Für die meisten Menschen in der heutigen Welt hat das
Leben viel mit Verbalisieren zu tun – mit Reden, Lesen, Schreiben, Denken,
Sich-Vorstellen. Sprache ist eine großartige menschliche Erfindung (auch wenn
andere Spezies gut ohne sie auszukommen scheinen), aber sie ist so in unser
Bewußtsein eingebettet, daß uns nicht klar ist, wieviel sich um sie dreht. Es wäre
nicht übertrieben zu sagen, daß wir Sprache geradezu anbeten oder daß wir
süchtig nach ihr sind. Wir setzen sie mit dem Leben selbst gleich.
Ein anderer Aspekt im Leben der meisten Menschen – der
offensichtlich mit dem Sprechen in Zusammenhang steht – ist irgendeine Art von
Handlung. Dinge tun. Etwas erschaffen. Dinge bewegen, sie anhäufen und ordnen.
Den Körper in einer physischen Aktivität einsetzen, manchmal einfach nur, um
unsere Körperlichkeit in der Freizeit zu genießen.
In diesen beiden Bereichen ist unsere westliche Kultur –
im Vergleich zu anderen heutigen Kulturen, und insbesondere im Vergleich zu
Kulturen der Vergangenheit – reich. Wir besitzen mehr Dinge und haben mehr
Dinge zu tun, wir gebrauchen Gedanken und Sprache in vielfältigerer Weise, als
es zu irgendeiner Zeit in der menschlichen Geschichte der Fall war. Wir sind
mehr als reich. Wir leben in außerordentlicher Fülle.
Innerlich jedoch sind wir verarmt. Unsere Kehle ist
ausgedörrt und unser spiritueller Körper abgemagert. Das ist wahrscheinlich der
Grund dafür, warum wir so viele äußere Dinge haben. Wir verwenden sie, um einen
Hunger zu stillen, der nie aufzuhören scheint. Er scheint unstillbar zu sein.
Wir haben ein ähnlich heftiges Verlangen nach Beziehung.
Ich kenne zum Beispiel jemanden, der sich sehr für das Bergsteigen interessiert
und der mir vor kurzem die Wunder des Internets gepriesen hat. Am Abend zuvor
hatte er mit einem Bergsteiger in Sibirien gechattet. Das ist wunderbar, sagte
ich. Aber hast du in letzter Zeit auch mit deiner Frau gesprochen? Und mit
deinen Kindern? Wir haben diese wunderbare Technologie, aber sie scheint uns
nicht bei dem Leben direkt vor unserer Nase zu helfen. Ich habe keinen Zweifel
daran, daß mein Freund die Polizei gerufen hätte, wenn der sibirische
Bergsteiger in seinem Vorgarten aufgetaucht wäre. Er wollte ihn auf dem
Bildschirm kennenlernen, nicht von Angesicht zu Angesicht.
Ich will damit die Technologie nicht herabwürdigen. Der
Computer ist genau wie die Sprache eine wunderbare menschliche Erfindung. Ich
schreibe dieses Kapitel auf einem Computer. Ich bezweifle überhaupt nicht, daß
das Internet ein wunderbares Hilfsmittel ist; es ist so, als hätte man die
größte Bibliothek der Welt zur Hand. Aber wenn sich anhäufende Informationen
uns retten könnten, dann hätten wir das schon vor langer Zeit geschafft.
Die Nachteile einer solchen Art von Wissen wurden mir vor
mehr als zwanzig Jahren deutlich, als ich in Korea war und mich unter einem
Mönch namens Byok Jo Sunim schulte, der einer der denkwürdigsten Menschen war,
denen ich je begegnet bin. Er glühte geradezu innerlich und strahlte die Freude
aus, die die Übung ihm brachte. Er war außerordentlich liebevoll und besaß
einen wunderbaren Sinn für Humor – und er war ein totaler Analphabet. Er konnte
nicht einmal seinen Namen schreiben.
Während ich mich eines Tages mittels eines Dolmetschers
mit ihm unterhielt, stellte ich fest, daß er glaubte, die Welt sei eine flache
Scheibe. Ich war perplex und beschloß natürlich, ihn aufzuklären. Ich ging zu
meinen Schulkenntnissen in den Naturwissenschaften zurück und brachte all die
klassischen Argumente vor: Wenn die Welt flach ist, wie können wir sie dann
umsegeln? Wie kommt es, daß ein Schiff nicht über den Rand fällt? Er lachte
einfach nur. Er war unerbittlich. Ich kam bei ihm einfach nicht an.
Schließlich sagte er: „Okay. Vielleicht habt ihr Westler
recht. Ich bin nur ein alter Mann, der nicht lesen und nicht schreiben kann.
Die Welt ist rund, und du weißt das, und ich bin zu dumm, um es zu kapieren.
Aber hat dieses Wissen euch irgendwie glücklicher gemacht? Hat es euch
geholfen, eure Lebensprobleme zu lösen?“
Tatsächlich hat es das nicht. Es hat uns bei unseren
Problemen überhaupt nicht geholfen. Kein Wissen hat uns dabei geholfen.
Bei allem, was wir gelernt haben, haben wir Menschen nicht
einmal das Problem des Zusammenlebens gelöst. Wir haben unglaubliche
Technologien, die uns in Kontakt mit Menschen auf der anderen Seite der Erde
bringen können, aber wir wissen nicht, wie wir mit den Menschen in unserer Nachbarschaft,
ja nicht einmal mit denen in unserem eigenen Haus auskommen sollen.
Ein Teil unserer Kultur steigt rasant schnell in den
Himmel auf, und ein anderer Teil hat kaum das Kriechen gelernt. Wir sind in
einer Illusion gefangen, einem wunderbaren Zaubertrick, der uns vorgaukelt, daß
die Dinge, die wir produzieren, uns glücklich machen werden. Wir sind nicht nur
selbst das Publikum für diesen Trick, sondern wir sind auch die Zauberer. Wir
haben uns selbst etwas vorgemacht.
Wir müssen viel tiefer in unseren Geist hineingehen. Es
ist, als wären wir von weiten Feldern und fruchtbarem Boden umgeben, soweit das
Auge reicht, hätten aber nur ein winziges Stück davon bebaut. Wir haben auf
diesem winzigen Fleckchen Wunderbares geleistet, aber wir müssen noch sämtliche
Felder darum herum erforschen. Wir müssen von all dem Bauen und Tun, dem Kommen
und Gehen, von dem Reden und Denken und Lesen und Schreiben wegkommen.
(aus Larry Rosenberg, Mit jedem Atemzug, Arbor Verlag, Freiamt, 2. Auflage 2007, S. 256 ff.)