Freitag, 19. September 2008

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser

Jahr 2005 gab David Foster Wallace den Absolventen des Kenyon College eine Abschlussrede (Transkript), die heute unter dem Titel This is Water bekannt ist. Anders als die optimistischen Reden, die bei solchen Anlässen in der Regel fallen, hat Wallace einen anderen Fokus gewählt. Wallace erzählt vom Alltag, der die Studenten nach ihrer Ausbildung erwartet, die immergleiche banale Routine und zunehmende Desillusionierung mit dem Leben, den nervigen, hässlichen Mitmenschen, der stetige Kampf um Geld und Macht.


»Wie gelingt einem ein angenehmes, gut situiertes und respektables Erwachsenendasein, ohne dass man tot, gedankenlos und tagein, tagaus ein Sklave des eigenen Kopfes und der angeborenen Standardeinstellung wird, die vorgibt, dass man vor allem total auf sich allein gestellt ist?«

Für Wallace sind das aber nicht die Zeichen einer allgemeinen Zukunftslosigkeit, sondern vielmehr Auswüchse des Egozentrismus, der Annahme, dass sich alles nur um uns dreht. Deshalb gibt es Hoffnung in den Gedanken eines jeden Einzelnen. In einer fast philosophischen Herleitung kommt Wallace schließlich zu dem Schluss, dass Offenheit, Achtsamkeit und Empathie gegenüber anderen Menschen entscheidend seien, um aus den festgefahrenen Denkmustern auszubrechen. Das sei die wahre Freiheit und die Alternative zum gewöhnlichen Geisteszustand: Nicht die Fähigkeit zu denken, sondern die Entscheidung für das, worüber es sich nachzudenken lohnt.
mehr:
- David Foster Wallace – “Das hier ist Wasser” (Elke Kühl, ZEIT, NetzFilmBlog, 10.05.2013)
David Foster Wallace – Das hier ist Wasser / This is Water (Kiepenheuer & Witsch)
David Foster Wallace wurde 2005 darum gebeten, vor Absolventen des Kenyon College eine Abschlussrede zu halten. Diese berühmt gewordene Rede gilt in den USA mittlerweile als Klassiker und Pflichtlektüre für alle Abschlussklassen – eine kleine Anleitung für das Leben, die man jedem Hochschulabsolventen und jedem Jugendlichen mit auf den Weg geben möchte.
Das ist Wasser/This is water – David Foster Wallace (Buzzaldrins Bücher, 10.05.2013)
Laut David Foster Wallace neigt der Mensch – und da nimmt er sich selbst nicht aus – dazu, sich als Mittelpunkt des Universums zu sehen. Er bezeichnet dies als Selbstzentriertheit und als “Standardeinstellung” des Menschen: es dreht sich alles um mich, darum wie ich die Wirklichkeit und die Welt wahrnehme. Wallace möchte kein Moralapostel sein und es geht ihm auch nicht um Tugend,
»…es geht vielmehr darum, ob ich diese angeborene, fest verdrahtete Standardeinstellung irgendwie ändern oder überwinden möchte, diese tief sitzende und im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehende Ichbezogenheit, deretwegen wir alles durch die Linse des Selbst sehen und interpretieren.«
- This is Water: What David Foster Wallace wanted us to think about (Jon Green, AmericaBlog, 12.05.2015)
- Die Frage ist, worüber (Rezension, der Freitag, 18.06.2012)
- David Foster Wallace, in his own words (IntelligentLife, 19.09.2008)
- Der Klang der Gedanken (Georg Diez, ZON, 25.01.2007)
Das ist vor allem die Logik der großen Unternehmen – sie wollen ihren Profit steigern, indem sie möglichst effektiv bestimmte demografische Zielgruppen ansprechen. Seltsam ist nur, dass das eine neue Art der Intimität mit sich bringt. Die wollen alles über dich wissen. Aber die wollen nicht wissen, wer du bist. Auch wenn es wie ein Klischee klingt: Der große Unterschied ist der zwischen Information und Bedeutung.

This Is Water - Full version-David Foster Wallace Commencement Speech [22:43]

Veröffentlicht am 19.05.2013
Commencement Speech to Kenyon College class of 2005 written by David Foster Wallace

Nehmen wir beispielsweise den durchschnittlichen Tag eines Erwachsenen. Sie stehen morgens auf, gehen der anspruchsvollen Schreibtischarbeit eines Akademikers nach, schuften neun oder zehn Stunden lang, und bei Feierabend sind Sie müde und gestresst und wollen nur noch nach Hause, freuen sich auf ein gutes Abendessen, vielleicht noch ein paar Stunden Entspannung, und wollen dann früh in die Falle, weil das Ganze am Tag darauf ja von vorne losgeht. Aber dann fällt Ihnen ein, dass Sie nichts zu essen im Haus haben wegen Ihrer anspruchsvollen Tätigkeit hatten Sie die ganze Woche noch keine Zeit zum Einkaufen –, also müssen Sie nach Dienstschluss erst mal zum Supermarkt fahren. Sie geraten in den Feierabendverkehr und brauchen weit länger als nötig, und wenn Sie den Supermarkt endlich erreichen, ist er brechend voll, weil natürlich alle Berufstätigen ihre Einkäufe in diese Tageszeit quetschen müssen, und im Laden herrscht dieses scheußliche Neonlicht, überall dudelt diese leidige Kaufhausmusik oder Kommerzpop, und Sie wünschen sich ans andere Ende der Welt, aber mit einer Stippvisite ist es leider nicht getan. Sie müssen durch all die riesigen, grell erleuchteten und verstopften Gänge wandern, bis Sie endlich alles zusammenhaben, und Sie müssen Ihren schrottigen Einkaufswa- gen an denen all der anderen erschöpften, hektischen Leute vorbeimanövrieren, und die Taper- greise bewegen sich im Tempo der Kontinentaldrift, und verpeilte Leute und ADHS–Teenager blockieren die Gänge, und Sie müssen die Zähne zusammenbeißen und möglichst höflich fragen, ob Sie mal durchkönnen, und wenn Sie zu guter Letzt alle Zutaten fürs Essen beisammenhaben, stellt sich heraus, dass nicht genug Kassen offen sind, obwohl die übliche Feierabendhektik herrscht, also sind die Schlangen unendlich lang. Was idiotisch ist und Sie fuchsteufelswild macht, aber Sie können Ihren Zorn nicht an der gehetzten Kassiererin auslassen, die völlig überarbeitet ist in einem Job, dessen tägliche Ödnis und Sinnlosigkeit unser aller Fantasie hier an dieser renommierten Universität übersteigt ... aber schlussendlich kommen Sie an die Reihe, bezahlen Ihre Lebensmittel, warten darauf, dass das Lesegerät Ihre Kartenzahlung akzeptiert, und bekommen mit einer Stimme, die wie der leibhaftige Tod klingt, ein »Schönen Tag noch« mit auf den Weg gegeben. Und dann müssen Sie mit Ihren Lebensmitteln in den schauderhaften, hauchdünnen Plastiktüten im Einkaufswagen mit dem einen eiernden Rad, das immer so nervtötend nach links zieht, draußen über den ganzen überfüllten, holprigen, zugemüllten Parkplatz und die Tüten möglichst so im Wagen verstauen, dass nicht alles rausfällt und auf der Heimfahrt im Kofferraum herumkullert, und dann müssen Sie den ganzen Weg im zähen Stoßverkehr hinter all den Geländewagen her nach Hause fahren und so weiter und so fort ...

Jeder von Ihnen hat das natürlich schon erlebt – aber bei Ihnen, die heute Ihren Abschluss machen, ist es noch nicht Tag für Woche für Monat für Jahr Teil des Alltagstrotts. Das wird es aber werden, zusammen mit zahllosen anderen trostlosen, nervenden und scheinbar sinnlosen Routinetätigkeiten.

Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass genau bei diesem banalen, frustrierenden Kleinkram die Arbeit des Entscheidens einsetzt. Denn im Stau, in den verstopften Gängen und in den Schlangen an der Kasse habe ich Zeit nachzudenken, und wenn ich mich nicht bewusst entscheide, woran ich denken und worauf ich achten möchte, werde ich beim Einkaufen jedes Mal sauer und niedergeschlagen sein, weil sich solche Situationen meiner angeborenen Standardeinstellung zufolge alle um mich drehen, um meinen Hunger, meine Erschöpfung und meinen Wunsch, bloß endlich nach Hause zu kommen, und es hat ganz den Anschein, als stünde die ganze Welt mir im Weg, und wer zum Teufel sind diese ganzen Leute, die mir im Weg stehen? Und wie abstoßend die meisten von denen aussehen, und wie dämlich, strohdoof, bräsig und nicht menschlich sie in der Kassenschlange wirken, oder wie grob und unhöflich es ist, dass sie mitten in der Schlange lauthals in ihre Handys sprechen, und ist das alles vielleicht nicht wahnsinnig ungerecht: Da habe ich mich jetzt den ganzen Tag lang krumm und lahm geschuftet, bin am Verhungern und todmüde, aber wegen all dieser blöden Rindviecher kann ich nicht mal nach Hause, was essen und ausspannen.

Wenn ich mich in einem sozial bewussteren und geisteswissenschaftlicheren Modus meiner Standardeinstellung befinde, kann ich mich im Feierabendverkehr natürlich auch aufregen über all diese riesigen, hirnrissigen, straßenblockierenden Geländewagen, Hummer und 12-Zylinder-Pick-ups, aus deren selbstsüchtigen, verschwenderischen 150-Liter-Tanks die Welt mit Abgasen verpestet wird, und ich kann mich eingehend mit der Tatsache befassen, dass die patriotischen oder religiösen Aufkleber grundsätzlich auf den größten, widerlichsten und egoistischsten Fahrzeugen kleben, in denen die hässlichsten, rücksichtslosesten und aggressivsten Fahrer am Steuer sitzen, die üblicherweise an ihren Handys hängen, während sie anderen den Weg abschneiden, bloß um im Stau zehn Meter weiter vorn zu stehen, und ich kann darüber nachdenken, wie unsere Kindeskinder uns verachten werden, weil wir die ganzen Rohstoffe der Zukunft verplempert und das Klima zerstört haben, und wie verwöhnt, hirnverbrannt, selbstsüchtig und ekelhaft wir alle sind, und wie mir das alles stinkt und so weiter und so fort ...

Wissen Sie, wenn ich mich für eine solche Haltung entscheide, kein Problem, die haben ja viele von uns – nur liegt ein solches Denken dermaßen auf der Hand, dass es gar keine Ent- scheidung sein muss. Ein solches Denken ist meine angeborene Standardeinstellung. Es ist die automatische, unbewusste Haltung, in der ich die langweiligen, frustrierenden und überfüllten Teile des Erwachsenendaseins erlebe, wenn ich auf Autopilot laufe und unbewusst glaube, ich bin der Mittelpunkt der Welt, und meine unmittelbaren Bedürfnisse und Gefühle sollten in der Welt Priorität haben.
[…] An den meisten Tagen, an denen Sie aufmerksam genug sind und die Wahl haben, können Sie sich aber entscheiden, die fette, bräsige, aufgebrezelte Frau, die in der Supermarktschlange gerade ihr Kind angeschnauzt hat, mit anderen Augen zu sehen – vielleicht ist sie sonst nicht so; vielleicht hat sie gerade drei Nächte lang nicht geschlafen, weil sie ihrem an Knochenkrebs sterbenden Mann die Hand gehalten hat; vielleicht hat genau diese Frau auch den unterbezahlten Job im Straßenverkehrsamt und hat gestern erst Ihrem Mann geholfen, durch einen kleinen Akt bürokratischer Güte einen albtraumhaften Papierkrieg zu beenden.

Das alles ist natürlich unwahrscheinlich, deswegen aber nicht unmöglich – es hängt nur alles von Ihrer Perspektive ab. Wenn Sie automatisch sicher sind, dass Sie wissen, was Wirklichkeit ist und wer und was wirklich wichtig ist – wenn Sie gemäß Ihrer Standardeinstellung operieren wollen, dann werden Sie wahrscheinlich genauso wenig wie ich über Alternativen nachdenken, die nicht sinnlos sind und nerven. Wenn Sie aber wirklich zu denken gelernt haben und aufmerksam sein können, dann wissen Sie, dass Sie eine Wahl haben.
 
[…] Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu brin- gen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag.

Das ist wahre Freiheit.

Das heißt es, Denken zu lernen.

Die Alternative ist die Gedankenlosigkeit, die Standardeinstellung, die Tretmühle – das ständige Nagen, etwas Unendliches gehabt und verloren zu haben.

Ich weiß, dass das alles nicht so witzig, flott und inspirierend klingt, wie zentrale Thesen von Abschlussreden klingen sollten. Soweit ich sehe, ist es aber die Wahrheit, bei der jede Menge rhetorischer Schnickschnack weggeschnippelt worden ist. Davon können Sie natürlich halten, was Sie wollen. Aber tun Sie es bitte nicht als Moralpredigt mit erhobenem Zeigefinger ab. Es geht hier nicht um Moral, Religion, Dogmen oder wichtigtuerische Überlegungen zum Leben nach dem Tod. Die Wahrheit im Vollsinn des Wortes dreht sich um das Leben vor dem Tod. Sie dreht sich um die Frage, wie man dreißig oder sogar fünfzig Jahre alt wird, ohne sich die Kugel zu geben. Sie dreht sich um den wahren Wert wahrer Bildung, die nichts mit Noten oder Abschlüssen, dafür aber alles mit schlichter Offenheit zu tun hat – Offenheit für das Wahre und Wesentliche, das sich vor unser aller Augen verbirgt […]
 
[…] Es ist unvorstellbar schwer – tagein, tagaus bewusst und erwachsen zu leben.
Und das bedeutet, dass noch ein Klischee wahr ist: Wir lernen wirklich fürs Leben – und die Ausbildung geht jetzt erst los.
Ich wünsche Ihnen weit mehr als Glück. (David Foster Wallace, in his own words (IntelligentLife, 19.09.2008) oder Transcription of the 2005 Kenyon Commencement Address - May 21, 2005 Written and Delivered by David Foster Wallace (Daniel Kelly's Homepage, PDF) oder This is Water, David Foster Wallace, gefunden bei Metastatic.org, PDF)


siehe auch:
[Rezension] David Foster Wallace: “Der bleiche König” und D.T. Max: “Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte. David Foster Wallace – Ein Leben” (Laura, aboutsomething, 13.10.2015)
- David Foster Wallace: Das hier ist Wasser. / This is Water. (Frau Ernussbutter, 29.07.???)
- David Foster Wallace : Abschied aus einer Welt, an der er immer gelitten hat (Esther Göbel, ZEIT Campus, 15.08.2015)
David Forster Wallace verfasst nun Kurzgeschichten, Reportagen und Essays mit einer fast krankhaften Genauigkeit. Seitenlange Fußnoten und Schachtelsätze werden sein Markenzeichen. Fünf Fassungen schreibt er von jedem Text, drei per Hand, zwei am Computer. Er wird ein Schriftsteller, der von Literaturkritikern genauso geliebt wird wie von Hipstern. Einmal sagt er: "Wenn ich glücklich sein könnte, würde ich dafür das Schreiben aufgeben."

Dauerhaft helfen können die Antidepressiva nicht. Sie lähmen sein Denken, blockieren das Schreiben. Im Sommer 2007 setzt David Foster Wallace die Medikamente ab. Dann geht alles schnell. Mai 2008: Er schreibt die letzten Worte an seinem aktuellen Buch. Juni: Er nimmt eine Überdosis Tabletten, überlebt. September: Er besorgt sich einen Strick, diesmal gelingt der Suizid. David Foster Wallace verabschiedet sich aus der Welt, an der er immer gelitten hat. Er stirbt am 12. September 2008 in Claremont, Kalifornien, 4205 Oak Hollow Road.
- The Rewriting of David Foster Wallace (Christian Lorentzen, Vulture, 30.06.2015)
- The Unfinished (D.T. Max, The New Yorker, 09.03.2009)

David Foster Wallace on 9/11 and the War on "Terror" [7:07]


Veröffentlicht am 11.10.2014
Are some things still worth dying for? Is the American idea (1) one such thing? Are you up for a thought experiment? What if we chose to regard the 2,973 innocents killed in the atrocities of 9/11 not as victims but as democratic martyrs, “sacrifices on the altar of freedom”(2)? In other words, what if we decided that a certain baseline vulnerability to terrorism is part of the price of the American idea? And, thus, that ours is a generation of Americans called to make great sacrifices in order to preserve our democratic way of life—sacrifices not just of our soldiers and money but of our personal safety and comfort?

In still other words, what if we chose to accept the fact that every few years, despite all reasonable precautions, some hundreds or thousands of us may die in the sort of ghastly terrorist attack that a democratic republic cannot 100-percent protect itself from without subverting the very principles that make it worth protecting?

Is this thought experiment monstrous? Would it be monstrous to refer to the 40,000-plus domestic highway deaths we accept each year because the mobility and autonomy of the car are evidently worth that high price? Is monstrousness why no serious public figure now will speak of the delusory trade-off of liberty for safety that Ben Franklin warned about more than 200 years ago? What exactly has changed between Franklin’s time and ours? Why now can we not have a serious national conversation about sacrifice, the inevitability of sacrifice—either of (a) some portion of safety or (b) some portion of the rights and protections that make the American idea so incalculably precious?

In the absence of such a conversation, can we trust our elected leaders to value and protect the American idea as they act to secure the homeland? What are the effects on the American idea of Guantánamo, Abu Ghraib, PATRIOT Acts I and II, warrantless surveillance, Executive Order 13233, corporate contractors performing military functions, the Military Commissions Act, NSPD 51, etc., etc.? Assume for a moment that some of these measures really have helped make our persons and property safer—are they worth it? Where and when was the public debate on whether they’re worth it? Was there no such debate because we’re not capable of having or demanding one? Why not? Have we actually become so selfish and scared that we don’t even want to consider whether some things trump safety? What kind of future does that augur?

FOOTNOTES:
1. Given the strict Gramm-Rudmanesque space limit here, let's just please all agree that we generally know what this term connotes—an open society, consent of the governed, enumerated powers, Federalist 10, pluralism, due process, transparency ... the whole democratic roil.

2. (This phrase is Lincoln's, more or less)

David Foster Wallace on Education [2:25]

Hochgeladen am 15.07.2010
Edited version of the ZDFmediatek interview with David Foster Wallace, 2003. This version offers David Foster Wallace's ideas, without repetitions, long pauses, interviewer's comments. Although some cuts may appear rough, there is no attempt at editorial bias or content manipulation. Mr. Wallace's archives (books in his library, notes, and writings) have been recently acquired by the Harry Ransom Center at the University of Texas Austin.

Everything And More: A Tribute To David Foster Wallace [35:59]

Veröffentlicht am 11.11.2013
A discussion of David Foster Wallace moderated by Michael Silverblatt with writers David Lipsky, Rick Moody, and Joanna Scott.

siehe auch:
- Frühe Erzählung von David Foster Wallace – Was die Depression mit Menschen macht (Christopher Schmidt, Süddeutsche, 26.04.2015)
[…] und doch hat der Depressive, und das ist der diskursive Kern der Geschichte, nur die Wahl zwischen zwei Formen der Fremdbestimmung: der durch die Krankheit oder der durch die Medikation. In beiden Fällen gehört er nicht sich selbst.
mein Kommentar:
Die – zugegebenermaßen subversive – Frage wäre: Sind diese beiden Fälle möglicherweise die beiden Seiten der gleichen Medaille? Oder: Wann – und unter welchen Bedingungen – hat der Depressive jemals sich selbst gehört?
»Selbst-Losigkeit bedeutet nicht, daß etwas, das es in der Vergangenheit gab, nunmehr nicht-existent wird. Vielmehr ist diese Art von ›Selbst‹ etwas, das nie existiert hat. Die Aufgabe besteht darin, etwas als nicht-existent zu erkennen, das schon immer nicht-existent war.« (Dalai Lama, zit. in Mark Epstein, Gedanken ohne den Denker, Kap. 5, Abschnitt »Verleugnung«)
- David Foster Wallace: Das schwarze Loch (Hubert Winkels, ZEIT Online, 21.05.2015)
- Kult-Schriftsteller: David Foster Wallace tot aufgefunden (Andreas Borcholte, SPON, 14.09.2008)

siehe auch:

- David Foster Wallace (Kiepenheuer & Witsch)
- David Foster Wallace: Tennisspielendes Mathegenie mit Depressionen (The Collected Words)
- »Nennen Sie mich Dave« (1. Kapitel aus D. T. Max – Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte – David Foster Wallace. Ein Leben (Kiepenheuer & Witsch, GoogleBooks, 2013)
- Schummeln (Carsten Schrader, UMagazine, 31.10.2009)


»This thing I feel, I can’t name it straight out but it seems important, do you feel it too?’ — this sort of direct question is not for the squeamish.« [David Foster Wallace, Octet]

Amy Wallace speaks about her brother David Foster Wallace [38:01]


Veröffentlicht am 19.03.2014

- D. T. Max – Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte – David Foster Wallace. Ein Leben. (Buch) (Chris Popp, BookNerds, 24.11.2015)
- Franz Kaltenbeck: Die Gewalt der Melancholie nach David Foster Wallace oder Die Grenzen der Verschlüsselung (Lacaniana, 19.06.2015)
- Unendliche Langeweile. Der definitive David Foster Wallace – Verriss (Sonntagsgesellschaft, 08.03.2015)
 Jede Liebegeschichte ist eine Geistergeschichte – D. T. Max (Mara, Buzzaldrins Bücher, 12.12.2014)
- The Madness of Normalcy and The Psychopathic Society (hybridrogue1, Hybridrogue1’s Blog, 20.09.2014)
- David Foster Wallace – Von Nerds, Neurosen und notorischen Schreibtischarbeitern (Sandra Hoffmann, Deutschlandfunk, 06.01.2014)
- Wallace, Handke, Gustafsson und Coetzee (SRF, Sendung vo 17.12.2013)
- David Foster Wallace: Der bleiche König (Begleitschreiben, 12.12.2013)
- Polyphoner Bürokratenkosmos – Der letzte Roman von David Foster Wallace »Der bleiche König« (Gregor Kreuschnig, GlanzundElend, 12.12.2013)
- "Der bleiche König" – David Foster Wallaces Roman sammelt Fakten (Badische Zeitung, 23.11.2013)
- David Foster Wallace: Der bleiche König – Dazu ist nie genug gesagt (Juan S. Guse, FAZ, 08.11.2013)
Abschließend (aus: Roman Halfmann, Nah der Ironie – David Foster Wallace, Franz Kafka und der Kampf um Athentizität, Transscript Verlag, 2012, GoogleBooks)
zuletzt aktualisiert am 07.03.2016

Mittwoch, 11. Juni 2008

Bewältigungsstrategien von Kindern psychisch kranker Eltern am Beispiel des surrealistischen Malers René Magritte

S. Schlüter-Müller
Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Frankfurt am Main

Zusammenfassung


Das wissenschaftliche und klinische Interesse an Kindern mit psychisch erkrankten Eltern ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Da diese Kinder eine Hochrisikogruppe unter unseren Patienten darstellen, ist Früherkennung zur Vorbeugung von psychischen Erkrankungen dringend indiziert.
Die Resilienzforschung gibt wichtige Hinweise auf Ressourcen und Bewältigungsstrategien, die therapeutisch genutzt werden können und ergänzt somit die Vulnerabilitätsforschung auf klinisch relevante Weise.
Anhand der Biografie des belgischen surrealistischen Malers René Magritte, der mit einer psychisch kranken Mutter aufwuchs, die sich suizidierte als er 13 Jahre alt war, wird aufgezeigt, wie sich diese Lebensbelastung unter Umständen auf unbewusste Weise künstlerisch einen Weg bahnte. Anhand einiger Werke des Künstlers werden vermutete Zusammenhänge zwischen Werk und unbewusster Konfliktbewältigung herausgearbeitet.
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Kinder psychisch kranker Eltern haben in den letzten Jahren in großes Interesse erfahren, nicht nur weil sie eine Hochrisikogruppe unter unseren Patienten darstellen, sondern auch weil man sich immer mehr der Früherkennung und Vorbeugung von psychischen Erkrankungen widmet.
Auch wurde der Blick zunehmend erweitert von der reinen Sicht auf die krankmachenden Risikofaktoren, von der Vulnerabilität der einzelnen Kinder, hin zu den Ressourcen und gesund erhaltenden Faktoren, den sogenannten Resilienzfaktoren.
Anhand der Biografie des belgischen surrealistischen Malers René Magritte. der mit einer psychisch kranken Mutter aufwuchs, die sich suizidierte als er 13 Jahre alt war, wird aufgezeigt, wie sich diese Lebensbelastung auf unbewusste Weise künstlerisch einen Weg bahnen konnte.


Vulnerabilitätsforschung


Wie wir aus der Vulnerabilitätsforschung wissen, ist das Risiko als Kind von psychisch kranken Eltern selbst eine psychische Störung zu entwickeln zwei- bis dreifach erhöht. Mehr als ein Drittel der Kinder, die sich in stationärer kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung befinden, haben einen psychisch kranken bzw, suchtkranken Elternteil. Die Kinder zeigen Auffälligkeiten im:
• Sozialen Bereich (erhöhte Aggression, soziales Rückzugsverhalten)
• Kognitiven Bereich (Beeinträchtigungen im schulischen und beruflichen Bereich)
• Emotionalen Bereich (instabiles Verhalten wie Überempfindlichkeit. leichte Erregbarkeit. Ängstlichkeit, geringe Frustrationstoleranz


Resilienzforschung

Zunehmend interessiert sowohl Forscher als auch Kliniker welche Resilienzfaktoren dazu beitragen, dass Kinder trotz schwieriger psychosozialer Bedingungen und genetischer Belastung nicht erkranken.
Resilienz meint eine psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken und umfasst somit ein hochkomplexes Zusammenspiel aus Merkmalen des Kindes und seiner Lebensumwelt. Die Wurzeln für die Entwicklung von Resilienz liegen in risikomindernden Faktoren innerhalb und außerhalb des Kindes. Aufgrund dieser Ressourcen unterscheiden sich Menschen in ihrer Fähigkeit zur Belastungsregulation.
Lenz beschreibt besondere Schutzfaktoren, über welche diese Kinder verfügen, die sie nicht so stressanfällig wie andere machen. Sie verfügen über ein aktives kontaktfreudiges Temperament, was impliziert, dass sich diese Kinder etwas zutrauen, auf andere zugehen, um sich Hilfe zu holen, flexibel und anpassungsfähig sind und ein immanentes Gefühl von Zuversicht haben.
Die Resilienzforschung findet bei diesen Kindern eine positive, gesunde Entwicklung trotz andauerndem, hohen Risikostatus z. B. Armut oder niedrigem sozioökonomischem Status, elterlicher Psychopathologie oder sehr junger Elternschaft (Multi-Problem-Milieus), ferner eine beständige Kompetenz unter akuten Stressbedingungen, z.B. elterlicher Trennung, Scheidung, Wiederheirat eines Elternteils oder Verlust eines Geschwisters (Nicht-normative kritische Lebensereignisse) sowie positive bzw. schnelle Erholung von traumatischen Erlebnissen wie Tod eines Elternteils, sexuellem Missbrauch oder Kriegserlebnissen.
Als Resilienzfaktoren gelten:
• Problemlösefähigkeiten
• Selbstwirksamkeitsüberzeugung
• Selbstvertrauen
• Selbstwertgefühl
• Sicheres Bindungsverhalten
• Soziale Kompetenz
• Zuversichtliche Lebenseinstellung
• Kreativität


René Magritte

Im Folgenden soll anhand der Biografie und einigen Werken des surrealistischen Malers René Magritte in Künstler dargestellt werden, der eine psychiatrisch kranke Mutter hatte und der dennoch nie in seinem Leben selbst erkrankte, bzw. über den durchgehend als einen psychisch stabilen und glücklichen Menschen berichtet wird.

In einem Vorwort des Ausstellungskatalogs der Fondation Beyeler in Basel, die umfangreiche Werke des Künstlers 2005 in der Ausstellung mit dem Titel „Der Schlüssel der Träume“ zeigte, beschreiben die Kuratoren: „Der Reigen der Bilder reiht Rätsel an Rätsel.“ Die irritierende Wirkung, die Magrittes Bilder hinterlassen, ist mit den phantasievollen Motivzusammensetzungen, mit den dauernden Verrückungen von Perspektive, Größenverhältnissen und Inhalt allein nicht zu erklären… Magrittes Bilder, einmal gesehen, gehen einem nicht mehr aus dem Kopf.“



Abb. 1  René Magritte: Entdeckung, 1927, 
©VG Bild-Kunst, Bonn 2008
Magritte wurde am 21. November 1898 in Hennegau, Belgien, als erstes Kind seiner Eltern geboren, es folgten noch zwei Brüder. Seine Kindheit war geprägt von unzähligen Umzügen. Suzi Gablik, die den Künstler persönlich kannte, schreibt in ihrem Buch „Magritte“: „Magritte verfügte über nur wenige frühe Kindheitserinnerungen, aber alle waren bizarr. Was er z. B. speziell erinnerte, wie in einer Art Vision, war ein großer hölzerner Oberkörper, der rätselhaft neben seiner Wiege stand.“ (Abb. 1)

Obwohl die psychische Erkrankung von Magrittes Mutter in keiner Ausstellungsbeschreibung erwähnt wird und auch er nie darüber sprach, so ist doch aus der Biografie von David Sylvester bekannt, dass Magrittes Mutter Regine an einer chronischen Depression, wahrscheinlich aber an einer schizophrenen Erkrankung litt. Wie sehr sich die verrückte Welt der Mutter, die Unvorhersehbarkeit ihrer psychischen Zustände, das Unverstehbare ihres Handelns in seinen Bildern widerspiegelt, ist Spekulation und wird auch von keinem Kunsthistoriker bis heute so gesehen. Es ist eindrucksvoll, dass sich Zusammenhänge, die sich uns als psychologisch und psychiatrisch geschulten Betrachtern nahezu aufdrängen, in keine der Biografien, Ausstellungsbeschreibungen, Bildinterpretationen einfließen, obwohl über die Verwirrung immer wieder berichtet wird. In keinem Bericht über Magritte, außer in der Biografie on David Sylvester, wird weiter auf die Erkrankung der Mutter und den späteren Suizid eingegangen, meist wird von einer „glücklichen Kindheit“ des Künstlers gesprochen und nur in wenigen Sätzen der Suizid der Mutter erwähnt.
Abb. 2  René Magritte: Luce polare, 1927, 
©VG Bild-Kunst, Bonn 2008
So soll es nicht als Anmaßung verstanden werden, wenn seine Bilder in diese Richtung gedeutet oder interpretiert werden, aber es scheint erstaunlich, dass im erwähnten Ausstellungskatalog der Fondation Beyeler Folgendes zu lesen ist, ohne dass ein Bezug zu seiner Biografie hergestellt wurde: „In Magrittes Bildern wird die logische Welt brüchig. Magritte stellt den passiven Zuständen. die der klassische Surrealismus bevorzugt, die Vortäuschung der Paranoia entgegen, ein in sich geschlossenes Bild von Trugbildern und Irrealitäten. An die Stelle der Halluzination und der damit verbundenen stilistischen Verschlüsselung tritt… eine in Teile und
Stücke zerschnittene und fremde, gleichsam außerirdisch zusammengesetzte Welt.“ (Abb. 2).

1912, als Magritte 13 Jahre alt war, ertränkte sich seine Mutter in der Sambre, einem Fluss der durch seine Heimatstadt floss. Laut Gablik beschrieb er das Ereignis wie folgt: Seine Mutter habe ihr Zimmer mit ihrem jüngsten Sohn geteilt, der, als er sich nachts allein im Bett fand, den Rest der Familie weckte. Sie suchten im Haus, um dann, als sie draußen vor der Haustür und auf dem Gehweg Fußspuren sahen, diesen zu folgen und kamen zu der Brücke, die über die Sambre führte. Die Mutter des Malers hatte sich in den Fluss geworfen, und als sie ihren Körper fanden, hatte sie das Nachthemd über dem Kopf. Es war nie klar, ob sie sich das Nachhemd selbst über das Gesicht gezogen hatte oder die Strömung es tat.


Abb. 3  René Magritte: Zwei Liebende, 1928
©VG Bild-Kunst, Bonn 2008
In der Biografie von David Sylvester wird beschrieben, dass Magritte sich daran erinnert, wie die Mutter nach Tagen aus dem Fluss geborgen wurde, das Nachhemd um ihren Kopf gewickelt hatte. Magritte erinnert sich in einer autobiografischen Notiz, den Leichnam der Mutter mit dem Nachthemd um den Kopf gesehen zu haben, an die Gefühle, die er dabei gehabt habe, könne er sich nicht erinnern.





Abb. 4  René Magritte: Die Erfindung des Lebens, 1928, 
©VG Bild-Kunst, Bonn 2008




In unzähligen seiner frühen Bilder taucht dieses Erlebnis immer wieder auf, und man kann als Psychiater oder Psychotherapeut nicht umhin, eine Verbindung zu Magrittes Unbewusstem herzustellen, denn bewusst hat auch er selbst nie eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen diesem traumatischen Erlebnis und seinen Bildern hergestellt (Abb. 3, 4). 






Abb. 5  René Magritte: Die symmetrische List, 1928
©VG Bild-Kunst, Bonn 2008





Der Biograf Sylvester hat Gründe für die Vermutung, dass der Körper der Mutter durch den regen Schiffsverkehr auf der Sambre durch Schiffsschrauben entstellt und in einem grauenvollen Zustand und die Leiche zum Teil verstümmelt war. Auch zwischen diesem Wissen und Magrittes immer wiederkehrenden Bildern von fragmentierten Körpern wurde kunsthistorisch nach meinem Wissen nie ein Bezug hergestellt (Abb. 5, 6).





Abb. 6  René Magritte: Der Sinn der Nacht, 1927, 
©VG Bild-Kunst, Bonn 2008





Aus Magrittes Biografie geht hervor dass er ein sehr ruhiges und ausgeglichenes Leben führte mit keinerlei psvchischen Auffälligkeiten und einer langen und sehr glücklichen Ehe. Wie schon erwähnt, sollen seine Bilder nicht ausschließlich auf sein Kindheitstrauma und dessen unbewußte Bewältigung zurück geführt werden, denn er selbst hat nie einen Zusammenhang zwischen seinen Bildern und diesem Teil seiner Biografie gesehen, dennoch könnte ihm seine große Begabung und sein weltbekanntes surrealistisches Werk geholfen haben, seine Traumatisierung zu verarbeiten und in Kreativität umzuwandeln. Bezeichnenderweise besuchte Magritte vom 12, Lebensjahr an eine Zeichenschule, so dass ihm dieses Medium in der Zeit der Verarbeitung aktiv zur Verfügung stand.










Abb. 7  René Magritte: Der Geist der Geometrie, 
1936/37, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2008

Ein späteres und besonders eindrucksvolles Bild von Magritte, das er „Der Geist der Geometrie“ nannte und das aus dem Jahr 1936 oder 1937 stammt, zeigt auf beeindruckende Weise und in erschütternder Klarheit den Hauptkonflikt der Kinder psychisch kranker Eltern (Abb. 7).




Wenn man bedenkt, dass der Begriff der Parentifizierung erst in den 1950er Jahren von Familienforschern entwickelt wurde, drängt sich dem psychologisch geschulten Betrachter dieses Bildes geradezu auf, eine unbewusste Quelle Magrittes anzunehmen.


Den Kindern psychisch kranker Eltern werden Aufgaben gestellt, die sie oft überfordern, wie z. B. frühe Autonomieanforderungen, frühes Erachsenwerden mit Übernahme elterlicher Aufgaben so wie der Versuch nach außen den Schein zu wahren, um loyal zu sein. Eigene Bedürfnisse werden dabei leicht übersehen.


Hauptsächliche Konflikte der Kinder und Jugendlichen sind:

• Schuld- und Schamgefühle
• Hilflosigkeit
• Angst vor Gewalt oder Selbstmord des Elternteils
• Verunsicherung und Desorientierung
• Vermindertes Selbstwertgefühl
• Soziale Isolation durch Stigmatisierung
• Angst vor Vererbung/Ansteckung
• Wut auf den erkrankten Elternteil
• Mitgefühl und Traurigkeit
• Verantwortungsgefühl für die Familie
• Gefühl des Verlusts eines Identifikationsobjekts

Kinder und Jugendliche, die über ausreichende Resilienzfaktoren verfügen und keine psychischen Auffälligkeiten zeigen, sind im Alltag oft auffüllend unauffällig, da sie flexibel und anpassungsfähig sind und aus diesem Grund ihre Überforderung unter Umständen nicht auffällt. Da sie insgesamt nicht so stressanfällig sind wie andere und sich viel zutrauen, besteht die Gefahr, dass sie überfordert und ihre eigenen Bedürfnisse übersehen werden.


Kinder sind sensible Beobachter ihrer erkrankten Eltern. Sie erkennen und benennen eine Reihe von Frühwarnzeichen an denen sie die Verschlechterung des psychischen Zustandes ihrer Eltern ablesen können. Das Leben ist durch eine Atmosphäre der Rücksichtnahme und Schonung gekennzeichnet, da die meisten Kinder und auch Jugendliche die Erkrankung auf psychosoziale Belastungen, Überforderung und Stress zurückführen. Es kommt zu einer Rollenumkehr, die Kinder nehmen Rücksicht, hören zu und kümmern sich, eigene Bedürfnisse werden nicht mehr wahrgenommen oder, falls doch, mit Schuldgefühlen unterdrückt. Viele fliehen in eine Fantasiewelt, neigen zu defensiv vermeidenden Bewältigungsstrategien. Wenn man Kinder und Jugendliche befragt, was ihnen am meisten helfen würde, äußern sie als wichtigste Form der Unterstützung die ehrliche und offene Antwort auf Fragen über die Erkrankung oder das offene Gesprächsklima, das Fragen überhaupt zulässt, ferner Kontakt- und Austauschmöglichkeiten in Gruppen, möglichst mit anderen Betroffenen sowie Aufklärung der Öffentlichkeit über psychische Erkrankungen. Auch von ehemalig Betroffenen, die heute erwachsen sind und unter der Belastung der psychischen Erkrankung der Eltern massiv gelitten haben, wird als schwerwiegendste Belastung die Sprachlosigkeit über die Erkrankung, die Tabuisierung der Thematik, das Zurückstellen-Müssen der eigenen Bedürfnisse und die Angst vor Stigmatisierung genannt.

So ist zu hoffen, dass heute ein Kind in einer solchen Situation nicht mehr auf Mauern des Schweigens treffen muss. In den letzten Jahren ist eine Vielzahl von Büchern, Broschüren und Informationsmaterial zu den Problemen von Kindern und Jugendlichen mit psychisch kranken Eltern erschienen, die auf sensible und kind- oder jugendgerechte Weise die besondere Problematik dieser Gruppe darstellt.

Uns und den betroffenen Kindern ist zu wünschen, dass wir mit unserem Wissen und Können den betroffenen Familien helfen können, ihre Sprachlosigkeit, ihre Scham und ihre Schuldgefühle zu überwinden und durch eine gute Aufklärung in der Öffentlichkeit dazu beitragen können, Vorurteile über psychische Erkrankungen abzubauen und somit Stigmatisierungen vorzubeugen.


aus Nervenheilkunde 6/2008

Einige eigene Bemerkungen:
Ich halte es für gut möglich, daß Magritte in seinen Bildern nicht den Tod seiner Mutter sondern die für ihn ursächliche Beziehung der Eltern verarbeitete.
– Die Liebenden in Abbildung 3 könnten Magrittes Eltern gewesen sein, die sich nicht sehen.
– Auch Abbildung 5 könnte auf die Beziehung der Eltern hinweisen.
– Abbildung 4: Wer ist hier der Erfinder?

– Abbildung 6: Was für einen Sinn kann eine Nacht schon haben, in welcher der deformierte Leichnam der Mutter, die sich selbst das Leben nahm, gefunden wird?
- Abbildung 7: Mutter und Kind schauen aneinander vorbei, während die Mutter das Kind zu sich hin zieht, scheint sich das Kind zu wehren.


„Im Hinblick auf meine Malerei wird das Wort ‚Traum’ oft missverständlich gebraucht. Meine Werke gehören nicht der Traumwelt an, im Gegenteil. Wenn es sich in diesem Zusammenhang um Träume handelt, sind diese sehr verschieden von jenen, die wir im Schlaf haben. Es sind eher selbstgewollte Träume, in denen nichts so vage ist, wie die Gefühle, die man hat, wenn man sich in den Schlaf flüchtet. Träume, die nicht einschläfern sondern aufwecken wollen.“
[René Magritte]
siehe auch:
- Psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern psychisch kranker Eltern (Silke Wiegand-Grefe, Uni Flensburg, 03.11.2011, PDF)
- Reddemann-Tips zur Ausbildung von Resilienz (Post, 22.11.2009)
- Kinder mit psychisch kranken Eltern (Psychiatrienetz)
- Psychische Erkrankungen: Wenn Kinder zu Eltern werden (Julia Jüttner, SPON, 03.07.2012)
- Psychisch kranke Eltern: War ich nicht lieb? (Andrea Freund, Kathrin Runge, FAZ Online, 30.12.2013)
Wenn der Betrachter findet, daß meine Bilder dem gesunden Menschenverstand Hohn sprechen, wird er sich einer offensichtlichen Tatsache bewußt. Ich möchte aber trotzdem hinzufügen, daß für mich die Welt ein Hohn auf den gesunden Menschenverstand ist. [René Magritte]
siehe auch:
- Magritte, ein Leben ungeheurer Anstrengung (Post, 06.11.2015)
- Die Bildsprache Magrittes (Hans Holländer, Gleichsatz, Datum unbekannt)
- "Kindermund" von Pola Kinski, Insel Verlag 2013 (Rezension in: Biografische Bücher erwachsener Kinder psychisch kranker Eltern(teile), Jana Reich, 13. & 18. Januar 2013, Borderline-Mütter.de, PDF)
- Psychologie: Borderline - der Wahn der Kreativen (Elke Bodderas, N24, 04.03.2007)


letzte Änderung: 26.10.2017

Freitag, 9. Mai 2008

Armut senkt IQ

Kinder in armen Familien sind durch streitende Eltern, ständige Geldsorgen der Familie, Misshandlungen oder Vernachlässigung einem dauerhaften Stress ausgesetzt, der ihre geistigen Fähigkeiten beschädigt. US-Forscher konnten jetzt in Studien nachweisen, dass solcher Stress den Aufbau von Nervenverbindungen stört und das Immunsystem schädigen kann. Folge: Lebenslange Lern-, Konzentrations- und Gesundheitsprobleme sowie Verhaltensauffälligkeiten und psychische Krankheiten. Bei einer vergleichenden Untersuchung von Kindergartenkindern unterschiedlicher sozialer Klassen stellten die Wissenschaftler fest, dass Kinder aus armen Familien im Vergleich zu Mittelklassekindern eine deutlich schlechtere Sprachfähigkeit und ein schlechteres Arbeitsgedächtnis haben und dass sie sich schlechter konzentrieren können. Auch Probleme mit Immun- und Herzkreislaufsystem und mit Hautkrankheiten sind bei Kindern aus armen Familien häufiger. Die Ergebnisse wurden auf der Jahrestagung 2008 des Wissenschaftsverbandes AAAS in Boston vorgestellt. www.aaas.org

aus Der Allgemeinarzt Nr 5, 2008

Donnerstag, 8. Mai 2008

Hungergeister

Angeregt durch konfusius’ lesenswerten Kommentar zum letzten Post »Geiz ist geil zum nächsten« und die Schwierigkeiten, die ein Freund mit seiner Freundin hat (und die auch mit ihm) einige Zitate aus Mark Epsteins Buch »Gedanken ohne den Denker«

Da es im Folgenden um Elemente aus dem Buddhistischen Lebensrad geht, ist es hilfreich (aber nicht notwendig), sich darüber zu informieren. Auf der Wikipedia-Seite gibt es ganz unten ein Link zur Seite des Dharmapala Thangka Zentrum in Bremen, die eine interaktive Seite zum Lebensrad anbieten.

Vorangestellt ein Zitat Zen-Meister Dogens


Den Buddhismus studieren, ist das Selbst studieren. Das Selbst studieren, ist das Selbst vergessen. Das Selbst vergessen, ist mit anderen eins sein.


Eines der überzeugendsten Momente der buddhistischen Sicht des Leidens ist die im Bild des Lebensrads enthaltene Vorstellung, daß die Ursachen des Leidens zugleich die Mittel zur Erlösung sind; das bedeutet, die Perspektive des Leidenden bestimmt, ob ein gegebener Bereich Medium des Erwachens oder der Gefangenschaft ist. Von den Kräften der Gier, des Ärgers und der Torheit bestimmt, verursacht unsere fehlerhafte Wahrnehmung der Bereiche – nicht die Bereiche selbst – das Leiden. Jeder Bereich enthält eine kleine Buddha–Gestalt (eigentlich handelt es sich um den Bodhisattva des Mitgefühls, dessen Streben darauf gerichtet ist, das Leiden anderer zu beseitigen), die uns auf symbolische Weise lehrt, wie wir die falschen Wahrnehmungen korrigieren können, die jede Dimension verzerren und damit das Leiden perpetuieren. Wir erfahren keinen Bereich in aller Klarheit, lehren die Buddhisten; statt dessen durchleben wir sie alle angsterfüllt; abgeschnitten von der Fülle der Erfahrung, unfähig, sie zu akzeptieren, fürchten wir uns vor dem, was wir zu sehen bekommen. So wie wir den »geschwätzigen Affen« in uns nicht zum Schweigen bringen können, so gleiten wir von einem Bereich in den nächsten, ohne wirklich zu wissen, wo wir uns befinden. Wir sind in unserem Geist befangen, kennen ihn aber nicht wirklich. Von dessen Wellenbewegung angetrieben, treiben wir dahin und mühen uns ab, weil wir nicht gelernt haben, loszulassen und frei zu schweben.
Dies ist die andere Möglichkeit, das Lebensrad zu verstehen, weniger wörtlich als psychologisch. Schließlich ist die Hauptfrage der buddhistischen Praxis die psychologische Frage: »Wer nin ich?« Ihre Beantwortung erfordert die Erkundung aller Daseinsbereiche. Diese verwandeln sich somit in Metaphern für verschiedene psychologische Zustände, wodurch das ganze Rad zur Darstellung des neurotischen Leidens wird.
Dem Buddhismus zufolge ist es unsere Furcht davor, uns unmittelbar selbst zu erfahren, die Leiden schafft. Dies schien mir immer sehr gut zu Freuds Ansichten zu passen. So behauptete Freud, der Patient

muß den Mut erwerben, seine Aufmerksamkeit mit den Erscheinungen der Krankheit zu beschäftigen. Die Krankheit selbst darf ihm nichts Verächtliches mehr sein, vielmehr ein würdiger Gegner werden, ein Stück seines Wesens, das sich auf gute Motive stützt, aus dem es Wertvolles für sein späteres Leben zu holen gilt. Die Versöhnung mit dem Verdrängten, welches sich in den Symptomen äußert, wird so von Anfang an vorbereitet, aber es wird auch eine gewisse Toleranz fürs Kranksein eingeräumt.

Der Glaube, daß Versöhnung zur Erlösung führen kann, ist grundlegend für die buddhistische Vorstellung von den Sechs Bereichen. Wir können nicht zur Erleuchtung gelangen, solange wir unserem neurotischen Geist entfremdet bleiben. Wie Freud so weitblickend bemerkte: »Auf diesem Felde muß der Sieg gewonnen werden, dessen Ausdruck die dauernde Genesung von der Neurose ist, ... denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden.« In jedem Bereich unserer Erfahrung, lehren die Buddhisten, müssen wir klar sehen lernen. Nur dann läßt sich das Leiden umwandeln, das der Buddha als universell erkannte. Die Erlösung vom Lebensrad, von den Sechs Daseinsbereichen wird traditionell als Nirvana beschrieben und mit dem Pfad symbolisiert, der aus dem Bereich der Menschen hinausführt. Es ist jedoch mittlerweile ein grundlegendes Axiom des buddhistischen Denkens, daß Nirvana Samsara ist – daß es keinen getrennten Bereich des Buddha neben der weltlichen Existenz gibt, daß die Erlösung vom Leiden durch eine veränderte Wahrnehmung gewonnen wird, nicht durch das Überwechseln in ein himmlisches Reich.
Die westliche Psychologie hat viel zur Erhellung der Sechs Bereiche beigetragen. Freud und seine Anhänger deckten die animalische Natur der Leidenschaften auf, die höllische Natur von paranoiden, aggressiven und Angstzuständen sowie die unstillbare Sehnsucht, das orale Verlangen (im Lebensrad sind es die Hungergeister). Spätere Entwicklungen in der Psychotherapie rückten sogar die höheren Bereiche in den Mittelpunkt. Die humanistische Psychotherapie legte den Schwerpunkt auf die »Gipfelerlebnisse« (Maslow) im Bereich der Götter; die Ich–Psychologie, der Behaviorismus und die kognitive Therapie forderten das wettbewerbsfähige und effiziente Ich, das im Buddhismus im Bereich der Neidischen Götter angesiedelt ist; und die Psychologie des Narzißmus behandelte ausdrücklich die für den Bereich der Menschen so wichtigen Fragen der Identität. Jede dieser Richtungen befaßte sich mit der Rückgabe eines fehlenden Stücks menschlicher Erfahrung, eines Moments des neurotischen Geistes, von dem wir uns entfremdet haben.
Das Interesse an der Integration aller Aspekte des Selbst ist grundlegend für die buddhistische Vorstellung von den Sechs Daseinsbereichen. Wir sind nicht nur von diesen Aspekten unseres Charakters entfremdet, behauptet die buddhistische Lehre, sondern auch von unserer eigenen Buddha–Natur, von unserem eigenen erleuchteten Geist. In der Meditation kann man lernen, das ganze Material der Sechs Bereiche zu erschließen und damit alle Punkte, an denen unser Geist haftet.


Der Bereich der Hungrigen Geister


Die Hungergeister sind wahrscheinlich die eindrucksvollsten Gestalten im ganzen Lebensrad. Mit ihren verkrüppelten Gliedmaßen, dick aufgedunsenen Bäuchen und langen, dünnen Hälsen stellen diese phantomartigen Kreaturen auf vielerlei Weise die Verschmelzung von Zorn und Begierde dar. Von unerfüllten Sehnsüchten gepeinigt, verlangen die Hungrigen Geister unablässig nach unmöglichen Befriedigungen, und suchen so, alte, unerfüllte Bedürfnisse zu stillen. Es sind Wesen, die in sich eine schreckliche Leere entdeckt haben, die nicht einsehen, daß es unmöglich ist, im nachhinein etwas zu ändern. Ihr gespenstischer Zustand symbolisiert ihre Bindung an die Vergangenheit.
Außerdem können die Hungergeister, obwohl sie unheimlich hungrig und durstig sind, weder trinken noch essen, ohne daß es ihnen furchtbare Schmerzen bereitet. Ihre langen, dünnen Hälse sind so schmal und wund, daß sie beim Schlucken unerträglich gereizt werden und brennen. Ihre aufgeblasenen Bäuche können keine Nahrung verdauen; alle Versuche, den Hunger zu stillen, verstärken nur noch die Hungergefühle und das Verlangen. Die Hungrigen Geister sind unfähig, sich eine angemessene, wenn auch kurzlebige Befriedigung zu verschaffen. Sie bleiben ständig in der Wahnvorstellung befangen, sie könnten von vergangenem Schmerz vollkommen erlöst werden, und wollen nicht zur Kenntnis nehmen, daß ihr Wunsch unerfüllbar ist. Diese Menschen sind vom Wissen um die Unstillbarkeit ihres Verlangens entfremdet, sie müssen sich ihre Phantasievorstellung erst als eine solche klarmachen. Die Hungergeister müssen mit der gespenstischen Natur ihrer eigenen Sehnsüchte in Berührung kommen.
Dies ist jedoch, selbst mit der Hilfe eines Psychotherapeuten, keine leichte Aufgabe für einen Hungrigen Geist. Problemfälle aus dem Bereich der Hungergeister kommen zunehmend in die Praxis des Psychotherapeuten. Erst kürzlich war Tara, eine Professorin für französische Literaturgeschichte, meine Patientin; ihr Leben war das personifizierte Schicksal der Hungrigen Geister. Sie schilderte eine lange Reihe von Beziehungen mit anderen erfolgreichen Akademikern. Tara fing immer wieder eine leidenschaftliche Liaison zu einem Mann an, während sie noch eine Beziehung zu einem anderen hatte. Dabei hielt sie den Mann, mit dem sie gerade zusammenlebte, immer auf Distanz. Plötzlich entdeckte sie all seine Fehler und Schwächen, sie begann, das sexuelle Interesse an ihm zu verlieren und vor allem ihn daran zu hindern, sie körperlich und emotional zu berühren. Zur gleichen Zeit träumte sie schon von dem anderen, der in ihr Leben treten würde. Sexuell war sie zwar sehr erfahren, doch hatte sie nur selten einen Orgasmus und gestand ein gewisses vages Unbehagen bei Intimitäten. Sie erinnerte sich an eine unglückliche und sehr kritische Mutter, die sie als Kind selten berührt hatte und einmal sogar, als sie wegen Taras Sturheit beleidigt war, deren Teddybär zerrissen hatte. Tara kam in die Therapie, nachdem sie es zuerst mit der Zen-Meditation (Zazen) versucht hatte, vor der sie aus unerfindlichen Gründen große Angst hatte, und zwar so sehr, daß sie aus der Meditations–Halle (Zendo) flüchtete, statt still sitzen zu bleiben.
Tara bemühte sich unentwegt um die Art von Nahrung, die sie früher einmal gebraucht hatte, die jetzt für sie als erwachsene Frau aber unangemessen war. (Selbst wenn sie jemanden gefunden hätte, der sie so »gehalten« hätte, wie ihre Mutter es nie getan hat, wäre es doch unwahrscheinlich, daß sie dies sehr lange befriedigt hätte. Statt dessen hätte sie solche Verhaltensweisen als erdrückend empfunden, da sie für ihre tatsächlichen Bedürfnisse als Erwachsene irrelevant waren.) Sie fürchtete sich vor dem, was sie sich am meisten wünschte, und war unfähig, die kurzzeitigen Befriedigungen zu genießen, die ihr geboten wurden. Die Möglichkeit einer Beziehung zu einem Mann regte Tara nur dazu an, die Phantasie von einer befreienden Beziehung zu einem anderen Mann wieder aufleben zu lassen. Sie begriff nicht, daß sie ein unerreichbares Ideal konstruierte, und widersetzte sich sogar jeder Diskussion über diese Phantasien. Sie war von ihnen getrieben, zugleich aber unfähig, sich ihre Realität, geschweige denn ihre Irrealität einzugestehen. Erst als sie allmählich lernte, ihre Sehnsüchte zu artikulieren, war sie in der Lage, die schmerzlichen Kindheitserlebnisse wiederzubeleben. Von diesem Moment an schwand ihre Angst vor dem Zazen, und ihr wurde ihr zwanghaftes Bedürfnis bewußt, aus dem heraus sie diejenigen schlechtmachte, die mit ihr intim werden wollten.
In der traditionellen Darstellung des Lebensrads erscheint der Bodhisattva des Mitgefühls im Bereich der Hungergeister mit dem Gefäß der himmlischen Speise, einer Schale mit den Symbolen für spirituelle Nahrung. Die Botschaft ist klar: Essen und Trinken vermögen die ungestillten Bedürfnisse dieses Bereichs nicht zu stillen. Nur das nicht urteilende Gewahrsein, das der Buddha vervollkommnet hat, bietet Erlösung.
Diese verzweifelte Sehnsucht nach unerschöpflicher Fülle ist im Abendland weit verbreitet und firmiert in der Psychologie als »geringes Selbstwertgefühl«. Diesen Geisteszustand zu verstehen erwies sich für viele Lehrer des Buddhismus aus dem Osten als besondere Schwierigkeit im Umgang mit ihren westlichen Schülern. Das Ausmaß, in dem die westliche Psyche unter innerer Leere und Minderwertigkeitsgefühlen leidet, erschien den im Osten aufgewachsenen Lehrern überwältigend; auch werden die zwanghaften Kompensationsphantasien, die die Schüler häufig mit eben jenen Lehrern verbinden, nur selten gründlich psychoanalytisch behandelt. Genauso wie man die Leere der Hungrigen Geister erlebt haben muß, um die Stillung alter Bedürfnisse nicht mehr von ungeeigneten Quellen zu erwarten, so muß der von solchen Gefühlen geplagte westliche Schüler die Leere zum Gegenstand seiner Meditation machen. Erst dann läßt sich die Abscheu vor sich selbst in Gelassenheit überführen, eine Aufgabe, bei der Psychotherapie und Meditation einander gut ergänzen.

aus: aus: Mark Epstein, Gedanken ohne den Denker, Das Wechselspiel von Buddhismus und Psychotherapie, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1998
1. Kapitel »Das Lebensrad – ein buddhistisches Modell des neurotischen Geistes«


Dazu zwei Absätze aus der Einleitung zum Kapitel »Die seelische Entwicklung des Kleinkindes aus psychoanalytischer Sicht« von Jochen Stork:

Der Leser wird besser verstehen, welche besondere Bedeutung die frühe Kindheit für die Psychoanalyse hat, wenn wir auf den Grundpfeiler der psychoanalytischen Lehre, auf das Unbewußte und seine spezifische Dynamik verweisen; denn ein Hauptcharakter des Unbewußten ist die Beziehung zum Infantilen – das Unbewußte ist das Infantile (Freud, VII, 401). Mit der Entdeckung des Unbewußten hat Freud die Vorstellung, die sich die Philosophie und klassische Psychologie vom psychischen Geschehen machten, grundlegend revolutioniert. Die große Bedeutung dieser Entdeckung – die nicht ein Postulat, sondern das Ergebnis von systematischen Beobachtungen darstellt – wird erst verständlich, wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß bis zu seiner Zeit »bewußt« und »psychisch« identisch waren (Freud, XIV, 57), man das Bewußtsein für das wesentliche Regulationssystem hielt, welches, in der Kindheit nur unvollständig ausgebildet, im Laufe der Jugendjahre seine Reife erlangt und die Grundlage für alles seelische Erleben darstellt. Neben dieser formalen Organisation existiert ein Gefühlsleben, welches seine eigenen Gesetze hat und von den Prinzipien der Bedürfnisse und Leidenschaften beherrscht ist.
Mit der Freudschen Erkenntnis kam es zu einer Umkehrung der herkömmlichen Denkkategorien und dadurch zu einer tief gehenden Verunsicherung des Menschen. Freud konnte zeigen, daß das Unbewußte die Basis allen seelischen Erlebens ist. Das grundsätzliche Infragestellen der Macht des Verstandes und des Bewußtseins und die Existenz des Unbewußten bedeutet für den Menschen eine schwer erträgliche Verunsicherung, nämlich nicht Herr im eigenen Hause zu sein, seine Gefühle und Phantasien letztlich nicht mit der Kraft des Verstandes beherrschen zu können.

[aus Dieter Eicke (Hrsg.), Tiefenpsychologie, Bd. 2, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1982, S. 131ff. – Hervorhebungen von mir]