Die optimale Qualität des achtsamen Gewahrseins, d.
h. die Art und Weise, in der wir präsent sind, ist ein wesentlicher Aspekt der
Meditationspraxis. Es ist ein achtsames Gewahrsein, welches in unmittelbarem
Kontakt ist mit der gegenwärtigen Erfahrung und dabei nicht vergleichend ist,
nicht wertend, nicht urteilend oder verurteilend, nicht kritisch oder
ablehnend, nicht erwartend oder befürchtend, auch nicht gleichgültig oder
klebrig anhaftend. Dieses Gewahrsein heißt willkommen, es ist geräumig, gelassen,
annehmend, sanft, flüssig und flexibel. Seine besondere Qualität ist, gewillt
zu sein zu sehen, was ist – die Bereitschaft zu spüren, was gerade vorhanden
ist.
Dies bedeutet, in nicht-manipulativer Weise
gegenwärtig zu sein.
Also nicht achtsam und präsent, damit die Erfahrung
so wird, wie wir sie möchten, sondern wir sind achtsam und präsent mit dem, was
ist, so wie es ist, in unmittelbarem Kontakt. Diese Achtsamkeit ist nicht vage
und unbestimmt; sie ist auch nicht begrifflich, gedacht oder vorgestellt –
sondern unmittelbar und direkt.
Mit dieser unmittelbaren Qualität der Achtsamkeit
begegnen wir der Vielzahl von Erfahrungen, den sogenannten Objekten der Achtsamkeit.
Vielleicht ist es verständlicher von Erfahrungen zu sprechen als von Objekten.
Gemeint ist dasselbe.
Mittels dieser Art von Achtsamkeit können wir in der
Sitzmeditation mit den Körperempfindungen in Kontakt treten oder mit den Empfindungen,
die durch die Atembewegung entstehen. Dabei muss nichts getan werden. Es
bedeutet, sich einfach in der momentanen Erfahrung niederzulassen.
Interessiert, gewahr, präsent! In der Sitzmeditation kann die Achtsamkeit auf
Körperempfindungen unser Ausgangs- und Ankerpunkt sein, zu dem wir immer wieder
zurückkehren.
Doch immer wieder ziehen andere, besonders auffällige
Erfahrungen unsere Aufmerksamkeit von der Körper-Erfahrung ab:
Jemand hustet, wir hören Lärm, die Stimme der
Lehrenden oder andere Geräusche, die laut genug sind, dass die Aufmerksamkeit
von selbst zum Hören geht. Normalerweise würden wir das wohl als eine Störung
betrachten. Hier aber gibt es keine Störung, denn in dem Moment, in dem die
Achtsamkeit zum Hören wechselt, wird genau dieses Hören zur Praxis. Es ist das,
was jetzt dran ist: die Praxis achtsamen Hörens.
Dieses achtsame Hören ist unmittelbar im Kontakt mit
der nackten Erfahrung des Hörens. Dabei wird nicht überlegt, was genau wir da
hören, wer wohl hustet und ob er wohl Hustenbonbons braucht oder nicht. Es ist
einfach das unmittelbare Präsent- und Wach-Sein in der Erfahrung des Hörens - solange
diese dauert. Wenn sie endet, können wir zu den Körperempfindungen
zurückkehren.
Lärm oder Geräusche, Stimme oder Klang sollten nie
als Ablenkung betrachtet werden. Sie sind einfach die nächste Erfahrung, die
unserer vollen Aufmerksamkeit wert ist. Sie entsteht im Gewahrsein, verändert
sich und verschwindet wieder – genau wie die Körper-und Atemempfindungen.
Dem Hören folgt oft ein Bild, ein Gedanke, ein
Benennen. Zum Beispiel: »Ah! Ein Flugzeug«. Gewahr zu sein, wie solche Bilder, Gedanken,
Begriffe im Geist auftauchen und wieder verschwinden, ist Teil der Meditation
und keine Störung. Manchmal hören wir Kampfflugmanöver vom nahe gelegenen
Armeeflugplatz und erleben vielleicht Empörung, Unverständnis oder Aversion.
Falls Gewahrsein präsent ist, kommt es nicht zu Ablenkung: Die Erfahrung
mitsamt ihren Gefühlen erscheint im Gewahrsein, verändert sich und verschwindet
wieder – ganz von selbst. Wenn ich mich aber in der Geschichte verliere und
bereits plane, was ich dem Militärdepartement schreiben werde, wobei ich völlig
vergesse, dass es nur Gedanken und Gefühle sind, die in mir ablaufen, dann ist
das Ablenkung und nicht mehr Meditation.
Beim Hören lässt sich gut beobachten, wie wir die
Erfahrung nach außen projizieren, mit Vorstellungen darüber was dort draußen passiert,
statt das Hören als eine weitere Erfahrung zu erkennen, die sich im Gewahrsein
manifestiert und wieder auflöst. Je nachdem, ob wir präsent sind oder nicht,
erkennen wir dies – oder verlieren uns darin.
Erwünschtes,
Unerwünschtes, alles hat Platz
Beim Meditieren zeigen sich viele verschiedene
Geisteszustände. Zum einen schwankt unser Energie-Niveau: Vielleicht tritt
Schläfrigkeit auf oder es ist eine ausgesprochen starke Wachheit und Präsenz
da. Dann wiederum stellen wir fest, dass Bequemlichkeit, Faulheit und Trägheit
präsent sind oder aber, dass Energie und angemessenes Bemühen vorhanden sind.
Auch variiert die Funktionsbereitschaft des Geistes:
Wir bemerken Zerstreutheit oder aber starke
Sammlung; manchmal ist die Achtsamkeit stark, manchmal ist Achtlosigkeit da,
die meist erst spät bemerkt wird. Zudem können emotionale Schwankungen einen
bedeutsamen Einfluss auf Herz und Geist haben: Das mögen Freude oder Trauer
sein, Angst oder Vertrauen, Liebe oder Hass. Es könnten auch Anteilnahme oder
Teilnahmslosigkeit sein, Mitgefühl oder Grausamkeit, Enthusiasmus oder
Lustlosigkeit, Mitfreude oder Eifersucht. Es mögen Interesse oder Langeweile
auftreten, Neid oder Wertschätzung, Anhaften oder Abkehr, Loslassen oder
Festhalten, Geiz oder Großzügigkeit, innere Enge oder Weite, Dünkel oder
würdige Demut, Einsamkeit oder Verbundenheit, Bedrücktheit oder Unbeschwertheit,
Inspiration oder Entmutigung, Fröhlichkeit oder Betrübtheit, Feigheit oder Mut
– und vieles mehr.
Diese Geisteszustände und Gefühle entstehen nicht
zufällig und auch nicht, weil wir sie bestellt haben, sondern weil die
entsprechenden inneren und äußeren Bedingungen zusammengetroffen sind. Dies
liegt in der Natur des Seins und folgt gewissen Gesetzmäßigkeiten, ähnlich wie
das Wetter. Dass solche Erfahrungen in Herz und Geist entstehen, ist ein
natürlicher Vorgang. Ob angenehm oder unangenehm, beliebt oder unbeliebt,
erhofft oder befürchtet – wir brauchen daraus kein Problem zu machen. Diese
Geisteszustände können tiefes Leid verursachen, abhängig davon, ob wir sie
achtsam erkennen und wie wir mit ihnen umgehen.
Doch immer, wenn es uns gelingt, mit der optimalen
inneren Haltung achtsam mit diesen Erfahrungen präsent zu sein – dann gibt es
kein Problem, auch wenn wir nicht bestimmen können, ob sie unangenehm oder
angenehm sind. Sobald wir jedoch wertend, verurteilend, ablehnend, anhaftend
oder verlangend damit umgehen, wird es mühsam und leidvoll. Noch leidvoller
wird es, wenn gar kein Gewahrsein, gar keine Achtsamkeit vorhanden ist. Dann sind
wir verloren in diesen Zuständen und all den Multipacks von Geschichten,
Gedanken und Dramen, mit denen sie daher kommen, verloren im Drama von Samsāra,
dem Kreislauf des Leidens: Wenn Gewahrsein da ist und wir merken, was läuft,
können wir uns darin schulen, allem in einer heilsamen, optimalen Haltung zu
begegnen.
(aus: Tilmann Lhündrup Borghardt, Fred von Allmen, Ursula Flückiger, Mahamudra und Vipassana: Gewahr Sein. Retreat-Unterweisungen, Norbu Verlag, Badenweiler, Mai 2015, S. 105f.)
siehe auch:
- Meditation: Freude und Anhaften (Post, 16.12.2017)