Montag, 18. März 2019

Loslassen und Stabilität

Im Loslassen steckt Weisheit. Wenn wir zu stark festhalten, verlieren wir die Hoffnung. Der wichtigste Teil der Übung, bei der wir den Geist von Samsara abwenden und Nirwana zuwenden, ist, das Festhalten zu unterlassen. Wenn wir feststellen, dass nicht unser Haus und unser prestigeträchtiger Job die größten Hindernisse für unser Glück sind, sondern unsere Anhaftung und unser Festhalten daran, können wir das als große Erleichterung empfinden. Etwas loslassen ist aber nicht so, wie wenn man den Müll wegbringt oder einem Obdachlosen einen gebrauchten Mantel schenkt. Uns von den Dingen des Sarnsara zu lösen mag sich eher so anfühlen, als ob wir uns selbst das Fleisch von den Knochen ziehen würden.
Generell kann man nicht einfach von einem Moment auf den anderen in einen Geisteszustand des Nichtfesthaltens eintreten, ohne auf der äußeren Ebene irgendetwas aufzugeben. Deshalb enthält der Weg Praktiken, die uns ermutigen, in unterschiedlichem Maße Verzicht zu üben. Schon die Meditation selbst ist ein Ausdruck von Entsagung: Ganz gleich ob in unserem Geist Chaos herrscht, ob er an etwas festhält oder von Verlangen ver­zehrt wird – wir sind immerhin von dem Druck der gewöhnlichen Aktivitäten einen Schritt zurückgetreten und versuchen, mit unserer geistigen Verwirrung zu arbeiten. Das ist ein großer Schritt. Ein weiterer großer Schritt ist zu lernen, wie wir unseren Geist von den Gewohnheiten der Verwirrung abwenden – so wie wir es in der Ngöndro-Praxis tun –, um Zugang zu den wahren Quellen der Befreiung in unserem Inneren zu erhalten.
Sowohl mein Vater als auch Saljay Rinpoche sagten immer wieder: »Wir haben schon alles, was wir für unsere Reise brauchen.« Warum wiederholten sie das nur immerzu? Weil wir die Worte zwar verstehen, ihnen aber nicht glauben. Niemand glaubt zu hundert Prozent daran. Das ist auch in Ordnung, weil wir ja irgendwo anfangen müssen.
Das freizulegen, was wir bereits haben, mag einfach klingen – ist es aber nicht. Die Anhaftung an Samsara ist wirklich tiefgreifend. Sie geht so tief, dass sie von keiner äußeren Kraft gebrochen werden kann. Der Bruch muss von innen kommen. Das fangt damit an, dass wir alle Projektionen, gedanklichen Konstrukte und gewöhnlichen Vorstellungen von uns selbst loslassen und lernen zu erkennen, wer wir wirklich sind. Die Meditation ist das wirksamste Werkzeug, mit dem wir das erreichen können.

Eine Meditation, die wir bei der Ngöndro durchgängig praktizieren, heißt Shamata, Sanskrit für »ruhiges Verweilen«. Auf Tibetisch heißt es Shine. Mit der Shamata-Praxis werde ich mich im nächsten Kapitel befassen, doch einige Punkte möchte ich hier schon erläutern. »Ruhiges Verweilen« beschreibt einen Geist, der in seiner eigenen Stabilität ruht, einen Geist, der nicht andauernd von irgendwelchen Gegebenheiten hin- und hergerissen wird.

Werde ruhig wie ein tiefer See: Vorbereitende Übungen des tibetischen Buddhismus (Yongey Mingyur Rinpoche, Arkana, 2015)
Nur mit einer Meditationstechnik allein ist es aber nicht möglich, die Instabilität des Geistes dauerhaft zu entfernen. Erst wenn der Geist sein eigenes Wesen erkennt, kann er wahre Stabilität erreichen. Da der Geist sich aber selbst direkt erleben kann, ist er auch fähig, seine wahre Natur zu erfahren: Ungehindert, frei von Haften und Fixierung auf den endlosen Strom der geistigen Inhalte, nämlich der Gedanken, Wahrnehmungen und Vorstellungen. Aus Gewohnheit greifen wir nach den Erscheinungen im Geist, als seien sie solide und real. Wir verlieren dadurch den Blickwinkel, aus dem wir die ungehinderte Qualität des Geistes erkennen können. Wir sagen auch, dass die wahre Natur des Geistes Leerheit sei und meinen damit, dass der Geist klar ist. Er ist leer davon, etwas Solides, Dauerhaftes oder in sich selbst Existierendes zu sein.

Wenn wir aber auf den Geist meditieren so wie er im Moment ist, also auf unser derzeitiges persönliches Erleben unseres Geistes, dann werden wir erkennen wie aufgewühlt er ist und wie er ständig von einem Strom von Gedanken abgelenkt wird. Wenn wir das tun, erkennen wir, dass wir zurzeit nicht in der Lage sind, einen stabilen Geist zu erfahren und so wird uns die Notwendigkeit klar, unseren Geist zu trainieren. Wir wollen ihn "zähmen", um ihn in einen Zustand der Ruhe und Stabilität zu bringen. Dafür geben wir ihm einen Bezugspunkt, etwas, worauf er sich ausrichten kann. In Buddhas Lehren gibt es Erklärungen über verschiedene Stützen oder Bezugspunkte, die für die Stabilisierung des Geistes hilfreich sind. Buddha hat insbesondere die Methode betont, dass man den Geist auf dem Atem ruhen lässt. Er erklärte, dass der Geist von fühlenden Wesen eng mit dem Körper verbunden ist. Geist und Körper befinden sich in einer nahen Beziehung miteinander, insbesondere Geist und die subtilen Energien im Körper. Deswegen ist ein Weg zur Erfahrung von Geistesruhe mit dem Atem zu arbeiten, denn der Atem steht sowohl mit dem Körper als auch mit den subtilen Energien in Verbindung.
[Meditation, Shamar Rinpoche, Buddhismus Heute Nr. 51, Sommer 2012]

Psychoanalyse und Politik: Ambivalenz seit Freud

Horst-Eberhard Richter beklagt die ambivalente Haltung der Psychoanalytiker zur Politik und plädiert für Nutzung der Psychoanalyse für Politik. Die ambivalente Haltung führt er auf unzureichende Konsequenz der Psychoanalytiker zurück. Die ambivalente Haltung ist jedoch nicht erst das Ergebnis hinsichtlich Politik nicht zureichender Psychoanalytiker, sondern induzierte bereits der Initiator der Psychoanalyse, Freud, selbst. In den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde an geistig führende Persönlichkeiten die Frage nach ihrem Verhältnis zum Krieg gerichtet, mit der Absicht, eine prominente Ächtung des Krieges zu erreichen. Fast alle, darunter auch Einstein, antworteten positiv: gegen Krieg. Als einziger machte Freud eine Ausnahme. Er gab an, sich nicht äußern zu können, da er Psychoanalytiker und nicht Politiker sei.
[Kommentar von Hans Kaegelmann zu dem Beitrag „Das Unbehagen für kritische Aufklärung nutzen“ von Prof. Dr. med. Dr. phil. Horst-Eberhard Richter in Heft 20/2004, Dtsch Arztebl 2004; 101(25): A-1804 / B-1500 / C-1446]

siehe dazu auch:
- Psychoanalyse und Politik: Das Unbehagen für kritische Aufklärung nutzen (Horst-Eberhard Richter, Dtsch Ärzteblatt, PP 3, Ausgabe Juni 2004, Seite 275)
Ein historischer Abriss über das ambivalente Verhältnis der Psychoanalytiker zu Gesellschaft und Politik

Psychoanalyse hat, ob sie es will oder nicht, von vornherein mit Politik zu tun. Das weiß die Politik oft besser als die Psychoanalyse. So dulden Diktaturen nirgends auf der Welt Psychoanalyse, da sie ihr Verlangen nach gefügigen Untertanen gefährden könnte. Auch in Demokratien wirken sich politische Einflüsse restriktiv aus. Die Menschen sollen sich mit Sozialabbau, viele mit Arbeitslosigkeit, beschwerdenfrei zurechtfinden, die Umbrüche und Unverlässlichkeiten der modernen Ökonomie sollen sie mit robuster psychischer Flexibilität bewältigen. Wenn Jugendliche mit negativen Zukunftserwartungen nachweislich vermehrt psychosomatische Beschwerden äußern, so soll Psychotherapie helfen, diese Beschwerden wegzubringen. Diese selbst wird nach dem Druck des Kosten-Nutzen-Prinzips bewertet. Sie soll mit geringstem Zeitaufwand maximale Gesundheit produzieren, das heißt Unauffälligkeit und im arbeitsfähigen Alter hohe Leistungsfähigkeit. Der aus der Betriebswirtschaftslehre entlehnte Begriff der Effizienz ist das entscheidende Kriterium. Letztlich geht es um die Brauchbarkeit und die Handhabbarkeit des Menschen.

Psychoanalytiker können sich diesen Zwängen, wie sie es zum Teil auch tun, gefügig anpassen und die Bedeutung dieser Selbsteinschränkung verleugnen. Aber sie bezahlen solches Nachgeben insbesondere, wenn sie es nicht reflektieren, mit Einbußen an sozialer Potenz, an Kreativität sowie mit Rigidisierung ihrer eigenen Strukturen. Die Geschichte der Psychoanalyse stellt diese Problematik anschaulich dar:


Offensichtlich war es Freuds Hoffnung, die Psychoanalyse könne durch Eingrenzung auf eine Art Naturwissenschaft von der Seele sogar unter dem sich verschärfenden politischen Druck überleben. Auf dieser Linie lag 1936 auch die grundlegende Arbeit Heinz Hartmanns über „Psychoanalyse und Weltanschauung“, in welcher dieser lapidar erklärte, der Psychoanalyse stehe keinerlei Urteil über den Wert oder Unwert einer Weltanschauung zu. Sie offenbare nur eine wissenschaftliche Wahrheit und könne in diesem Sinne die kulturgeschichtliche Entwicklung fördern. So verständlich dieser Versuch in der Notsituation war, die Psychoanalyse durch Biologisierung und totale Entpolitisierung vor dem Zugriff der Nazis zu schützen, – die Folgen waren und sind bis heute schwerwiegend.
Ein weitgehend apolitisches Selbstverständnis charakterisiert seitdem den Mainstream der Psychoanalyse. Das machte sich bald auch dadurch bemerkbar, dass die Institute gut angepasste Kandidaten für die Ausbildung bevorzugten. Im angepassten Kandidatentyp spiegelte sich eine angepasste Psychoanalyse wider, die auf ihren internationalen Kongressen jedes gesellschaftskritische Thema vermied.
[Quelle: obiger Artikel von Horst-Eberhard Richter]

zum Thema Psychoanalyse und Politik:


Geschickt hat die deutsche Psychoanalyse in der BRD am Mythos gearbeitet, im "Dritten Reich" ein Ort des Widerstands gewesen zu sein. Das Gegenteil stimmt: Die "Seelenheilkunde" arbeitete freudig ihrer Gleichschaltung entgegen.

Im Jahr 2004 erschien eine zweibändige Edition des Briefwechsels zwischen Sigmund Freud und Max Eitingon, einem außerhalb der Fachwelt kaum noch bekannten Psychoanalytiker. Der Herausgeber, der Historiker Michael Schröter, erkannte in den 800 Briefen aus den Jahren 1906 bis 1939 eine herausragende Quelle für die Geschichte der Psychoanalyse in der Zeit des Nationalsozialismus – genauer gesagt: für die erfolgreiche Arisierung und freiwillige Selbstgleichschaltung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, deren Vorsitzender Max Eitingon bis 1933 war.

Denn anders als es die antifaschistische Legende aus den Sechziger- und Siebzigerjahren der Bundesrepublik wollte, war die Psychoanalyse keineswegs ein natürlicher Gegner des Nationalsozialismus, jedenfalls nicht im Verständnis ihrer deutschen Anhänger, denen es mühelos gelang, ihre Disziplin als kriegswichtig einstufen zu lassen. Nachdem Eitingon und die jüdischen Kollegen aus ihren Ämtern entfernt worden waren, wurde auch ihr berühmtes Berliner Psychoanalytisches Institut einem – tatsächlich so genannten – Göring-Institut einverleibt (dazu gleich mehr). Erst Anfang der Achtzigerjahre waren die deutschen Psychoanalytiker bereit, sich von ihrem Selbstbild als kritische Forscher zu verabschieden und der historischen Wahrheit ins Auge zu blicken. 

1881 im russischen Mogilew als Sohn des jüdischen Kaufmanns Chaim Eitingon geboren, in Leipzig aufgewachsen, vom wohltätigen Engagement seiner sehr religiösen Familie geprägt, beschäftigte er sich erstmals 1905, als Medizinstudent in Zürich, mit der Psychoanalyse. An der psychiatrischen Uni-Klinik Burghölzli arbeiteten damals führende Köpfe der noch jungen Disziplin wie Carl Gustav Jung und Karl Abraham. Während seiner ersten therapeutischen Analysen kam Eitingon in Kontakt mit Freud, Resultat war die 1910 gemeinsam mit anderen Kollegen gegründete Berliner Psychoanalytische Vereinigung. Eitingons Engagement, einschließlich seiner verschwenderischen Bereitschaft zur finanziellen Förderung der neuen Disziplin, rettete den chronisch unterfinanzierten, für Lehre und Forschung aber unverzichtbaren Internationalen Psychoanalytischen Verlag und ermöglichte die Gründung des Berliner Psychoanalytischen Instituts, der ersten psychoanalytischen Poliklinik und Lehranstalt überhaupt, die zum internationalen Vorbild wurde. Er werde nie vergessen, so Freud in seinem Brief zum 50. Geburtstag Eitingons, "was Sie in diesen Jahren auch nach der Gründung des mustergültigen Berliner Instituts für unsere Sache, die ja uneingeschränkt die Ihre ist, in Ihrer stillen und dabei unwiderstehlichen Art geleistet haben. Niemand außer mir weiß es und niemand vielleicht dankte Ihnen dafür. Es gab doch keine noch so schwierige und undankbare Aufgabe, die Sie in der Zeit Ihrer Präsidentschaft nicht auf sich genommen und glücklich erledigt hätten. Am liebsten sähe ich Sie als Präsident auf Lebenszeit, um die Zukunft meines Schmerzenskindes (...) zu sichern." 
[Salomon Korn, Psychoanalyse: Auch Freudianer sind gut im Verdrängen, ZON, 06.02.2019]



Die Psychoanalyse fristet heute auch in der linken Bewegung ein Schattendasein. Kaum an Unis oder therapeutischen Praxen vertreten, verschwindet sie nach und nach aus dem Bewusstsein der Menschen und wird zu einer Randwissenschaft, die nur für wenige zugänglich ist. Sie ist schlicht zu einem Mythos geworden. Dabei steckt in der Psychoanalyse vieles davon was wir dringend in der linken Bewegung brauchen und was ein Teil unserer Befreiung vom Kapitalismus und anderen Widersprüchen sein kann. Darum wird es Zeit die Debatte wiederzubeleben.

Viele haben schon Mal in ihrem Leben von der Psychoanalyse gehört, können sich aber selten was darunter vorstellen außer, dass es um den Sex mit der Mutter und anderes verrücktes Zeug geht. Freuds Theorie ist zugegebenermaßen etwas crazy und nicht grade leicht zu verstehen aber sie ist nicht abgedreht. Freud und anderen Psychoanalytiker*innen ging es immer darum die menschliche Seele und ihre Funktionen zu verstehen, anstatt bessere Wege zu finden diese zu „heilen“. Mit der Traumdeutung hat Freud einen Grundstein für das Verständnis des Unbewussten gelegt der bis heute eigentlich gängig ist. Kurz gesagt geht es darum, dass das was wir uns wünschen oder wollen nicht immer mit dem übereinstimmt was real ist. Deswegen müssen wir unsere Wünsche verdrängen, das zu verschiedensten Problemen führt und auch dazu, dass wir es trotzdem sagen nur eben durch die Blume. Und es geht genau darum zu verstehen wie diese Blume funktioniert. 
[Julius Zukowski-Krebs, Warum Psychoanalyse unsere Chance auf Befreiung sein kann (Julius Zukowski-Krebs, Die Freiheitsliebe, 04.12.2018)]


Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz gilt seit seinem Buch "Der Gefühlsstau" als Experte für ostdeutsche Befindlichkeiten. Nach den ausländerfeindlichen Vorfällen in Chemnitz verteidigt er den Osten.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat zu den Demos von Chemnitz gesagt, die Migration sei die Ursache aller Probleme und dass er als Chemnitzer auch auf die Straße gegangen wäre. Versteht Seehofer die Ostdeutschen besser als andere Politiker?
Dr. Hans-Joachim Maaz: Mit dieser Bemerkung ganz bestimmt. Die Aussage stimmt ja leider, wobei ich sie weiter differenzieren würde: Die Migration ist ja auch nur Symptom eines tieferliegenden weltweiten Problems. Auffällig ist jedenfalls die ziemlich hassvolle, feindselige Abwertung seiner Meinung – einer Meinung, die die Ostdeutschen ganz besonders berührt. Das hat man ja jetzt in Chemnitz erlebt. 
Interview mit Hans-Joachim Maaz, Interview: "Die AfD soll in Misskredit gebracht werden" – Psychoanalytiker: Medien und Merkel treiben Ostdeutsche in Arme der AfD (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 10.09.2018)


Als Psychoanalytiker_innen sind wir von der Wirkkraft der psychoanalytischen Methode als Behandlungstechnik überzeugt und glauben an die Bedeutsamkeit und die Radikalität, die der Psychoanalyse und der Freud’schen Theorie noch heute zukommen. Zugleich möchten wir das schwierige Verhältnis zwischen queeren Lebens- und Begehrensweisen und der Psychoanalyse problematisieren und Vorurteile abbauen. Diese Vorurteile bestehen auf beiden Seiten und führen dazu, dass einerseits die Psychoanalyse in den aktuellen Debatten um Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung, Transidentitäten etc. nicht als adäquater theoretischer wie klinischer Zugang wahrgenommen wird, und andererseits dazu, dass viele potentiell an der Psychoanalyse Interessierte aus Angst vor Diskriminierung und Stigmatisierung den Schritt nicht wagen, eine Psychoanalyse für sich in Betracht zu ziehen oder sich weiter und eingehender mit der Psychoanalyse zu beschäftigen. Diese Angst ist oft nicht unbegründet. Stereotypien über LGBTIQs werden in Vorträgen, Ausbildungsseminaren und Supervisionen weithin unhinterfragt reproduziert. In psychoanalytischen Erstgesprächen müssen sich potentielle nicht eindeutig heterosexuelle Analysand_innen mitunter kritische Bemerkungen zur ihrer Geschlechtsidentität, ihrem Begehren und ihrer Objektwahl gefallen lassen. Umgekehrt scheint dies nicht der Fall: eine heterosexuelle Orientierung wird nicht weiter hinterfragt. 



Psychoanalyse half viele Jahre lang, auch Politik zu verstehen. Das sollte sie wieder tun. Dazu müsste sie aber die Einwanderungsgesellschaft entziffern können - und Merkels Muttikratie.
Der einst berühmte Psychoanalytiker Tilmann Moser bemerkte kürzlich im Gespräch mit dem Journalisten Wolfgang Storz, seine Disziplin sei nicht mehr gefragt, Psychoanalyse in der Öffentlichkeit „fast out“. Alexander und Margarete Mitscherlich analysierten in den 60er Jahren „Die Unfähigkeit zu trauern“ der Nachkriegsdeutschen, Horst-Eberhard Richter legte erst die deutsche Familie auf die Couch und entdeckte in den rebellischen 70er Jahren dann „Die Gruppe“ als hierarchiearmes Alternativmodell zum institutionellen Politbetrieb. Ihre Bücher waren sämtlich Bestseller. Doch diesen Besteckkasten, sagt Moser, wolle heute keiner mehr.
Man stutzt kurz und muss dann zustimmen. Ja, warum eigentlich? Nicht dass es da nichts gäbe: Moser selbst nennt den Kollegen Thomas Auchter, der ein dickes Buch „zur Psychoanalyse sozialer und politischer Konflikte“ vorgelegt hat, und Hans-Jürgen Wirth, Professor in Frankfurt am Main. Das Kapitel „Masse und Macht“ in dessen Buch „Narzissmus und Macht“ nannte ein langjähriger Mitstreiter Helmut Kohls einmal die beste Analyse des ewigen Kanzlers, die er je gelesen habe. Doch auch die gelangte praktisch nicht in die breitere Öffentlichkeit. 
[Andrea Dernbach, Politik und Seelenkunde – Zurück auf die Couch, Deutschland! Tagesspiegel, 29.11.2013]



»Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, erst geht der Führer, dann geht die Partei.« Wer das 1944 laut und zum Falschen sagte, der konnte darüber sein Leben verlieren. Wer hätte damals geglaubt, dass auch 40 Jahre später weder Führer noch Partei »vorüber« sind. Das Gespenst Hitlers und der Alptraum, den er für zwölf Jahre über Europa brachte, sollten nun, so meint eine neue Generation von Deutschen, endlich durchgearbeitet und überwunden werden, um, so denken sie, eine Wie­derholung unmöglich zu machen…
Eine Vorbemerkung von Roland Kaufhold



„… Um noch einmal auf den Beitrag von Eissler (1963) zurückzukommen, so verdanke ich ihm, dass ich nun endlich verstehe, warum man mich niemals nach meinen Erfahrungen im KZ gefragt hat. Unter dem Vorwand, meine Gefühle schonen zu wollen, verbarg sich die Angst vor eigenen Konflikten, die durch die Berichte über die Schrecken des Lagerlebens ausgelöst werden konnten.“ 
Ernst Federn (1986, S. 466)

Ernst Federns Biographie ist in jeglicher Hinsicht höchst außergewöhnlich und „kontrovers“. Federn war sehr früh und äußerst mutig im österreichischen Untergrund im Kampf gegen den Faschismus engagiert, wurde deshalb mehrfach inhaftiert und aus der Universität ausgeschlossen. Er arbeitete daraufhin, das Beste aus der Not machend, als Sekretär seines Vaters, war an der Entstehung einiger psychoanalytischer „Klassiker“ unmittelbar beteiligt – seine Studien und sein Wirken sollte jedoch, gerade bei Psychoanalytikern, über Jahrzehnte hinweg keinerlei Resonanz erfahren – weder in den USA noch im deutschsprachigen Raum. Im Konzentrationslager wurde er als Jude und Stalin-Gegner sowohl von den Nationalsozialisten als auch von führenden Kommunisten – Mitglieder der sogenannten „Häftlingsselbstverwaltung“ – existentiell bedroht.
Der Anlass für Ernst Federns nachfolgend publizierte Studie: Paul Federn sprach ein – bis heute politisch sehr umstrittenes – Verbot für psychoanalytische Kandidaten aus, sich in dieser Phase der politischen Verfolgung politisch an „illegalen“ Untergrundaktivitäten zu engagieren – während sein eigener Sohn zeitgleich intensiv an Untergrundaktivitäten beteiligt war, einer Gruppe von sieben „Schutzbündlern“ Unterschlupf im elterlichen Haus bot.
[…]
Als Anfang der 1980er Jahre innerhalb der deutschen psychoanalytischen Verbände erstmals (!) intensiv und kontrovers das Thema „Psychoanalyse und Nationalsozialismus“ diskutiert wurde verteidigte Ernst Federn 1985 in einem in der Psyche publizierten Beitrag die damalige Entscheidung seines Vaters bzgl. eines „Unvereinbarkeitsbeschlusses“ – womit er erneut „zwischen allen Stühlen“ saß.
Nachfolgend wird Ernst Federns 25 Jahre alter, sehr kontroverser Beitrag „Weitere Bemerkungen zum Problemkreis `Psychoanalyse und Politik´“ als zeitgeschichtliches Dokument publiziert: Er hat dieses Thema hierdurch angeregt – „bewältigt“ ist es bis heute in keinster Weise, wie man den neuesten Ausgaben der Psyche (Stellungnahmen von David Becker, Psyche 3/2010 sowie von Elisabeth Brainin/Samy Teicher, Psyche 4/2010, als Replik auf eine Studie von Michael Schröter, Psyche 11/2009) entnehmen kann. 



Im ersten Heft des laufenden Jahrgangs durfte Helmut Dahmer, der langjährige und mittlerweile abgelöste Redaktionsleiter von Psyche, auf Anweisung des Verlegers der Zeitschrift Michael Klett kein Editorial mehr an seine Leser richten (siehe ZEIT 1/1992). Die beiden nächsten Hefte erschienen – bei fortlaufender Seitenzahl und identischem Layout – unter neuer Leitung und mit neuem Titel: Psychoanalyse – Klinik und Kulturkritik.
Das April-Heft wird nun wieder den alten Namen Psyche tragen, den Klett von den früheren Mitherausgebern Dahmer und Rosenkötter zurückkaufen konnte, nachdem diese einsahen, ohne Abonnentenkartei keinen anderen Verlag zu finden, der die Psyche mit ihnen gemeinsam zu den alten Konditionen weitergeführt hätte.Damit ist, zumindest formal, ein Konflikt beendet, der vorübergehend die Existenz der führenden psychoanalytischen Fachzeitschrift bedroht hatte. Kaum zu glauben, daß eine andere scientific Community in ähnlich rabiater Weise mit ihrem publizistischen Forum umgehen würde. Unter Psychoanalytikern haben solch destruktive Umgangsweisen jedoch Tradition. 
In einem Beitrag für die Zeitschrift konkret (Februar 1992) hat Helmut Dahmer, dessen Feder Psyche auf absehbare Zeit womöglich nicht mehr zur Verfügung steht, zum Konflikt Stellung genommen.
Dahmers Prognose fällt eher düster aus: Demnach wäre zu erwarten, daß das unter seiner Leitung erworbene kritische Engagement der Zeitschrift künftig verspielt werden könnte. Und tatsächlich hat Dahmer, der die Inhalte von Psyche in den siebziger und achtziger Jahren entscheidend mitbeeinflußte, ein qualitativ hochwertiges Erbe hinterlassen, das zu übernehmen und fortzusetzen seinen Nachfolgern selbst bei größter Anstrengung nicht ganz leicht fallen könnte.
[Bernd Nitzschke, Die Zeitschrift „Psyche“ erscheint weiter: ein Blick in die Geschichte der Psychoanalyse aus aktuellem Anlaß: Phönix aus der Asche - mit weniger Federn, ZON, 03.04.1992]

Zum Thema Ambivalenz:

Eine internierte Geisteskranke verlangt jahrelang mit viel Affekt und noch mehr Schimpfen, aus der Anstalt zu kommen; es nützt nichts, ihr täglich zu sagen, sie könne ja gehen, man habe ihr eine Unterkunft besorgt und bezahle ihr noch die Reise; man bringt sie nicht fort, aber auch nicht zum Schweigen.

Eine an der nämlichen Geisteskrankheit leidende Mutter hat ihr Kind vergiftet; aber nachträglich ist sie in Verzweiflung über ihre Tat; nur fällt auf, daß auch beim ärgsten Jammern und Weinen der Mund ganz deutlich lacht. Letzteres ist der Kranken unbewußt. Die erste Patientin aber weiß so gut wie irgend jemand, daß sie austreten kann, wann sie will, und sie weiß, daß es ihr in der Anstalt nicht gefällt, aber sie bringt beides nicht in logische Verbindung. Obgleich sie über beides im gleichen Zusammenhang sprechen kann, zieht sie weder den einen Schluß, daß sie gehen wolle, noch den andern, daß sie keinen Grund habe, zu schimpfen, wenn sie doch gehen könne. Es ist, wie wenn ihre Person zwischen den beiden zusammengehörigen Gedanken einen Riß hätte. Sie betont die Idee der Entlassung mit zweierlei Gefühlen; einerseits möchte sie gern wieder ihr eigener Meister sein; anderseits weiß sie sich in der Anstalt vor allen Schwierigkeiten des Lebens geschützt. Der Gesunde würde nun in bewußter Überlegung oder instinktiv die Vorteile und Nachteile gegeneinander abwägen und dann in der Richtung handeln, wo nach seiner subjektiven Wertung die Unannehmlichkeiten am geringsten und das Angenehme am größten ist. Die gespaltene Psyche der Kranken aber führt Buch über Aktiven und Passiven, vermag aber die beiden Wertungsreihen nicht zu einer einheitlichen Bilanz zu verdichten. Die Idee des Austritts bleibt von zwei widersprechenden, aber unverbunden nebeneinander existierenden Gefühlen betont; sie ist ambivalent.

Ganz gleich die Mutter, die ihr Kind getötet hat und nun trotz aller Verzweiflung mit dem Munde lacht. Sie hat das Kind nicht aus Versehen umgebracht, sondern nach langem Kampf. Sie mußte also einen Grund haben, das Kind zu töten. Sie liebt ihren Mann nicht, und das Kind dieses Mannes ist ihr ein Greuel; deshalb hat sie es getötet und lacht darüber; es ist aber auch ihr Kind, und deshalb liebt sie es und weint über seinen Tod. 
[Eugen Bleuler, Die Ambivalenz, 1914, gefunden bei psyalpha.net]

siehe auch:
- Ambivalenz – Erfindung und Darstellung des Begriffs durch Eugen Bleuler –  Bericht 1911 vom Vortrag 1910 und Veröffentlichung 1914 (mitgeteilt von Rudolf Sponsel, Erlangen, Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Erstausgabe 28.3.2002)
Psychoanalyse und Politik – Kritische Studien zur Philosophie (Herbert Marcuse, 1968?)
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