Sie müssen in die Tiefe gehen!
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Es war an einem heißen Sommertag in Tokio, und ich erwartete Meister Kenran Umeji, meinen Lehrer im Bogenschießen. Einige Wochen hatte ich für mich allein geübt und freute mich darauf, dem Meister zu zeigen, daß ich meine Lektion gelernt hatte. Ich war gespannt, welche Überraschung die heutige Stunde bringen würde; denn jedesmal hatte es, wenn der Meister kam, eine Überraschung gegeben.
Veröffentlicht am 18.03.2012
Zen Meister Kenran Umeji und Karlfried Graf Dürckheim
Der Zen Meister tadelt Dürckheim wegen oberflächlichem Geschwätz.
Es war an einem heißen Sommertag in Tokio, und ich erwartete Meister Kenran Umeji, meinen Lehrer im Bogenschießen. Einige Wochen hatte ich für mich allein geübt und freute mich darauf, dem Meister zu zeigen, daß ich meine Lektion gelernt hatte. Ich war gespannt, welche Überraschung die heutige Stunde bringen würde; denn jedesmal hatte es, wenn der Meister kam, eine Überraschung gegeben.
Das
Erlernen einer japanischen Kunst – handle es sich nun um das Bogenschießen oder
das Schwertfechten, das Blumenstecken oder Malen, das Schreiben der
Schriftzeichen oder die Kunst des Tees – ist voller Seltsamkeiten für Schüler
aus dem Westen. Wer zum Beispiel beim Bogenschießen meint, es käme aufs Treffen
an, ist in einem Irrtum befangen. Worauf soll es denn sonst ankommen? Nun – darüber
sollte ich heute wiederum sehr eindringlich belehrt werden.
Der Meister
erschien zur verabredeten Stunde – ein kurzes Gespräch bei einer Tasse Tee, und
dann ging es in den Garten, wo die Scheibe stand. Mit dieser Scheibe war die
erste Überraschung verknüpft, die ich gleich zu Beginn mit dem Bogenschießen
erfahren hatte: Es war ein Strohbündel von etwa 80 cm Durchmesser, in Augenhöhe
auf ein Holzgestell gelegt, und man kann sich vorstellen, daß ich nicht wenig
verwundert war, als ich hörte, daß der Schüler im Bogenschießen erst einmal
drei Jahre an dieser Scheibe zu Üben hat und zwar auf eine Entfernung von drei
Metern! Drei Jahre auf drei Meter Entfernung auf ein Strohbündel von 80 cm
Durchmesser schießen? Wird das nicht langweilig? Nein, im Gegenteil! Es wird,
je mehr man in den Sinn der Übung eindringt, von Tag zu Tag aufregender; denn
es kommt gar nicht aufs Treffen an – sondern auf die innere Haltung und durch
sie auf das Voranschreiten auf dem inneren Weg.
Ich trete
also an. Der Meister steht vor mir. Ich verbeuge mich, wie es die Sitte
gebietet, erst vor dem Meister, dann, mit einer Linksbewegung, vor der Scheibe,
nehme wieder Front zum Meister hin und vollziehe ruhig die ersten Bewegungen.
In gelassenem Fluß muß eine Bewegung aus der anderen hervorgehen. Ich stelle
den Bogen aufs linke Knie, nehme den einen der beiden gegen das rechte Knie
gelehnten Pfeile auf, lege ihn auf die Sehne; die linke Hand hält ihn zugleich
mit dem Bogen fest, und dann geht die rechte langsam in die Höhe, um – während
der Atem voll ausfließt – wieder niederzukommen. Die Hand greift in die Sehne,
und dann wird – langsam einatmend – endlich im Heben der Bogen allmählich
gespannt. Das ist die entscheidende Bewegung, die so still und stetig geschehen
muß, wie der Mond am abendlichen Himmel aufsteigt. Noch habe ich nicht die
volle Höhe erreicht, bei der dann der im voll ausgespannten Bogen liegende
Pfeil Ohr und Wange berührt – da durchfährt mich die Orgelstimme des Meisters:
»Halt!« Erstaunt und etwas unmutig Über diese Unterbrechung im Augenblick
höchster Sammlung lasse ich den Bogen herab. Der Meister nimmt ihn mir aus der
Hand, schlägt die Sehne einmal um die Bogenspitze herum und reicht ihn mir
lächelnd zurück. »Bitte, noch mal!« Ahnungslos beginne ich aufs neue. – Die
gleiche Bewegungsfolge läuft ab. Doch als es zum Spannen kommt, ist meine Kunst
schnell am Ende. Der Bogen hat die doppelte Spannung erhalten, und meine
Kraft reicht nicht mehr aus. Die Arme beginnen zu zittern, ich schwanke ohne
Halt hin und her, die mühsam gewonnene Form ist zerschlagen; – der Meister aber
fängt an zu lachen! Verzweifelt bemühe ich mich noch einmal. Es ist
aussichtslos. Nichts als ein klägliches Scheitern –
Ich mag
wohl recht ärgerlich dreingeschaut haben, denn der Meister fragt mich: »Worüber
sind Sie denn böse?« –
»Worüber?
Sie fragen mich noch? Wochenlang habe
ich geübt und in dem Augenblick, in dem es darauf ankommt, unterbrechen Sie mich,
noch ehe ich geschossen!« Der Meister lacht noch einmal hell auf; dann wird er
ernst und sagt etwa dieses: »Was wollen Sie eigentlich? Daß Sie die Form
erreicht hatten, die zu erringen in diesen Wochen Ihre Aufgabe war, erkannte
ich schon an der Weise, wie Sie mir die Haustür öffneten. Aber so ist das: Wenn
der Mensch eine Form seiner selbst, seines Lebens, seines Wissens oder seines
Werkes erreicht hat, um die er sich vielleicht lange bemühte, dann kann ihm nur
ein Unglück geschehen: daß ihm das Schicksal erlaubt, im Erreichten stehenzubleiben
und sich darin festzusetzen! Will das Schicksal ihm wohl, dann schlägt es
ihm das Gewordene, ehe es sich verhärtet, wieder aus der Hand. Dieses in der Übung
zu tun, ist Sache des wissenden Lehrers. Denn worauf kommt es denn an? Doch
nicht aufs Treffen! Beim Bogenschießen, sowenig wie beim Erlernen irgendeiner
anderen Kunst, geht es letzten Endes nicht um das, was herauskommt, sondern um
das, was herein kommt! Herein, d. h. in den Menschen herein. Auch das Sich-Üben
im Dienst an einer äußeren Leistung dient über sie hinaus dem Werden des
inneren Menschen. Und was gefährdet dies innere Werden des Menschen vor allem?
Das Stehenbleiben
im Gewordenen! Im Zunehmen bleiben muß der Mensch, im Zunehmen
bleiben ohne Ende!«
Die Stimme
des Meisters war ernst und eindringlich geworden – und in der Tat, dies
Bogenschießen ist etwas ganz anderes als ein vergnüglicher Sport, in dem man
miteinander im Treffen wetteifert. Es ist eine Lebensschule – oder, um einen
modernen Ausdruck zu gebrauchen, eine existentielle Praxis.
Anfangs
geht es natürlich stets darum, die äußere Technik zu lernen. Doch beherrscht
man dann endlich die äußere Form, dann fängt die eigentliche Arbeit erst an,
die unermüdliche Arbeit an sich selbst! Auch die Kunst des Bogenschießens ist
dann wie jede andere Kunst nur eine Gelegenheit, in die Tiefe des eigenen
Wesens zu dringen. Das aber gelingt nur auf dem harten Weg der Läuterung, d. h.
der Befreiung vom eitlen und ehrgeizigen Ich, das gerade dadurch, daß es so
sehr um das Gelingen der äußeren Leistung besorgt ist, die Vollkommenheit
dieser Leistung gefährdet. Erst wenn dieses Ich Überwunden ist, kann die rechte
Leistung gelingen. Dann aber gelingt sie nicht mehr auf Grund eines vom
ehrgeizigen Willen gesteuerten Könnens, sondern auf Grund eines neuen
inneren Seins. Die gelungene Leistung ist dann der Erfolg einer
Verfassung, in der eine tiefere, man kann sagen übernatürliche Kraft frei wird,
die nun gleichsam ohne unser Zutun die vollkommene Leistung vollbringt. Und
diese Verfassung, nicht die Leistung als solche, ist der Sinn der
Exerzitienpraxis des Zen. In seiner Verfassung bezeugt der Mensch, inwieweit er
in seiner kleinmenschlichen Wirklichkeit durchlässig geworden ist für
die Wirklichkeit eines größeren Lebens. Je nach der Reinheit seiner Verfassung
kann dieses durch ihn hindurch offenbar werden in der Welt – unter anderem auch
in einer vollkommenen Leistung.