Dienstag, 19. Dezember 2017

Meditation: Erwünschtes, Unerwünschtes, alles hat Platz

Die optimale Qualität des achtsamen Gewahrseins, d. h. die Art und Weise, in der wir präsent sind, ist ein wesentlicher Aspekt der Meditationspraxis. Es ist ein achtsames Gewahrsein, welches in un­mittelbarem Kontakt ist mit der gegenwärtigen Erfahrung und dabei nicht vergleichend ist, nicht wertend, nicht urteilend oder verurteilend, nicht kritisch oder ablehnend, nicht erwartend oder befürchtend, auch nicht gleichgültig oder klebrig anhaftend. Dieses Gewahrsein heißt willkommen, es ist geräumig, gelassen, annehmend, sanft, flüssig und flexibel. Seine besondere Qualität ist, gewillt zu sein zu sehen, was ist – die Bereitschaft zu spüren, was gerade vorhanden ist.
Dies bedeutet, in nicht-manipulativer Weise gegenwärtig zu sein.
Also nicht achtsam und präsent, damit die Erfahrung so wird, wie wir sie möchten, sondern wir sind achtsam und präsent mit dem, was ist, so wie es ist, in unmittelbarem Kontakt. Diese Achtsamkeit ist nicht vage und unbestimmt; sie ist auch nicht begrifflich, gedacht oder vorgestellt – sondern unmittelbar und direkt.
Mit dieser unmittelbaren Qualität der Achtsamkeit begegnen wir der Vielzahl von Erfahrungen, den sogenannten Objekten der Achtsamkeit. Vielleicht ist es verständlicher von Erfahrungen zu sprechen als von Objekten. Gemeint ist dasselbe.
Mittels dieser Art von Achtsamkeit können wir in der Sitzmeditation mit den Körperempfindungen in Kontakt treten oder mit den Empfindungen, die durch die Atembewegung entstehen. Dabei muss nichts getan werden. Es bedeutet, sich einfach in der momentanen Erfahrung niederzulassen. Interessiert, gewahr, präsent! In der Sitzmeditation kann die Achtsamkeit auf Körperempfindungen unser Ausgangs- und Ankerpunkt sein, zu dem wir immer wieder zurückkehren.
Doch immer wieder ziehen andere, besonders auffällige Erfahrungen unsere Aufmerksamkeit von der Körper-Erfahrung ab:
Jemand hustet, wir hören Lärm, die Stimme der Lehrenden oder andere Geräusche, die laut genug sind, dass die Aufmerksamkeit von selbst zum Hören geht. Normalerweise würden wir das wohl als eine Störung betrachten. Hier aber gibt es keine Störung, denn in dem Moment, in dem die Achtsamkeit zum Hören wechselt, wird genau dieses Hören zur Praxis. Es ist das, was jetzt dran ist: die Praxis achtsamen Hörens.
Dieses achtsame Hören ist unmittelbar im Kontakt mit der nackten Erfahrung des Hörens. Dabei wird nicht überlegt, was genau wir da hören, wer wohl hustet und ob er wohl Hustenbonbons braucht oder nicht. Es ist einfach das unmittelbare Präsent- und Wach-Sein in der Erfahrung des Hörens - solange diese dauert. Wenn sie endet, können wir zu den Körperempfindungen zurückkehren.
Lärm oder Geräusche, Stimme oder Klang sollten nie als Ablenkung betrachtet werden. Sie sind einfach die nächste Erfahrung, die unserer vollen Aufmerksamkeit wert ist. Sie entsteht im Gewahr­sein, verändert sich und verschwindet wieder – genau wie die Körper-und Atemempfindungen.
Dem Hören folgt oft ein Bild, ein Gedanke, ein Benennen. Zum Beispiel: »Ah! Ein Flugzeug«. Gewahr zu sein, wie solche Bilder, Gedanken, Begriffe im Geist auftauchen und wieder verschwinden, ist Teil der Meditation und keine Störung. Manchmal hören wir Kampfflugmanöver vom nahe gelegenen Armeeflugplatz und erleben vielleicht Empörung, Unverständnis oder Aversion. Falls Gewahrsein präsent ist, kommt es nicht zu Ablenkung: Die Erfahrung mitsamt ihren Gefühlen erscheint im Gewahrsein, verändert sich und verschwindet wieder – ganz von selbst. Wenn ich mich aber in der Geschichte verliere und bereits plane, was ich dem Militärdepartement schreiben werde, wobei ich völlig vergesse, dass es nur Gedanken und Gefühle sind, die in mir ablaufen, dann ist das Ablenkung und nicht mehr Meditation.
Beim Hören lässt sich gut beobachten, wie wir die Erfahrung nach außen projizieren, mit Vorstellungen darüber was dort draußen passiert, statt das Hören als eine weitere Erfahrung zu erkennen, die sich im Gewahrsein manifestiert und wieder auflöst. Je nachdem, ob wir präsent sind oder nicht, erkennen wir dies – oder verlieren uns darin.

Erwünschtes, Unerwünschtes, alles hat Platz

Beim Meditieren zeigen sich viele verschiedene Geisteszustände. Zum einen schwankt unser Energie-Niveau: Vielleicht tritt Schläfrigkeit auf oder es ist eine ausgesprochen starke Wachheit und Präsenz da. Dann wiederum stellen wir fest, dass Bequemlichkeit, Faulheit und Trägheit präsent sind oder aber, dass Energie und angemessenes Bemühen vorhanden sind. Auch variiert die Funktionsbereitschaft des Geistes:
Wir bemerken Zerstreutheit oder aber starke Sammlung; manchmal ist die Achtsamkeit stark, manchmal ist Achtlosigkeit da, die meist erst spät bemerkt wird. Zudem können emotionale Schwankungen einen bedeutsamen Einfluss auf Herz und Geist haben: Das mögen Freude oder Trauer sein, Angst oder Vertrauen, Liebe oder Hass. Es könnten auch Anteilnahme oder Teilnahmslosigkeit sein, Mitgefühl oder Grausamkeit, Enthusiasmus oder Lustlosigkeit, Mitfreude oder Eifersucht. Es mögen Interesse oder Langeweile auftreten, Neid oder Wertschätzung, Anhaften oder Abkehr, Loslassen oder Festhalten, Geiz oder Großzügigkeit, innere Enge oder Weite, Dünkel oder würdige Demut, Einsamkeit oder Verbundenheit, Bedrücktheit oder Unbeschwertheit, Inspiration oder Entmutigung, Fröhlichkeit oder Betrübtheit, Feigheit oder Mut – und vieles mehr.
Diese Geisteszustände und Gefühle entstehen nicht zufällig und auch nicht, weil wir sie bestellt haben, sondern weil die entsprechenden inneren und äußeren Bedingungen zusammengetroffen sind. Dies liegt in der Natur des Seins und folgt gewissen Gesetzmäßigkeiten, ähnlich wie das Wetter. Dass solche Erfahrungen in Herz und Geist entstehen, ist ein natürlicher Vorgang. Ob angenehm oder unangenehm, beliebt oder unbeliebt, erhofft oder befürchtet – wir brauchen daraus kein Problem zu machen. Diese Geisteszustände können tiefes Leid verursachen, abhängig davon, ob wir sie achtsam erkennen und wie wir mit ihnen umgehen.
Doch immer, wenn es uns gelingt, mit der optimalen inneren Haltung achtsam mit diesen Erfahrungen präsent zu sein – dann gibt es kein Problem, auch wenn wir nicht bestimmen können, ob sie unangenehm oder angenehm sind. Sobald wir jedoch wertend, verurteilend, ablehnend, anhaftend oder verlangend damit umgehen, wird es mühsam und leidvoll. Noch leidvoller wird es, wenn gar kein Gewahrsein, gar keine Achtsamkeit vorhanden ist. Dann sind wir verloren in diesen Zuständen und all den Multipacks von Geschichten, Gedanken und Dramen, mit denen sie daher kommen, verloren im Drama von Samsāra, dem Kreislauf des Leidens: Wenn Gewahrsein da ist und wir merken, was läuft, können wir uns darin schulen, allem in einer heilsamen, optimalen Haltung zu begegnen.
  
siehe auch:
- Meditation: Freude und Anhaften (Post, 16.12.2017)






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