„Na, Sie sind aber pünktlich!“ Das Lob aus dem Mund eines Zeitforschers für einen Anruf zum abgemachten Zeitpunkt erscheint deswegen paradox, weil Karlheinz Geißler in seinen Büchern und Seminaren für die Abschaffung der Uhren plädiert, selbst keine mehr trägt und den gesellschaftlichen Zwang zur Pünktlichkeit als überholt empfindet. Nein, nein, natürlich würde er seine Überzeugung von einer besseren Welt ohne ein Diktat der Uhr auch selbst leben, aber auf seinem Computerbildschirm habe sich eine Zeitangabe eingeschlichen. Der emeritierte Universitätsprofessor für Wirtschaftspädagogik hat sich seit Jahrzehnten der Erforschung des Phänomens Zeit verschrieben.
Tatsächlich leben wir in einem paradoxen Zustand, was unsere Fähigkeit im Umgang mit der Zeit betrifft. In den vergangenen 100 Jahren hat sich, so der Wiener Freizeitforscher Peter Zellmann, die durchschnittliche Arbeitszeit halbiert; der Elf-Stunden-Tag für Fabriksarbeiter war in der Ersten Republik tatsächlich die Norm; Mitte des 19. Jahrhunderts mussten Arbeiter sogar noch ein Tagespensum von bis zu 18 Stunden bewältigen. Urlaub wurde in Österreich zwar schon 1919 gesetzlich eingeführt, beschränkte sich aber auf maximal zwei Wochen pro Jahr. Seit Jänner 1975 ist die 40-Stunden-Woche gesetzlich verankert. Obwohl wir wesentlich mehr Zeit zur freien Gestaltung als alle Generationen zuvor besitzen, gilt Stress, der auch zu einem großen Teil aus Zeitkonflikten entsteht, heute als Hauptauslöser für seelische Krankheiten. Laut dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger ist die Zahl der Erwerbsunfähigkeitspensionen aufgrund psychiatrischer Erkrankungen seit 1995 auf das Dreifache gestiegen. Stressbedingte Zeitkonflikte sind, so die Experten, die Ursache für viele medizinische Störungen wie Herzrhythmus-Probleme, Rückenschmerzen, Tinnitus und Migräne, um nur die häufigsten aufzuzählen.
mehr:
- Zeitforscher Geißler: “Mehr Let-it-be- statt To-do-Listen” (Angelika Hager, Interview mit Karlheinz Geißler, Profil.at, 23.08.2019)
siehe auch:
- Arbeitslosigkeit als erstrebenswertes Ziel (Holger Lang, Freitag-Community, 14.01.2016)
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Karlheinz Geissler | Unsere Not mit der Zeit (NZZ Standpunkte 2013) {49:21}
NZZ Standpunkte
Am 28.05.2016 veröffentlicht
Am 28.05.2016 veröffentlicht
Zeitdruck, Zeitmangel, die Zeit, die den Menschen davonläuft - das Verhältnis zur Zeit und vor allem der Umgang mit ihr sind eines der großen Themen des modernen Menschen. Professor Karlheinz Geissler ist Zeitforscher. Mit ihm unterhalten sich «NZZ»-Chefredaktor Markus Spillmann und Marco Färber über Zeitzwänge und Zeitsouveränität, über Beschleunigung, Multitasking und grenzenlose Arbeitstage, über Bedeutung von Rhythmen und Langsamkeit und das Eilen mit Weile.
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Sendung vom 29. Dezember 2013
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