Im Loslassen steckt Weisheit. Wenn wir zu stark festhalten, verlieren wir die Hoffnung. Der wichtigste Teil der Übung, bei der wir den Geist von Samsara abwenden und Nirwana zuwenden, ist, das Festhalten zu unterlassen. Wenn wir feststellen, dass nicht unser Haus und unser prestigeträchtiger Job die größten Hindernisse für unser Glück sind, sondern unsere Anhaftung und unser Festhalten daran, können wir das als große Erleichterung empfinden. Etwas loslassen ist aber nicht so, wie wenn man den Müll wegbringt oder einem Obdachlosen einen gebrauchten Mantel schenkt. Uns von den Dingen des Sarnsara zu lösen mag sich eher so anfühlen, als ob wir uns selbst das Fleisch von den Knochen ziehen würden.
Generell kann man nicht einfach von einem Moment auf den anderen in einen Geisteszustand des Nichtfesthaltens eintreten, ohne auf der äußeren Ebene irgendetwas aufzugeben. Deshalb enthält der Weg Praktiken, die uns ermutigen, in unterschiedlichem Maße Verzicht zu üben. Schon die Meditation selbst ist ein Ausdruck von Entsagung: Ganz gleich ob in unserem Geist Chaos herrscht, ob er an etwas festhält oder von Verlangen verzehrt wird – wir sind immerhin von dem Druck der gewöhnlichen Aktivitäten einen Schritt zurückgetreten und versuchen, mit unserer geistigen Verwirrung zu arbeiten. Das ist ein großer Schritt. Ein weiterer großer Schritt ist zu lernen, wie wir unseren Geist von den Gewohnheiten der Verwirrung abwenden – so wie wir es in der Ngöndro-Praxis tun –, um Zugang zu den wahren Quellen der Befreiung in unserem Inneren zu erhalten.
Sowohl mein Vater als auch Saljay Rinpoche sagten immer wieder: »Wir haben schon alles, was wir für unsere Reise brauchen.« Warum wiederholten sie das nur immerzu? Weil wir die Worte zwar verstehen, ihnen aber nicht glauben. Niemand glaubt zu hundert Prozent daran. Das ist auch in Ordnung, weil wir ja irgendwo anfangen müssen.
Das freizulegen, was wir bereits haben, mag einfach klingen – ist es aber nicht. Die Anhaftung an Samsara ist wirklich tiefgreifend. Sie geht so tief, dass sie von keiner äußeren Kraft gebrochen werden kann. Der Bruch muss von innen kommen. Das fangt damit an, dass wir alle Projektionen, gedanklichen Konstrukte und gewöhnlichen Vorstellungen von uns selbst loslassen und lernen zu erkennen, wer wir wirklich sind. Die Meditation ist das wirksamste Werkzeug, mit dem wir das erreichen können.
Eine Meditation, die wir bei der Ngöndro durchgängig praktizieren, heißt Shamata, Sanskrit für »ruhiges Verweilen«. Auf Tibetisch heißt es Shine. Mit der Shamata-Praxis werde ich mich im nächsten Kapitel befassen, doch einige Punkte möchte ich hier schon erläutern. »Ruhiges Verweilen« beschreibt einen Geist, der in seiner eigenen Stabilität ruht, einen Geist, der nicht andauernd von irgendwelchen Gegebenheiten hin- und hergerissen wird.
Werde ruhig wie ein tiefer See: Vorbereitende Übungen des tibetischen Buddhismus (Yongey Mingyur Rinpoche, Arkana, 2015)
Nur mit einer Meditationstechnik allein ist es aber nicht möglich, die Instabilität des Geistes dauerhaft zu entfernen. Erst wenn der Geist sein eigenes Wesen erkennt, kann er wahre Stabilität erreichen. Da der Geist sich aber selbst direkt erleben kann, ist er auch fähig, seine wahre Natur zu erfahren: Ungehindert, frei von Haften und Fixierung auf den endlosen Strom der geistigen Inhalte, nämlich der Gedanken, Wahrnehmungen und Vorstellungen. Aus Gewohnheit greifen wir nach den Erscheinungen im Geist, als seien sie solide und real. Wir verlieren dadurch den Blickwinkel, aus dem wir die ungehinderte Qualität des Geistes erkennen können. Wir sagen auch, dass die wahre Natur des Geistes Leerheit sei und meinen damit, dass der Geist klar ist. Er ist leer davon, etwas Solides, Dauerhaftes oder in sich selbst Existierendes zu sein.
Wenn wir aber auf den Geist meditieren so wie er im Moment ist, also auf unser derzeitiges persönliches Erleben unseres Geistes, dann werden wir erkennen wie aufgewühlt er ist und wie er ständig von einem Strom von Gedanken abgelenkt wird. Wenn wir das tun, erkennen wir, dass wir zurzeit nicht in der Lage sind, einen stabilen Geist zu erfahren und so wird uns die Notwendigkeit klar, unseren Geist zu trainieren. Wir wollen ihn "zähmen", um ihn in einen Zustand der Ruhe und Stabilität zu bringen. Dafür geben wir ihm einen Bezugspunkt, etwas, worauf er sich ausrichten kann. In Buddhas Lehren gibt es Erklärungen über verschiedene Stützen oder Bezugspunkte, die für die Stabilisierung des Geistes hilfreich sind. Buddha hat insbesondere die Methode betont, dass man den Geist auf dem Atem ruhen lässt. Er erklärte, dass der Geist von fühlenden Wesen eng mit dem Körper verbunden ist. Geist und Körper befinden sich in einer nahen Beziehung miteinander, insbesondere Geist und die subtilen Energien im Körper. Deswegen ist ein Weg zur Erfahrung von Geistesruhe mit dem Atem zu arbeiten, denn der Atem steht sowohl mit dem Körper als auch mit den subtilen Energien in Verbindung.
[Meditation, Shamar Rinpoche, Buddhismus Heute Nr. 51, Sommer 2012]