Montag, 29. März 2010

Schöne Bescherung

Natürlich lieben wir sie.
Irgendwie. Die Eltern, die Geschwister, Onkel und Tanten und auch die Oma aus Kiel, kurz: die Familie. Und doch fürchten wir uns ein wenig vor jedem Treffen, wie jetzt zu Weihnachten. Warum bloß? Therapeuten jedenfalls raten zu „resignativer Reife“

Text STEFANIE ROSENKRANZ Illustrationen GERHARD HADERER

Längst sind die Strohsterne gebügelt, und die Gans aus Polen ruht auf dem eisigen Grunde der Tiefkühltruhe. Weihnachten steht vor der Tür, und nicht wenige Menschen werden wieder „im Kreise ihrer Lieben” feiern, wie es so schön heißt.

Aber sind die Lieben wirklich so lieb?

Denken wir uns einfach irgendeine Familie, und nennen wir sie Sturm. Sagen wir mal, dass sie in Bremen wohnt. Jedes Mal wenn die 36jährige Bankerin Anna am 26. Dezember ihr Elternhaus an der Weser verlässt, um zurück nach Frankfurt zu fahren, schwört sie sich: „Nie wieder!” Sie träumt von Mauritius, S
üdafrika, einer einsamen Skihütte in den Dolomiten – und landet doch wieder unterm Christbaum in Bremen. Denn jedes Mal wenn ihre Mutter sie Mitte November anruft, um zu fragen, ob sie kommt, lässt sie sich breitschlagen.

Weihnachten bei den Sturms funktioniert so: Die verwitwete Großmutter mütterlicherseits kommt schon am 1. Dezember bei ihrer Tochter an, weil sie findet, dass Reisen, die unter vier Wochen dauern, sich nicht lohnen. Am 23. erscheint Annas drei Jahre ältere Schwester Christine mit ihrem Mann und drei Söhnen und wird von der Oma mit den Worten begrüßt: „Gott, wie siehst du denn schon wieder aus!“ Zu diesem Zeitpunkt ist Annas Mutter bereits ein Wrack und ihr Vater längst in den Hobbykeller umgezogen, wo er ununterbrochen Eurosport guckt.

Annas Vater, Rechtsanwalt von Beruf, stammt aus Köln. Wenn seine Schwiegermutter ihn sieht, sagt sie immer: „Ach, hier kommt ja die rheinische Frohnatur!“ Nach 25 Jahren kann er das nicht mehr ertragen; jetzt tut er zu Weihnachten einfach so, als wäre er nicht da. Kaum ist Christine angekommen, verdrückt sich auch deren Mann Jan in den Hobbykeller. Er ist Kunstschreiner und wird von der Großmutter nur „der Tischler“ genannt.

Am 24. Dezember trudelt dann noch Onkel Wilfried ein, der jüngere Bruder von Annas Mutter und absoluter Star der Oma. Er ist Arzt, lebt in Bayern und ist perfekt, wenn da nicht Tante Anneliese wäre, seine bildschöne Frau, von ihrer Schwiegermutter indes nur „die Metzgertochter“ genannt. Von sich selbst sagt sie, sie sei „Ökotrophologin“. Die Oma dagegen knurrt: „Sie hat nur ein Puddingabitur, und danach hat sie Bügeln studiert. Der arme Wilfried!“

Irgendwann kommt dann auch Anna an, zusammen mit ihrem indischen Mann Atal, der Investmentbanker ist, und der fünfjährigen Tochter Kanika. Zu ihrer Enkelin sagt die Großmutter: „Du hast aber ganz schön zugelegt.“ Zu ihrer Urenkelin sagt sie. „Du bist aber groß geworden, Hanuta!“ Worauf die sagt: „Ich heiße Kanika.“ – „Kaninchen, Kanuta, hätten deine Eltern dir nicht irgendeinen normalen Namen geben können?“ Dann erblickt sie Atal und ist glücklich. Überraschenderweise liebt sie Annas Mann, und er liebt sie, was vermutlich daran liegt, dass er nur die Hälfte dessen versteht, was sie sagt.

Sind erst einmal alle da, beginnt eine Art Bosnienkrieg im Wohnzimmer. Von außen betrachtet, ist alles wunderbar: Mit Hingabe werden Weihnachtslieder gesungen, zuvorderst natürlich „0 du fröhliche” und zum Schluss „Alle Jahre wieder“. Atal und Jan spielen Christkind und zünden die Kerzen an. Dann gibt es einen kurzen Moment der wahren Freude: Bescherung. Die Tür geht auf, und alle sind glücklich. Doch schon wenige Minuten später verwandelt sich die Großmutter in Radovan Karadžić. Der Rest der Familie teilt sich zu etwa gleichen Teilen in verfolgte Bosnier und UNBlauhelmtruppen.

Oma: „Wer hat mir diesen grässlichen Beutel geschenkt?“ Onkel Wilfried: „Den hat Anneliese ausgesucht.“ Anneliese: „Es ist eine Reisetasche von Mulberry aus echtem Leder!“ Oma: „Danke, Anneliese, ich mag leider kein Schwarz. Aber macht nichts, mit der kann meine Putzfrau die leeren Flaschen zum Container tragen.“

Annas und Christines Vater eröffnet einen Nebenkriegsschauplatz. Mit Blick auf die Nintendos, die die Enkelsöhne bekommen haben, merkt er an: „Ich will ja nichts sagen, aber lesen eure Kinder eigentlich nie ein Buch?“ Christine: „Wir sind eben kein Akademikerhaushalt.“ Ihr Vater: „Was soll das denn jetzt heißen?“ – „Ja, wer wollte denn, dass ich Krankengymnastin werde?“ – Wir haben dich nie zu etwas gezwungen!“ – „Nein, das nicht. Aber Anna durfte BWL studieren! Und außerdem gucken wir nicht den ganzen Tag Eurosport!“

Familie ist neben der Religion die einzige gesellschaftlich sanktionierte Form von Wahnsinn

Da grätscht Oma wieder rein: „Schaut, was ich von Adrian bekommen habe!“ Adrian ist der schwule Sohn von Wilfried und Anneliese und Omas Lieblingsenkel, der sich aber schon seit Jahren bei Familienfeiern nicht mehr blicken lässt. Die Großmutter schwenkt ekstatisch ein Taschenbuch mit dem Titel „Fulda-Werra-Rhön: Radwandern im Herzen Deutschlands“ und sagt gerührt: „Der gute Junge!" Wilfried, der sich von seinem Sohn wegen dessen sexueller Orientierung längst abgewandt hat, fragt: „ Seit wann fährst du Rad? Das hat er sicher irgendwo im Ramsch gekauft.“ Oma: „Und was hast du mir geschenkt?“ Wilfried. „,Small World’ von Martin Suter.“ Anna: „Das ist ein tolles Buch, ein Krimi über Alzheimer.“ Oma, mit bebender Stimme: „Ein Buch über Alzheimer? In meinem Alter? Ist euch denn gar nichts heilig? Das hat sicher Anneliese ausgesucht!“

Worauf Wilfried abzieht, Annas Vater im Schlepptau, Eurosport gucken, und Anneliese in die Küche geht, um in die Spüle hineinzuweinen. Christine zu Anna: „Omas Beerdigung wird klasse.“ Annas Mutter: „Jetzt haltet aber an euch, Kinder! Gleich gibt es die Gans. Lasst uns alle noch mal den Baum anschauen. Ist er nicht wunderschön?“

Zugegeben: Nicht alle fallen zur Bescherung so übereinander her wie die Sturms. Und es geht in Familien zum Glück selten so dramatisch zu wie im mäßig glücklichen griechischen Götterhaushalt von Kronos und Rhea: Die gebar ihrem Gatten fünf Kinder, die Kronos gleich nach der Geburt verschlang. Das sechste war ein Sohn namens Zeus, der von seiner Mutter versteckt wurde, überlebte und seinen Vater entmachtete, indem er ihn für alle Ewigkeit verbannte. Immerhin entmannte er ihn nicht mit einer Sichel, so wie es Kronos einst mit Zeus’ Großvater Uranus getan hatte.

Auch kommen die wenigsten auf die Idee, ihren nervtötenden jüngeren Bruder einfach zu erschlagen; dieses unerfreuliche Schicksal ereilte Abel, der von Kain aus Eifersucht beiseitegeschafft wurde. Und doch sind viele Geschwister lebenslänglich Rivalen, einander in inniger Hassliebe verbunden. Wer zuerst geboren wird, empfindet häufig wie der verstorbene schwedische Regisseur Ingmar Bergman: „Ich bin vier Jahre alt, und eine fette, missgestaltete Person spielt plötzlich die Hauptrolle“, erinnerte er sich in seinen Memoiren an die Geburt seiner Schwester. Anschließend habe er lange darüber nachgedacht, „wie man das abscheuliche Geschöpf auf verschiedene Weisen umbringen kann“.

Wer zuletzt kommt, dem kann es hingegen wie dem 47jährigen Rechtsanwalt Sven ergehen, dessen drei Jahre älterer Bruder Ingenieur ist. „Ich konnte meine Eltern nie überraschen, sie haben bei allem, was ich tat, eigentlich immer nur gegähnt. Ich machte Abitur, mein Bruder hatte ein besseres Abitur gemacht. Ich fuhr nach Thailand, er war inzwischen in Grönland gewesen. Ich wohnte in einer WG in Tübingen, er hatte in einer Kommune in Kalifornien gelebt. Jetzt bin ich Partner in einer riesigen Kanzlei und verdiene viel mehr Geld als mein Bruder. Der sagt trotzdem zu mir: ‚Na, Kleiner?’ Und mein Vater findet nach wie vor: ‚Nimm dir ein Beispiel an ihm!’“ Und wen das Schicksal in die Mitte verbannt hat, der glaubt manchmal bis ins hohe Alter, er komme grundsätzlich zu kurz.

Auch das Verhältnis zu den Großeltern ist nicht immer von inniger Zuneigung geprägt. Manche von uns, etwa diejenigen, die gerade Opas 75. Geburtstag hinter sich haben, können nur froh sein, dass der nicht so reich ist wie weiland der amerikanische Öl-Tycoon Jean Paul Getty, sodass niemand sie entführen möchte. Als Gettys Enkel 1973 in Rom gekidnappt wurde, weigerte sich der Patriarch zunächst, das Lösegeld zu zahlen. Erst als Monate später ein Umschlag mit dem Ohr des 16-Jährigen bei einer italienischen Tageszeitung eintraf und die Entführer damit drohten, auch den Rest des Teenagers portioniert hinterherzuschicken, lieh der geizige Senior seinem Sohn die Millionen und verlangte dafür vier Prozent Zinsen.

Leider geht es in den wenigsten Familien zu wie in „Unserer kleinen Farm“, nämlich allzeit gottesfürchtig und harmonisch. Natürlich lieben wir unsere Eltern und Geschwister irgendwie, und manchmal auch Oma Adelheid, trotz ihres schrecklichen Geruchs, und sogar Onkel Justus, obwohl der in seiner Freizeit den Schiefen Turm von Pisa aus Streichhölzern zusammenklebt. Doch zugleich ist fast jede Mischpoke auch eine Brutstätte des Irrsinns und neben der Religion die einzige gesellschaftlich sanktionierte Form von Wahnsinn.

Da geraten Sitzordnungen bei Hochzeiten zu diplomatischen Hochseilakten, die nicht immer gelingen. „Sie heißen also Maik“, fragt Tante Hiltraut ihren Tischherrn. „Dann kommen Sie sicher aus dem Osten und sind mit dem Bräutigam verwandt. Denn das ist ein Name, den man bei uns gar nicht kennt. Waren Sie bei der Stasi?“ Später, nach Maiks spurlosem Verschwinden, sagt sie gekränkt: „Man wird doch wohl noch fragen dürfen!“

Manchmal entfallen die Trauungen auch ganz, aus familienpsychologischen Gründen. „Das letzte Mal, dass ich meine Eltern zusammen gesehen habe, war an dem Abend vor 25 Jahren, als mein Vater das Ehebett zersägte“, erzählt der 37-jährige Jochen. „Ich glaube, die Angst, dass sich das wiederholen könnte, hält mich davon ab, meine Freundin zu heiraten.“ Seine Furcht ist nicht unberechtigt. Denn die Familie ist die Matrix unserer Identität, und durch das, was Wissenschaftler „Transmission“ und „Delegation“ nennen, gibt eine Generation Verhaltensmuster und Wertvorstellungen an die nächste weiter, und seien sie noch so zerstörerisch oder spießig. Oder sie delegiert unbewusst Aufträge an die Sprösslinge, die dann gewissermaßen fremdbestimmt sind. Sie sollen Erwartungen und Wünsche ihrer Eltern erfüllen, die diese nicht verwirklichen konnten, und fechten manchmal ein Leben lang Kämpfe aus, die gar nicht die ihren sind.

Familien sind bizarre Gebilde, bei denen selbst freudige Ereignisse wie die Geburt des ersten Enkelkindes zur Härteprüfung werden können. „Ich habe bis zum vierten Monat gewartet, um meiner Mutter zu sagen, dass ich schwanger bin“, sagt Katrin. Deren Reaktion übertraf noch ihre schlimmsten Erwartungen: „Nach der Geburt komme ich!“, jubelte sie. „Am besten gleich für einen Monat! Denn du brauchst dann Hilfe und Schonung!“

Den Rest ihrer Schwangerschaft verbrachte Katrin damit, darüber zu grübeln, wie sie ihrer alleinstehenden Mutter ans Herz legen könnte, möglichst nur ganz kurz zu kommen ohne ihr dabei allzu wehzutun. „Sie hat ja nur mich. Als ich sie dann endlich angerufen habe, hatte ich fast schon Wehen. ‚Eine Woche reicht völlig aus, Mama.’ – ‚Wenn du meinst’, sagte sie und legte beleidigt auf.“

24 Stunden später brachte Katrin einen kleinen Jungen zur Welt, und kurz darauf saß nicht nur ihre überängstliche Mutter neben dem Stubenwagen, sondern auch die Schwiegermutter, eine naturverbundene Anthroposophin. Wenn das Baby länger als zehn Minuten schrie, sagte die eine: „Ich glaube, du solltest jetzt doch in die Notaufnahme fahren.“ Darauf die andere: „Papperlapapp, das sind nur Blähungen. Ich habe vier Kinder zur Welt gebracht. Gib mal her, wir massieren dem kleinen Kerl jetzt ganz sanft den Rücken.“ Der schrie daraufhin noch mehr. Die eine: „Wenigstens solltest du im Kinderkrankenhaus anrufen!“ Die andere: „Ich glaube, du legst ihn nicht richtig an.“ Die eine: „Vielleicht ist ihm kalt?“ Die andere: „Unsinn, er ist viel zu warm angezogen.“ Nach zwei Tagen war Katrin bereit, Mann und Sohn zu verlassen, nur um den Furien zu entkommen, die es beide schrecklich gut mit ihr meinten.

Auch Testamentseröffnungen können einen im Nu über das Ableben des gerade noch geliebten Verstorbenen hinwegtrösten. Selbst der größte Umweltschützer ist tief beleidigt, wenn er erfährt, dass Erbonkel Alfred sein gesamtes Anlagevermögen Greenpeace hinterlassen hat, das Haus auf Sardinien der kleinen Schwester und die drei Mietshäuser in Düsseldorf dem Cousin aus Jena, während man selbst nur mit seiner Briefmarkensammlung sowie 71 zerfledderten Bänden von Karl May bedacht wurde.

Gleichwohl wird die eigentümliche Gruppe von Menschen, durch die, mit der und in der wir alle gediehen sind, bei jeder Gelegenheit beweihräuchert und emotional überfrachtet. Das war nicht immer so. Das Wort „Familie“ stammt aus dem Lateinischen, bedeutet „Hausgemeinschaft“ und wurde abgeleitet von „famulus“, zu Deutsch „der Haussklave“. Gemeint war mit der „familia“ schlicht der gesamte Besitz eines Mannes: sein Weib, seine Sprösslinge, seine Sklaven, seine Freigelassenen, sein Vieh.

Auch später war die Familie hauptsächlich ein ökonomischer Bund fürs Leben, in dem Eltern ihre Kinder großzogen und im Gegenzug später von ihnen versorgt wurden. In vielen Kulturen ist sie das noch immer. Doch mit dem Aufstieg des Bürgertums wurde sie in der westlichen Welt ab Ende des 18. Jahrhunderts zusehends zu einer Gefühlseinheit verklärt: Vater, Mutter und Kinder sollten ab jetzt nicht nur in einer funktionierenden Arbeitsgemeinschaft die Aufzucht von Nachkommen und die Vermehrung des Vermögens gewährleisten, sondern einander auch Wärme, Wohlgefühl, Geborgenheit, Harmonie und insbesondere Glück geben. Dass dies nicht immer klappt, wissen wir von Familie Ewing aus Dallas, von Familie Mann aus Lübeck, von Familie Feuerstein aus der Steinzeit, von Familie Windsor aus London, von Familie Duck aus Entenhausen. Und aus eigener Erfahrung.

Und doch: Ob Klopapier, Nudeln, Tütensuppen oder Waschpulver, sie kommen in Werbefilmen allesamt nicht ohne glückliche Familien aus, die zumeist aus zwei allerliebsten Kindern – sportlich und zugleich musisch, draufgängerisch, aber auch nachdenklich – nebst einem knuddeligen Labrador bestehen. Aufs Possierlichste tollen die in Wohnstätten herum, die das Beste von Villa Kunterbunt und edlen Lofts vereinen, während ihre entzückenden Väter und Mütter und ihre silberhaarigen Großeltern sich liebevoll ihrer Aufzucht widmen und dabei Berge von Klopapier, Nudeln, Tütensuppen, Autos oder Waschpulver verbrauchen.

Die Familie steht gewissermaßen unter Artenschutz, nämlich laut Artikel sechs des Grundgesetzes „unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“. Sie sei „die Keimzelle der Gesellschaft“, so lernt man es in der Schule. Und wenn man gerade einen Urlaub mit Eltern und Schwiegereltern hinter sich hat – „Sie gehen also regelmäßig kegeln? Wie interessant. Also wir spielen da lieber Bridge! Und was lesen Sie da? Rosamunde Pilcher? Ja, ich habe von ihr gehört. Ich lese gerade ‚Dreams from My Father’ von Barack Obama, ein faszinierendes Buch, ich würde es Ihnen gerne leihen, aber es ist leider auf Englisch, das verstehen Sie ja nicht so gut, oder?“ –, wundert einen der betrübliche Zustand der Gesellschaft überhaupt nicht mehr.

Das Wort „Familie ist abgeleitet von „famulus“, „Haussklave“

Hartz IV? Nahost-Konflikt? Afghanistan? Darfur? Klimawandel? Schuld an allem kann nur die Familie haben. Man ist geradezu geneigt, Marxist zu werden und für ihre Aufhebung zu plädieren.

Doch sämtliche dahin gehende Versuche sind bislang gescheitert. Selbst im Kibbuz wurde die Erziehung im Kollektiv längst abgeschafft; seither können sich dort nicht nur jeden Freitagabend alle Familienmitglieder rund um Hühnersuppe und Gefilte Fisch gegenseitig vorwerfen, dass sie einander das Leben ruiniert hätten, sondern täglich.

„Alle Familien und Ehen haben einen unlösbaren Konflikt, nämlich den zwischen Freiheit und Gebundenheit, zwischen Selbstständigkeit und dem Wunsch nach Geborgenheit“, sagt der Psychologe und Paartherapeut Arnold Retzer*, der das Systemische Institut in Heidelberg leitet. „Wenn man ihn lösen will, kann man Probleme bekommen.“ Er plädiert für mehr Vernunft. „Vernunft ist, wenn man trotzdem denkt und unlösbare Dinge in einer Beziehung weglässt. Dazu gehören etwa die Vorstellung von der Herstellbarkeit des Glücks und die Idee, dass alle Probleme lösbar wären. Denn am Ende ist der Versuch, ein unlösbares Problem zu lösen, ein größeres Problem als das Problem an sich.“

Retzer empfiehlt: „Pfeifen Sie auf das Glück! Genießen Sie stattdessen den großen Bereich der Banalität des Guten, der zwischen Glück und Unglück liegt!“ Und verweist darauf, dass die Lage „so schlecht nicht ist“.

Zwar beschleicht einen angesichts von weltweit über hundert Fachzeitschriften zum Thema „Familie“ und einem planetaren Heer von Therapeuten, die sich ausschließlich um sie kümmern, das Gefühl, dass die schlichte biologische Tatsache, dass alle Menschen eine Mutter und einen Vater haben, längst ein Fall für die geschlossene Abteilung geworden ist.

Indes, der Patient lebt, die Leute heiraten und bekommen Kinder. „60 Prozent aller erwachsenen Deutschen leben in einer Ehe, und 70 Prozent sind mit ihr sogar zufrieden, und das oft schon seit Jahrzehnten“, so Retzer. Natürlich werde die Familie einerseits „hoffnungslos überbewertet in der Vorstellung, dass in ihr Gleichheit, Gerechtigkeit und Glück herrschen müssen“. Zugleich aber „ist sie bis auf Weiteres der Ort, wo man das bekommt, was man nirgendwo sonst erhält, nämlich Zusammensein, Konstanz und Verlässlichkeit, und zwar zeitlich unbegrenzt. Zur Familie gibt es keine Alternative.“ Um sie zu genießen, sei allerdings „resignative Reife“ gefordert.

Von der sind die meisten von uns leider Lichtjahre entfernt. Da können wir Physik, Theologie oder Rechtswissenschaften studiert haben – unsere Verwandten können uns in Windeseile in Vollidioten transformieren. Nirgendwo bleibt der gesunde Menschenverstand so schnell auf der Strecke wie innerhalb des „engsten sozialen Nahraums“, wie Fachleute die Familie nennen. Und zwar zugunsten der Bescheuertheit.

Über die Familie schreibt der Soziologe Rainer Paris in einem so wunderbaren wie hochwissenschaftlichen Essay im „Merkur“, eines ihrer Grundelemente seien Beziehungsfallen, in denen jede mögliche Reaktion negativ sanktioniert wird und der Betroffene die Zwickmühle weder durch Metakommunikation noch durch Verlassen des Handlungsfeldes auflösen kann“. Ein Beispiel hierfür sei die Schwiegermutter, die der Frau ihres Sohnes zum Geburtstag zwei Pullover schenkt. Als sie sich einige Wochen später erneut zu Besuch ankündigt, zieht die Schwiegertochter einen davon an. Noch vor der Begrüßung herrscht die Schwiegermutter sie an: „Der andere gefällt dir wohl nicht!“

Diese Art von „Double-Bind-Kommunikation“ – egal, was man macht, es ist grundfalsch – „kommt in Familien häufiger vor, als man denkt“, so Manfred Cierpka, Psychiater und Ärztlicher Direktor des Instituts für psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie am Universitätsklinikum Heidelberg.

„Die Vorstellung, dass man es dem anderen nie recht machen kann, führt manchmal dazu, dass man geradezu meschugge wird“, sagt er. „Denn das Beziehungssystem, in dem wir aufwachsen, wird ein Teil von uns, und diese Erfahrungen führen auch zu neuronalen Verknüpfungen im Gehirn. Wir sind gewissermaßen verschaltet.“ Die Familie bestehe aus „primären Bindungspersonen. Sie ist das Netz, das einen trägt, sie gibt einem Sicherheit und Schutz, sie erlaubt Regression, das heißt, dass man sich auch mal gehen lassen kann. Und auch wenn sie einen nicht trägt, hofft man ein Leben lang, dass sich das ändern könnte.“

Da hoffen viele vergebens. Anna Sturm wird dieses Jahr wieder nach Bremen fahren. Das Weihnachtsgeschenk für ihre Großmutter hat sie schon gekauft, „Der Pate“, auf DVD, Teil eins bis drei. Die Corleones lösen ihre Familienprobleme sizilianisch, am Ende sind die Reihen gelichtet.

Mitarbeit: Takis Würger

*Arnold Retzer: „Lob der Vernunftehe“, S. Fischer Verlag, 304 Seiten. 18,95 Euro
aus dem Stern Nr. 52, 17.12.2009