Mittwoch, 26. November 2014

Den Atem im täglichen Leben nutzen

Thich Nhat Hanh ist derjenige Meister im Westen, der am meisten darüber gelehrt hat, wie man den Atem im täglichen Leben nutzen kann. Seine Bücher sind voll von praktischen Hinweisen. Buddhadasa sprach weniger vom täglichen Leben. Um sie nicht zu überfordern, empfehle ich meinen neuen Schülern, die Achtsamkeit zunächst nur in einer routinemäßigen Tätigkeit pro Tag zu entwickeln. Das kann alles sein: Duschen, Rasieren, Frühstück-Zubereiten, Frühstücken (jede Mahlzeit, die Sie stets allein essen, ist gut zum Üben geeignet). Wenn Sie sich dieser Tätigkeit hingeben und damit gute Erfahrungen machen, ermutigt Sie das dazu, auch anderen Situationen mit Achtsamkeit zu begegnen.
Die Methode dient nicht dazu, eine Art von Hyper-Aufmerksamkeit zu entwickeln. Sie soll sicherlich nicht Ihren Streß erhöhen, was immer Sie auch tun. Vielmehr sollte die Achtsamkeit, so wie es in der Sitzpraxis der Fall ist, zusätzliche Anstrengung eliminieren und die Aktivität leichter machen. Der Grundgedanke besteht darin, eine sanfte Aufmerksamkeit in das hineinzutragen, was Sie gerade tun, damit Sie dieses tun und nichts anderes.
Einer der besten Wege, Achtsamkeit zu üben, besteht darin, alle Arten zu sehen, wie Sie nicht achtsam sind – zu sehen, daß Sie nicht achtsam sind, während Sie das Bett machen, Ihren Tag planen, über etwas nachdenken, das gestern geschehen ist, oder sich in eine Phantasie verlieren. Genauso, wie Sie es tun, wenn Sie sitzen, sehen Sie einfach nur, daß Sie abgeschweift sind, und ohne daß Sie sich in irgendeiner Weise verurteilen, kommen Sie zurück zu der Tätigkeit des Bettenmachens, mit dem Atem im Hintergrund, wenn Ihnen das hilft. Tun Sie das so oft, wie Sie es tun müssen, ohne sich Sorgen darüber machen, wie gut Sie sind. Wenn Sie ihrer Unaufmerksamkeit auf diese Weise gewahr werden, wird das langsam eine Veränderung bewirken.
Manche Schüler mißverstehen die Anweisung, den Atem den ganzen Tag lang zu nutzen. Sie geben ihm ein unangemessenes Maß an Aufmerksamkeit, was so weit führen kann, daß sie weniger aufmerksam für die Welt um sie herum sind. Sie unterhalten sich mit einem Freund, und die Person fragt sie, ob sie überhaupt zuhören. „Na ja, nicht ganz“, erwidern sie. „Eigentlich habe ich auf meinen Atem geachtet.“ Das ist nicht der Sinn der Sache. Der Atem ist ein Tor zum gegenwärtigen Augenblick, und er soll unsere Achtsamkeit für ihn vergrößern, nicht verkleinern.
Es gibt Zeiten während des Tages, zu denen Sie Ihre Aufmerksamkeit nahezu ausschließlich der Atmung widmen können. Sie mögen auf einen Aufzug warten oder auf einen Schalterangestellten, um ein Formular in einem Büro auszufüllen, oder für einen Film anstehen. Für die meisten Menschen sind diese Momente verlorene Zeit, und sie werden in solchen Momenten noch zerstreuter und weniger präsent. Doch wenn Sie Ihre Achtsamkeit der Atmung zuwenden, selbst wenn es nur für wenige Atemzüge ist, dann können Sie ruhiger und zentrierter werden. Sie kommen mit einer gewissen Energie in Berührung, und aus dieser Begegnung gehen Sie erfrischt hervor.
Wir können all diese Momente, die wir üblicherweise als lästig ansehen, derart nutzen. Thich Nhat Hanh spricht davon, daß auch eine rote Ampel zu einer Achtsamkeitsglocke, wie sie in Klöstern angeschlagen wird, für uns werden kann. An vielen Orten, wo Buddhismus praktiziert wird, wird während der Arbeitsperioden in unregelmäßigen Abständen eine Glocke geschlagen, um die Leute zum gegenwärtigen Moment zurückzubringen. Die Übenden unterbrechen dann das, was sie gerade tun, für einen Zeitraum von drei Atemzügen, und kehren dann zu ihrer jeweiligen Arbeit zurück.

Viele Menschen reagieren verärgert, wenn sie vor einer roten Ampel anhalten müssen; das macht sie gereizt und ungeduldig. Aber es ist möglich, rote Ampeln als eine Gelegenheit zu nutzen, um zur Atmung zurückzukommen, sich zu zentrieren und sich davon erfrischen zu lassen (und sich daran zu erinnern, daß es sich nicht lohnt, derart in Eile zu sein). Auf die gleiche Weise können Sie das Läuten des Telefons benutzen. Lassen Sie es mehrere Male läuten, bevor Sie abheben, und richten Sie derweil Ihre Aufmerksamkeit auf die Atmung. Das wird nicht nur eine erholsame Pause für Sie sein (so daß Sie nicht immer automatisch auf äußere Reize reagieren und nach dem Telefon greifen, sobald es klingelt), sondern es wird Ihnen auch ermöglichen, in dem Gespräch, das Sie führen werden, stärker präsent zu sein.
In meinem Leben in Cambridge und Boston bin ich häufig mit der U-Bahn unterwegs. Viele Menschen behaupten, daß solche Begegnungen mit den Massen in öffentlichen Verkehrsmitteln sehr ermüdend und deprimierend sind. Ich aber lege oft lange Strecken damit zurück und nutze diese Gelegenheiten zum Meditieren: keine besonderen Gewänder, kein Kissen, keine Glocken oder Räucherstäbchen, nur ein Mann, der in einer U-Bahn sitzt. Ich lenke die Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Erfahrung und lebe diese Momente. Es ist überhaupt nicht deprimierend. Zeitspannen, die wir normalerweise verabscheuen, etwa das Warten am Flughafen oder beim Zahnarzt, können wir auf die gleiche Weise nutzen. Es gibt wirklich keine Zeit, die verloren sein muß. Mit Achtsamkeit können Sie Leben in alle diese Momente bringen.
Ich liebe es, zur Körperertüchtigung zu Fuß zu gehen, und meine Wege durch die Stadt sind für mich wundervolle Gelegenheiten, Achtsamkeit zu üben. Jedes Gehen kann eine Gehmeditation sein. Sie konzentrieren sich auf Ihre Schritte, auf Ihre Körperempfindungen oder auf den Atem selbst, was immer Ihnen hilft, in der Gegenwart zu sein. Während langer Spaziergänge beobachte ich häufig meinen Geist (neunte Kontemplation), was schon immer eine meiner Lieblingsübungen war. David Guy, der an diesem Buch mitgearbeitet hat, schwimmt zur Körperertüchtigung und findet darin eine ausgezeichnete Gelegenheit für die Übung von Achtsamkeit. Jede Art von körperlicher Tätigkeit, sei es Blätter fegen oder Rasen mähen, eignet sich.



(aus Larry Rosenberg, Mit jedem Atemzug, Arbor Verlag, Freiamt, 2. Auflage 2007, S. 226 f.)