist kein Problem, es sei denn, Sie machen eines daraus.«
"Wenn Dein Herz wandert oder leidet, bring es behutsam an seinen Platz zurück und versetze es sanft in die Gegenwart Deines Herrn. Und selbst, wenn Du in Deinem Leben nichts getan hast außer Dein Herz zurückzubringen und wieder in die Gegenwart unseres Gottes zu versetzen, obwohl es jedes mal wieder fortlief, nachdem Du es zurückgeholt hattest, dann hast Du Dein Leben wohl erfüllt." (Franz von Sales)