Auf die Idee für die Chautauqua [öffentliche Veranstaltung zur Unterhaltung und Volksbildung, Erklärung
von mir], die mir für diese Fahrt vorschwebt, haben
die beiden mich vor vielen Monaten gebracht, und vielleicht ich bin mir da
nicht ganz sicher – vielleicht hängt das mit der Unterströmung von Disharmonie
zusammen, die zwischen ihnen herrscht.
Ganz harmonisch geht’s wohl in den wenigsten Ehen zu, aber in
ihrem Fall ist es ernster. Wenigstens habe ich den Eindruck.
Es liegt nicht daran, daß sie charakterlich nicht zueinander
passen; es ist etwas anderes, wofür man keinem von beiden die Schuld geben
kann, wofür sie beide keine Lösung wissen und wofür wohl auch ich keine Lösung
habe; ich mache mir nur so meine Gedanken.
Den Anstoß gab eine scheinbar belanglose
Meinungsverschiedenheit zwischen John und mir über eine an sich unwichtige
Frage: Inwieweit soll man sein Motorrad selbst warten? Für mich ist es
selbstverständlich und durchaus normal, mich der kleinen Werkzeuggarnitur und
der Betriebsanleitung zu bedienen, die man mit jedem Motorrad mitgeliefert
bekommt, und die Maschine eigenhändig zu warten und zu pflegen. John hat da
Bedenken. Ihm ist es lieber, wenn ein richtiger Mechaniker diese Arbeiten
übernimmt und dafür sorgt, daß sie ordnungsgemäß ausgeführt werden. Keiner der
beiden Standpunkte ist ungewöhnlich, und diese geringfügige Differenz hätte
sich niemals so auswachsen können, würden wir nicht so oft Touren miteinander
machen und in Gasthäusern an der Landstraße beim Bier sitzen und über alles
reden, was uns gerade einfällt. Es fällt uns meistens das ein, woran wir in der
halben oder dreiviertel Stunde seit unserer letzten Unterhaltung gedacht haben.
Wenn es um die Straßen oder die Leute oder Erinnerungen von früher geht oder um
etwas, was in der Zeitung steht, kommt ganz von selbst eine erfreuliche
Unterhaltung in Gang. Aber immer wenn ich über die Leistung der Maschine
nachgedacht habe und davon anfange, kommt gar nichts in Gang. Das Gespräch
stockt. Keiner sagt mehr etwas, betretenes Schweigen. Es ist, als würden zwei
alte Freunde, ein Katholik und ein Protestant, im besten Einvernehmen ein Bier
miteinander trinken, und irgendwie käme einer auf das Thema Geburtenkontrolle.
Eisiges Schweigen.
Wenn man so was erst einmal gemerkt hat, geht es einem damit
natürlich wie mit einem Zahn, aus dem die Plombe herausgefallen ist. Man kann
ihn einfach nicht mehr in Ruhe lassen. Man muß ihn ringsherum befühlen, mit der
Zunge sondieren, ihn abklopfen und an ihn denken, nicht weil einem das Spaß
macht, sondern weil es einen nun mal beschäftigt und man nicht mehr davon
loskommt. Und je mehr ich das Thema Motorradwartung sondiere und abklopfe, um
so ärgerlicher wird er, was natürlich mich wiederum reizt, immer weiter zu
bohren und zu sondieren. Nicht daß ich es darauf anlegte, ihn zu ärgern;
vielmehr scheint es, daß der Ärger nur ein Symptom für etwas Tieferes ist,
etwas unter der Oberfläche, was man nicht auf den ersten Blick sieht.
Wenn man über Geburtenkontrolle redet, und es stellt sich
heraus, daß die Standpunkte unvereinbar sind, dann geht es dabei nicht um die
Frage, ob mehr oder weniger Babys auf die Welt kommen sollen. Das ist nur an
der Oberfläche. Die tiefere Ursache ist ein Glaubenskonflikt – Glaube an
empirische Sozialplanung auf der einen, Glaube an die Autorität Gottes, wie sie
sich in den Lehren der katholischen Kirche offenbart, auf der anderen Seite.
Man kann Beweise für den praktischen Nutzen der Geburtenkontrolle anführen, bis
man schwarz wird, und erreicht trotzdem nichts, weil der andere einem die Voraussetzung
nicht abnimmt, daß alles gesellschaftlich Nützliche von vornherein auch gut
ist. Sein Begriff von gut und schlecht hat andere Quellen, die er genauso hoch
oder noch höher einschätzt als den gesellschaftlichen Nutzen.
Genauso ist es mit John. Ich könnte ihm den praktischen Wert
der Motorradwartung predigen, bis ich heiser wäre, und würde trotzdem nichts
bei ihm ausrichten. Zwei Sätze über dieses Thema, und er kriegt ganz glasige
Augen, fängt von etwas anderem an oder schaut einfach weg. Er will nichts davon
hören.
Sylvia teilt darin seinen Standpunkt, ja sie vertritt ihn
sogar noch entschiedener. »Das ist eine ganz andere Welt«, sagt sie, wenn sie
nachdenklich gestimmt ist. Und sonst: »So was wie Dreck und Abfall.« Die beiden
wollen es einfach nicht verstehen. Sie wollen nichts davon hören. Und je mehr
ich darüber nachdenke, woran es liegt, daß ich Mechanikerarbeit mag und die
beiden sie so verabscheuen, um so unbegreiflicher finde ich es. Es scheint, daß
die eigentliche Ursache dieser zunächst belanglosen Meinungsverschiedenheit
sehr, sehr tief sitzt.
Unfähigkeit scheidet von vornherein aus. Sie sind wahrhaftig
intelligent genug. Beide könnten in anderthalb Stunden lernen, wie man ein
Motorrad wartet, wenn sie nur mit Verstand und Energie an die Sache
herangingen; und die ersparten Ausgaben, Scherereien und Wartezeiten würden sie
reichlich für die Mühe entschädigen. Das wissen sie auch. Oder vielleicht doch
nicht. Was weiß ich. Ich habe sie nie danach gefragt. Daß wir uns halbwegs
vertragen, ist mir wichtiger.
Ich erinnere mich aber, daß mir, einmal doch beinahe die
Geduld ausgegangen wäre, an einem glühend heißen Tag vor einer Bar in Savage,
Minnesota. Wir hatten etwa eine Stunde in der Bar gesessen, und als wir
herauskamen, waren die Maschinen so heiß, daß man sich kaum draufsetzen konnte.
Ich warte abfahrbereit mit laufendem Motor, aber Johns Maschine springt nicht
an, obwohl er wie besessen den Kickstarter tritt. Es stinkt nach Benzin, als ob
gleich um die Ecke eine Raffinerie wäre, und ich sage ihm das, weil ich glaube,
das müßte reichen, um ihm klarzumachen, daß sein Motor abgesoffen ist.
»Ja, ich rieche es
auch«, sagt er und kickt weiter. Er kickt und kickt und schluckt und kickt, und
ich bin sprachlos. Schließlich ist er völlig außer Atem, der Schweiß läuft ihm
übers ganze Gesicht, er kann nicht mehr. Ich schlage ihm deshalb vor, daß wir
die Kerzen herausnehmen, um sie zu trocknen und die Zylinder auslüften zu
lassen, und unterdessen noch auf ein Bier hineingehen.
»Um Himmels willen, nein! Bloß nicht diesen ganzen Zirkus!«
»Was für ein Zirkus?«
»Na, das Werkzeug auspacken und der ganze Zirkus. Oberhaupt
nicht einzusehen, warum sie nicht anspringt, eine nagelneue Maschine. Und ich
halte mich genau an die Betriebsanleitung. Schau her, die Luftklappe ist zu,
ganz nach Vorschrift.«
»Die Luftklappe ist zu?«
»Ja, so steht’s doch in der Anleitung.«
»Aber doch nur, wenn der Motor kalt ist!«
»Entschuldige mal, wir waren mindestens eine halbe Stunde da
drin«, sagt er.
Das wirft mich um. »Aber bei der Hitze heute, John«, sage
ich, »In so kurzer Zeit kühlt der Motor nicht einmal ab, wenn es friert.«
Er kratzt sich am Kopf. »Na schön, aber warum schreiben sie
das dann nicht in die Anleitung?« Er macht die Luftklappe auf, und beim zweiten
Antreten läuft der Motor. »Ich glaube, das war’s«, stellt er befriedigt fest.
Tags darauf waren wir in derselben Gegend unterwegs, und
alles fing wieder von vorne an. Diesmal war ich fest entschlossen, kein Wort zu
sagen, und als meine Frau mir zuredete, hinüberzugehen und ihm zu helfen,
schüttelte ich den Kopf. Ich sagte ihr, solange er nicht von sich aus käme,
würde ihn jedes Hilfsangebot nur kränken. Wir gingen deshalb ein Stück abseits,
setzten uns in den Schatten und warteten.
Mir fiel auf, daß er zu Sylvia übertrieben höflich war, ein
Zeichen, daß er eine Stinkwut hatte, während er unentwegt den Kickstarter trat,
und sie sah flehentlich zu uns herüber. Ein Wort nur, eine einzige Frage, und
ich wäre hingegangen, um die Diagnose zu stellen. Aber nein. Es muß eine
geschlagene Viertelstunde gedauert haben, bis er den Motor endlich zum Laufen
brachte.
Später tranken wir wieder Bier drüben am Minnetonka-See, und
alle am Tisch redeten, nur er war still, und es war ihm anzusehen, daß sich ihm
diesmal inwendig alles verknotet hatte. Nach so langer Zeit. Wohl um die Knoten
zu lösen, sagte er schließlich: »Weißt du, wenn das Ding so wie vorhin durchaus
nicht anspringen will, dann … könnte ich platzen vor Wut. So was treibt mich
glatt zur Raserei.« Das schien ihn zu erleichtern, und er fuhr fort: »Die
hatten ja auch nur diese eine Maschine, verstehst du? Diesen Ausschuß. Sie überlegten hin und her,
was sie damit anfangen sollten, ans Werk zurückschicken oder verschrotten oder
was sonst … und im allerletzten Moment kam dann ich daher. Mit tausendachthundert
Dollar in der Tasche. Und schon waren sie ihre Sorgen los.«
Ich betete ihm wieder mal die ganze Litanei herunter, daß er
die Maschine doch selber warten sollte, und er gab sich ehrlich Mühe, mir
zuzuhören. Manchmal gibt er sich wirklich Mühe. Aber dann war es plötzlich
wieder aus, er ging an die Bar und bestellte noch eine Runde für uns alle, und
das Thema war gestorben.
Er ist nicht stur, nicht engstirnig, nicht faul, nicht dumm.
Es gab keine einfache Erklärung. Deshalb blieb es in der Schwebe, wie ein
Rätsel, bei dem man irgendwann aufsteckt, weil es keinen Zweck hat, sich ewig
im Kreise zu drehen und nach einer Lösung zu suchen, die es gar nicht gibt.
Ich habe mich auch gefragt, ob nicht vielleicht mein eigener
Standpunkt der ungewöhnliche war, aber auch diese Möglichkeit schied aus. Die
meisten Motorradfahrer, die längere Touren machen, warten ihre Maschinen
selbst. Autofahrer machen im allgemeinen nichts am Motor, aber es gibt ja in
jedem größeren Ort eine Autowerkstatt mit teuren Hebebuhnen, Spezialwerkzeug
und Diagnosegeräten, die der durchschnittliche Autobesitzer sich nicht leisten
kann. Außerdem ist der Motor beim Auto komplizierter und schwerer zugänglich
als beim Motorrad, weshalb die Abstinenz in diesem Fall gerechtfertigt ist. Aber
ich möchte wetten, daß sich für Johns Maschine, eine BMW R 6o, von hier bis
Salt Lake City kein Mechaniker findet. Es brauchen ihm bloß die
Unterbrecherkontakte oder die Zündkerzen zu verschmoren und er ist geliefert.
Ich weiß, daß er keinen Reservesatz
Unterbrecherkontakte dabei hat. Er weiß nicht mal, was Unterbrecherkontakte
sind. Ich möchte wissen, was er macht, wenn die Maschine ihn im Westen von
South Dakota oder Montana im Stich läßt. Vielleicht verkauft er sie dann den
Indianern. Aber was er im Augenblick macht, weiß ich genau. Er gibt sich die
größte Mühe, nur ja keinen Gedanken darauf zu verschwenden. Die BMW ist berühmt
dafür, daß sie unterwegs keine Scherereien macht, und darauf verläßt er sich.
Ich dachte erst, daß
sich diese Einstellung der beiden auf Motorräder beschränkte, aber mit der Zeit
wurde mir klar, daß es um mehr ging … Als ich eines Morgens in ihrer Küche
wartete, weil sie noch nicht fertig waren, merkte ich, daß der Wasserhahn über
der Spüle tropfte, und mir fiel ein, daß er auch das letzte Mal schon getropft
hatte, ja daß er schon immer getropft hatte, solange ich zurückdenken konnte.
Als ich John darauf ansprach, erklärte er mir, er habe versucht, die Dichtung
auszuwechseln, aber es sei nicht gegangen. Weiter nichts. Damit war die Sache
für ihn offenbar erledigt. Wenn man einen tropfenden Wasserhahn reparieren
will, und es geht nicht, dann ist man eben vom Schicksal dazu verdammt, mit
einem tropfenden Wasserhahn zu leben.
Ich fragte mich im stillen, ob es ihnen nicht auf die Nerven
ging, dieses ewige tripp‑tripp‑tripp, Woche für Woche, jahrein, jahraus, aber
nichts deutete darauf hin, daß es sie aufregte oder auch nur störte; ich kam
deshalb zu dem Schluß, daß Dinge wie tropfende Wasserhähne ihnen nichts
ausmachten. Solche Leute gibt’s ja.
Was mich von dieser Meinung abbrachte, weiß ich nicht mehr …
Intuition, ein plötzliches Begreifen, oder vielleicht Sylvias
fast unmerklich veränderte Stimmung, immer wenn das Tropfen besonders laut war
und sie etwas sagen wollte. Sie hat eine sehr leise Stimme. Eines Tages, als
sie gerade sprach und das Tropfen übertönen mußte und dann auch noch die Kinder
hereinplatzten und sie aus dem Konzept brachten, verlor sie die Beherrschung.
Bestimmt hätte sie die Kinder längst nicht so grob angefahren, wenn nicht
außerdem noch der Wasserhahn getropft hätte, während sie etwas sagen wollte.
Erst als beides zusammenkam, das Tropfen und die lauten Kinder, fuhr sie aus
der Haut. Was mich dabei so empörte, war, daß sie nicht dem tropfenden
Wasserhahn die Schuld gab und daß sie es ganz bewußt nicht tat. Es stimmte überhaupt nicht, daß das Tropfen sie
nicht störte! Sie unterdrückte den
Ärger darüber, obwohl dieser gottverdammte tropfende Wasserhahn sie schier zur
Verzweiflung trieb! Aus irgendeinem Grund konnte sie nicht zugeben, wie sehr
ihr das zu schaffen machte.
Wie kommt einer dazu, seinen Ärger über einen tropfenden
Wasserhahn zu unterdrücken, fragte ich mich.
Doch dann sah ich den Zusammenhang mit der Motorradwartung,
und eine dieser Glühbirnen ging über meinem Kopf an, und ich dachte: Ahhhhhh!
Es ist gar nicht die Motorradwartung und auch nicht der
Wasserhahn. Die ganze Technik können sie nicht ausstehen. Und da fügte sich
eins ins andere, und ich wußte, jetzt hab’ ich’s. Sylvias gereizte Reaktion,
als ein Bekannter das Programmieren von Computern als »kreativ« bezeichnete.
Auf keinem ihrer Bilder, ob Zeichnung, Gemälde oder Photo, auch nur ein
technischer Gegenstand. Natürlich regt sie sich nicht über den Wasserhahn auf,
dachte ich. Man unterdrückt immer momentanen Ärger über etwas, was man aus
tiefster Seele und ein für allemal haßt. Natürlich schaltet John beim Thema
Motorradwartung jedesmal ab, selbst wenn ihn das teuer zu stehen kommt. Das ist
ja Technik. Und bestimmt, ja natürlich, na klar. Es ist ganz einfach, man muß
nur drauf kommen. Um vor der Technik aufs Land hinaus zu fliehen, in die
frische Luft und die Sonne, deswegen vor allem machen sie Motorradfahrten. Und
wenn ich sie ihnen gerade dann und dort wieder in Erinnerung bringe, wo sie
sich endgültig vor ihr sicher glauben, dann sind sie furchtbar verschnupft. Das
ist der Grund, weshalb das Gespräch jedesmal stockt und die Stimmung frostig
wird, sobald das Thema zur Sprache kommt.
Auch sonst paßt noch manches in dieses Bild. Ab und zu einmal
sprechen sie in möglichst wenigen, gequälten Worten über »es« oder »das alles«,
etwa in einem Satz wie: »Man kann dem einfach nicht entgehen.« Wenn ich sie
fragte, was sie damit meinen, würden sie vielleicht antworten: »Na eben den
ganzen Kram« oder: »Den ganzen Betrieb« oder gar: »Das System«. Sylvia sagte
einmal, um sich zu rechtfertigen: »Dir macht das ja alles nichts aus, du kommst
glänzend damit zurecht.« Ich fühlte mich damals so geschmeichelt, daß ich mich
genierte, zu fragen, was sie mit diesem »das« meinte, und so tappte ich weiter
im dunkeln. Ich dachte, es sei etwas Geheimnisvolleres als die Technik. Jetzt
weiß ich aber, daß mit »es« vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, die
Technik gemeint ist. Aber so kann man es eigentlich auch wieder nicht sagen.
»Es« ist so etwas wie eine Kraft, die die Technik entstehen ließ, etwas
Undefiniertes, aber Unmenschliches, Mechanisches, Lebloses, ein blindwütiges
Monstrum, eine Todeskraft. Etwas Entsetzliches, wovor sie davonlaufen, dem sie
aber, und das wissen sie, nie entkommen werden. Das sind viel zu große Worte,
aber weniger pathetisch ausgedrückt, weniger genau definiert ist es das schon.
Irgendwo gibt es Menschen, die damit umzugehen wissen, die es beherrschen und
verwalten, aber das sind Techniker, und die sprechen eine inhumane Sprache,
wenn sie von ihrer Arbeit reden. Es dreht sich alles um Teile und Funktionen
höchst sonderbarer Apparate, aus denen man nie schlau wird, sooft man sie auch
erklärt bekommt. Und diese Apparate, diese Monstren der Techniker, fressen
unaufhaltsam ihr Land auf, verschmutzen ihre Luft und ihre Seen, und es gibt
keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, und kaum eine, davor zu fliehen.
Es braucht nicht viel, damit einer zu dieser Einstellung
kommt. Man gehe nur durch ein ausgesprochenes Industriegebiet in einer
Großstadt, da hat man sie überall vor sich, die Technik. Als erstes sieht man
auf hohe Stacheldrahtzäune, verschlossene Tore, Schilder mit einer Aufschrift
wie BETRETEN VERBOTEN, und dahinter, durch die verrußte Luft, häßliche,
absonderliche Formen, Gebilde aus Metall und Ziegelstein, deren Zweck man nicht
kennt und deren Herren man nie zu sehen bekommt. Wozu das alles gut ist, weiß
man nicht, keiner sagt einem, warum es überhaupt da ist, und so kann man sich
nur befremdet fühlen, entfremdet, als einer, der da nichts verloren hat. Die
das besitzen und darüber Bescheid wissen, wollen einen nicht dahaben. Die ganze
Technik hat einen zum Fremden im eigenen Land gemacht. Ihre bloße Gestalt, ihr
Aussehen, ihre Rätselhaftigkeit besagen: »Raus hier.« Man weiß, daß es irgendwo
eine Erklärung für all das gibt und daß es ohne Zweifel auf irgendeine
indirekte Art der Menschheit dient, aber das sieht man nicht. Was man sieht,
sind die Schilder BETRETEN VERBOTEN, KEIN ZUTRITT; nichts, was den Menschen
dient, statt dessen nur »verzwergte« Menschen – »Menschlein« – Ameisen gleich,
die diesen absonderlichen, unbegreiflichen Gebilden dienen. Und man denkt sich,
selbst wenn ich dazugehörte, selbst wenn ich kein Fremder wäre, wäre ich auch
nur so eine Ameise im Dienst der Gebilde. So kommt es, daß man schließlich
Feindseligkeit empfindet, und ich glaube, das ist es, was letztlich hinter der
ansonsten unerklärlichen Einstellung von John und Sylvia steckt, Alles, was mit
Ventilen und Wellen und Schraubenschlüsseln zu tun hat, ist ein Teil dieser dem
Menschen entfremdeten Welt, an die sie am liebsten gar nicht denken. Sie wollen
sich nicht hineinziehen lassen.
Wenn dem so ist, dann stehen sie nicht allein da. Es ist gar
keine Frage, daß sie darin ihrem natürlichen Empfinden folgen und nicht etwa
irgend jemanden nachahmen. Aber auch viele andere folgen ihrem natürlichen
Empfinden und ahmen niemanden nach, und die natürlichen Empfindungen sehr
vieler Menschen sind sich in diesem Punkt auffallend ähnlich; betrachtet man
sie deshalb als Kollektiv, wie es Journalisten tun, dann drängt sich die
Illusion einer Massenbewegung auf, einer technikfeindlichen Massenbewegung,
einer regelrechten technikfeindlichen politischen Linken, die scheinbar aus dem
Nichts auftaucht, sich drohend erhebt und sagt: »Macht Schluß mit der Technik.
Geht damit woanders hin. Wir wollen sie hier nicht haben.« Noch wird sie im
Zaum gehalten durch das dünne Netz einer Logik, die besagt, daß es ohne
Fabriken keine Arbeitsplätze und keinen Lebensstandard gäbe. Aber es gibt
menschliche Kräfte, die stärker sind als Logik, und wenn sie in ihrem Hag auf
die Technik stark genug werden, kann dieses Netz zerreißen.
Man hat Klischees und Schablonen wie »Beatnik« und »Hippie«
für die Feinde der Technik, die Systemgegner, erfunden und wird weiter welche
erfinden. Aber man macht nicht Massenmenschen aus Individuen, indem man sie
kurzerhand in eine Schablone preßt. John und Sylvia sind keine Massenmenschen,
so wenig wie die meisten anderen, die ihren Weg gehen. Vielmehr scheint es, daß
sie sich gegen das Dasein als Massenmensch auflehnen. Sie glauben, daß die
Technik eine Menge mit den Kräften zu tun hat, die Massenmenschen aus ihnen
machen wollen, und sie mögen sie nicht. Einstweilen ist es meist noch passiver
Widerstand, Flucht aufs Land sooft es geht und dergleichen, aber es ist nicht
gesagt, daß er immer so passiv bleibt.
Ich bin nicht ihrer Meinung, was die Motorradwartung angeht,
aber nicht weil ich kein Verständnis für ihre Einstellung zur Technik hätte.
Ich meine nur, daß ihre Flucht vor der Technik, ihr Haß auf sie,
selbstzerstörerisch ist. Der Buddha, die Gottheit, wohnt in den Schaltungen
eines Digitalrechners oder den Zahnrädern eines Motorradgetriebes genauso
bequem wie auf einem Berggipfel oder im Kelch einer Blüte. Wer das nicht
wahrhaben will, erniedrigt den Buddha und damit sich selbst. Das ist es,
worüber ich in dieser Chautauqua sprechen möchte.
Wir sind jetzt aus den Sümpfen heraus, aber es ist immer noch
so diesig, daß man direkt zur gelben Sonnenscheibe hinaufschauen kann, als ob
Rauch oder Smog am Himmel hinge. Aber wir sind jetzt in einer grünen
Landschaft. Die Farmhäuser sind sauber und weiß und frisch. Es gibt hier weder
Rauch noch Smog.
aus Pirsig, Robert M., Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, Kap.
1, S. 18 ff.
siehe auch:
Vater, Sohn, Heiliges Rad (Lettre International 72, Frühjahr 2006)
siehe auch:
Vater, Sohn, Heiliges Rad (Lettre International 72, Frühjahr 2006)