[…]
Ueda übersetzte den Anfang des Gesprochenen. Die Frage des
Meisters, ob ich nicht Angst habe, den Gott der Christen zu verlieren,
beantwortete ich mit Nein. Dann winkte der Meister ab, die weitere Übersetzung
dauerte zu lange. Er ergriff die Klingel neben sich und klingelte. Wir standen
auf und verbeugten uns ehrerbietig, und ich war ohne Widerstand, ergriffen von
dem Geist, der mich angerührt hatte. Wir verließen rückwärts gehend den Raum.
Im Eingang dieselben Verbeugungen wie beim Eintreten.
Unterwegs begegneten wir im Gang dem nächsten. Wir gingen
schweigend aneinander vorüber. Auf dem Rückweg verließ man den Tempelraum an
seinem oberen Ende, man durchquerte ihn nicht noch einmal. Als wir in die Halle
zurückkehrten, hatte die Pause begonnen. Wir gingen nach draußen, sehr still.
Im Mondschein gab mir Ueda kurz den Wortlaut meiner Aufgabe in deutscher
Sprache. Die Aufgabe lautete:
Ikamuru kore Hotoke.
Soku shin soku Butse?
Wer ist, wo ist, was ist Buddha? Damit kehrte ich in die
Halle zurück und begann zu meditieren.
Am nächsten Morgen brachte mir Ueda die schriftliche
Übersetzung von dem, was der Meister gesagt hatte, und meine Aufgabe. Ich gebe
die Übersetzung wörtlich wieder:
«Wenn ein Meister gefragt wurde: ‹Wer ist, wo ist, was ist
Buddha?›, antwortete er ohne weiteres: ‹Kokoro.› Das ist der Geist, das Gemüt,
der Wille zusammen, das ist, so wie er ist, Buddha.
Diese Bedeutung sollst du mit deinem eigenen Kokoro
zeigen.
Wenn du eine Antwort darauf weißt, mußt du zum Meister
kommen. Aber du darfst auf die Antwort nicht für immer warten. Man muß danach
streben, als wenn man Eisen essen müßte.
In der vorbereitenden Atemübung das Rückgrat kerzengerade
halten, senkrecht sitzen, die Herzgrube zurückziehen, den Unterleib nach vorne
schieben, einatmen, tief und voll, in die ganze Bauchtiefe, beim Ausatmen den
Bauch von innen her etwas vordrücken. Zunächst den Atem zählen, Sammlung. Wenn
du sie erreicht hast, fängst du an, deine Zen-Aufgabe zu meditieren. Aber nicht
mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch.
«Kokoro» (Herz – Gemüt – Geist) Zen-Kalligraphie von Meister Ohtsu-Roshi |
Du sollst zunächst den Gott des Christentums beiseite
lassen, auf die lange Bank schieben (in Japan: auf das Wandbrett legen). Sitzen
üben!
Aber übrigens hat es den Meister interessiert, daß du, die
du eigentlich Christin bist, so fleißig Zen üben willst. Aus einer Kritik zum
Christentum heraus oder aus einer Angst vor dem Leben? Der Meister erwartet
keine Antwort auf diese Frage.
Sitzen ist eine Methode, also darfst du nicht davon
gefesselt werden. Das Ziel ist, die große Befreiung zu erleben und als ein
freier Mensch zu wandeln. Frei leben heißt das Leben und den Tod durchbrechen,
diese zwei Dualitäten.
Wir kennen weder das ‹Woher› des Lebens, noch das ‹Wohin›
des Todes, wir kennen weder ‹vor› der Geburt noch ‹nach› dem Tod. Daß unser
Leben in diese finstere Unkenntnis geworfen ist, das macht unser Leben tief
angstvoll und fest gefesselt. Wir müssen aus dieser Unkenntnis, dieser
Finsternis herauskommen. Dies ist der große Ernst. She je jidan. Deswegen üben wir Zen.»
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Ich bin nicht aus einer Kritik am Christentum zum Zen
gekommen. Diese Auseinandersetzung (wenn ich eine allmähliche, dann immer
schneller und ausschließlicher sich vollziehende Ablösung und Entfernung so
nennen darf) war schon in früheren Jahren, lange vor dem Krieg 1939 vor sich
gegangen. Obwohl ich noch in die Generation gehöre, in der die Erziehung in
vollem Umfang religionsgebunden war – jeder Schultag begann mit einer Andacht,
am Sonntag ging die Gemeinde auf dem Land in die Kirche, die Bibel wurde in
vielen Häusern regelmäßig gelesen, und das «Wort Gottes» wurde der Jugend bei
der Konfirmation als unantastbare Wahrheit, als Erhebung im Alltag, als Trost-
und Kraftquelle ftir Zeiten der Anfechtung und Not, als Wegweiser in ein ewiges
Leben mit auf den Lebensweg gegeben –, blieb mir ein Glaubenkönnen im Kern
versagt. Das Dogma blieb mir fremd.
Dieser Prozeß der Ablösung, zuerst von kindlichen
Vorstellungen, dann bewußter und kritischer von den Glaubensinhalten, ging in
Schichten, oft mit Schmerzen und innerem Erschrecken vor sich und hat sich erst
im Zen vollzogen.
Was mir blieb und worin ich verblieb, war eine tief in mir
wurzelnde Ehrfurcht vor dem Leben, vor einer übergeordneten Kraft im
Weltgeschehen.
Das eigentliche Kriterium für meine Unfähigkeit zu glauben
war der Zweite Weltkrieg. In den ungezählten Nächten und Tagen, in denen wir in
Kellern und Bunkern saßen, die Sirenen heulten, die Bomben fielen, der Boden
schwankend unter der Wucht der Explosionen, habe ich mich wieder und wieder
gefragt: Was ist jetzt in dir an Glauben, was kannst du noch glauben, woran
hältst du dich? Es sind vielleicht die letzten Minuten deines Lebens – was geht
in dir vor? Und immer war es dasselbe: Nerven, bis zum Zerreißen gespannt,
nackte Angst, die das Herz hämmern ließ, die nach außen unter der Decke einer stoischen
Ergebenheit in das Unabwendbare zugedeckt wurde. Auflehnung gegen die
Sinnlosigkeit des Krieges, Auflehnung gegen einen Tod, dem ich mich
ausgeliefert fühlte ohne eine Beziehung, als Nur-Objekt. Gedanken an die, die
ich liebte. Aber auch die Liebe wurde überdeckt von der furchtbaren Spannung
der Kreatur in mir. Wo war Glaube? Und sei es nur der Glaube an eine Kraft, die
den Tod in ein inneres Schicksal verwandelt? Wo war die Gewißheit des Glaubens,
die den Menschen über seinen Tod hinaus zu heben vermag? Ich konnte mich nicht
belügen, ich hatte keinen Raum in mir für ein Schicksal, ich war nur Kreatur.
Es war eine harte Erkenntnis. Eine Erkenntnis, die mich
hart machte gegen einen gefühlsbetonten Glauben, gegen den Anspruch des
Absoluten und Alleinseligmachenden in den christlichen Bekenntnissen.
Aber etwas Kostbares, im Sinne des Lebens Positives, wurde
aus Angst und Katastrophen heraus geboren. Das Leben wurde wieder einfach. Das
Erleben unmittelbar. Nach den Angriffen schien die Sonne wie am ersten
Schöpfungstage, Erde und Himmel waren wie neu geschaffen. Luft, Licht, Wasser
waren wieder Elemente des Lebens, von einer vorher nie gekannten, nie
begriffenen Köstlichkeit. Das Leben war die Wirklichkeit, in der der Mensch
sich wieder in seine Qualität als Mensch eingesetzt fühlte.
Am Anfang des Krieges hatten mir Freunde ein kleines Buch
zugeschickt: D. T. Suzuki, Die große
Befreiung. Ich las es, und es ergriff mich über den Verstand hinweg. Ich
las es wieder, wie man eine Hymne an das Leben liest, den Sinn ahnend und von
ihm geführt, ohne die Sprache in ihrem Inhalt zu verstehen. Dieses Buch wurde
mir in der Zerstörung der Welt ein Stück fruchtbarer Erde, einer Erde, über der
Stille war.
Später stieß ich auf Herrigels Zen in der Kunst des Bogenschießens.
Dieses von einem Europäer über Zen geschriebene Buch, von
einem europäischen Standort aus Zen erfahrend, begriff ich konkreter.
Ich verstand sofort eins: Hier ging es um eine
Wirklichkeit in einer Totalität, die ich nur erahnen konnte, hier hatte nur das
Gültigkeit, was realisiert wurde. Hier war die Einheit von Denken und Leben,
von Leben und Denken, die ich suchte. Hier war eine Freiheit, die alle
Gebundenheit aufhob, hier waren die Antworten auf das Leben und auf das
Sterben.
Alle Philosophie, soweit ich mit den großen Fragen der
Philosophie in ein Verhältnis zu kommen versucht hatte, hatte mir den Weg in
diese Freiheit nicht öffnen können. Die Gedanken der Philosophie standen vor
mir – in einem abstrakten Raum des Denkens, für den meine Denkkraft nicht
ausreichend war. Ich suchte eine Antwort auf die Fragen des Lebens, meines
Lebens, die aus meiner totalen Existenz heraus gegeben wurden, die meinen
Geist, mein Gemüt, meinen Willen gleichermaßen angingen.
In dieser Zeit griff der Tod in mein Leben ein. Mein
ältester Bruder starb. Ich stand vor einem Totenantlitz, über dem Reinheit lag,
Größe, der Abglanz eines Offenbar-geworden-Seins einer anderen Dimension, die
uns Lebende in ehrfürchtige Entfernung rückte. Vor der Hoheit dieser
Verwandlung mußte alle Traurigkeit verstummen, der Maßstab der eigenen Trauer
entwertete sich vor der Erhöhung durch den Tod. Aber die Frage ließ mich nicht
mehr los:
Was ist der Tod? Wohin führt er uns? Was wird er mir
bedeuten? Wie soll ich mich auf ihn vorbereiten?
Ich hatte nicht lange Zeit, der Frage nachzugehen. Wieder
stand ich vor dem Totenantlitz eines Menschen, mit dem ich aufs innigste
verbunden war. Ich sah in ein vom Kampfbeschädigtes, zerwühltes und zerrissenes
Gesicht, in dem das jähe Entsetzen, die Qual des Sterbens eingegraben war. Der
Tote war einem Mord zum Opfer gefallen. In meine trostlose aufgewühlte
Verzweiflung hinein stellten sich jetzt wie Felsblöcke die Fragen: Was hat es
mit dem Tod auf sich? Bleibt er derselbe, auch wenn das Sterben ein anderes
ist? Was ist der Tod?
Ich faßte jetzt zum erstenmal den Plan, nach Japan zu
gehen, um einen Eingang in das Zen zu suchen. Aber bevor die Verbindungen, die
ich aufnahm, mir die Wege nach Japan öffneten, sollten weitere zwei Jahre
vergehen. Ich versuchte, mein inneres Gleichgewicht in einer neuen
Arbeitsgemeinschaft mit einem jüngeren, hochbegabten Arzt wiederzufinden. Der
viel Jüngere erlitt einen Herzinfarkt. In drei Tagen und Nächten kämpfte ich
mit Freunden um sein Leben. Wieder erlebte ich den Tod. Diesmal stand ich
daneben, als er kam. Er ergriff einen Erfahrenen, der wissend und bewußt seinen
Todeskampf und ohne ein Wort der Klage seine große Todesangst bestand. Er
starb, wie er gelebt hatte, ein wissenschaftlich Denkender, der bis zur letzten
Minute seine Anweisungen gab, um dem Tod überlegen zu bleiben. Jetzt griff ich
endgültig die Fäden auf, die nach Japan führten und in das Zen. Im Inneren
gleichgültig, skeptisch, sachlich, ohne jede Bereitschaft zu glauben, kam ich
zum Zen.
Wer ist, wo ist, was ist Buddha?
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Mit dieser Aufgabe stand ich vor dem Tor zum Zen. Gab es
ein Tor darin? Ich begriff, daß alles, was ich bisher über Zen gelesen hatte,
mir das Wesentliche nicht hatte erschließen können. Ich fand keinen Zugang zu der
Aufgabe, mehr noch, ich wich vor ihr zurück.
Wer ist Buddha? Hatte mir Buddha jemals mehr bedeutet als
Christus? Ich sah in Buddha wie in Christus und Mohammed die großen Führer der
Menschheit, die Wegweiser und Wegbereiter in die Menschwerdung des Menschen,
ich verehrte in ihnen den vollkommenen Ausdruck des Menschlichen, ohne aber an
ihre göttliche Sendung im Sinne einer göttlichen Inkarnation glauben zu können.
Was war gemeint mit dieser Aufgabe? Sollte ich in ihr Christus mit Buddha
ablösen? Ich war zum Zen gekommen, um Zen zu studieren. In vollem Ernst, mit
bestem Wollen, aber in der kritischen Haltung eines Prüfenden, der gewillt ist,
sowohl Inhalte und Werte der unbekannten Disziplin wie auch die eigenen Erfahrungen
einer nüchternen Prüfung zu unterziehen. Es war die Einstellung eines Europäers
zu einem neuen Wissensgebiet.
Ich gab diese Einstellung schon in der Anfangszeit meiner
Einführung in das Zen auf. Aus den ersten Erfahrungen des Übens heraus hatte
ich begriffen, daß es im Zen nur ein Entweder-Oder geben kann, einen totalen
Einsatz ohne Vorbehalte und Rückhalte. Wer sich zu diesem Einsatz nicht bereit
erklärt, übt nicht Zen, sondern macht ein psychologisches Experiment. Das aber
ist eine blasse Torheit, gemessen an Zen.
Diese Einsicht gab mir Mut. Ich wandte mich mit
ausschließlichem Bemühen meiner Aufgabe zu, alle Gedanken darüber
fallenlassend. Es gelang mir, still zu sein. Nach einiger Zeit des Übens
versank auch die Aufgabe. Plötzlich, wie wenn mich ein Blitz getroffen hätte,
stand die Frage in mir da: Wer bin ich? Ich glaubte, dieses sei die Antwort.
Noch niemals bisher war ich im Üben in diesem Bereich des Versunkenseins
angekommen, ich hatte eine Berührung gehabt mit einer Tiefe in mir, die mich
auf eine unerklärliche Weise glücklich machte. Ich bat Ueda, mit mir zum Sanzen
zu gehen. Der Meister hörte meine Antwort. Er begriff sofort, daß diese Aufgabe
meinem damaligen Zustand nicht entsprach. Er gab mir eine neue Aufgabe. Sie
lautete:
«Wie kannst du den Glockenklang, indem er läutet, zum
Stillstand bringen? Wörtlich: bis die klingende Glocke zum Stillstand gebracht
ist, nur sitzen, auf daß alles andere als der Glockenklang abstirbt.» Ueda
sagte: «Wenn du die Lösung gefunden hast, sollst du wieder zum Meister kommen.
Aber wenigstens einmal bis zum Ende dieser Übungszeit. »
Die neue Aufgabe brachte mich in einen Aufruhr, der wie
ein Taifun in mir wütete. Mein Intellekt rannte, bildlich gesprochen, mit dem
Kopf gegen die Wand der Aufgabe an, besessen, eigenmächtig und gleichermaßen
tief ohnmächtig. Ich stand in mir in einer Finsternis ohnegleichen, in der ich
hilflos umherzuirren begann. In meiner Verzweiflung fing ich an zu spekulieren.
Was ist eine Glocke? Materie. Was ist Klang? Schwingung der Materie. Kann ich
den Klang im Klingen zum Stillstand bringen, wenn ich die Materie zerschlage?
Ich geriet in eine Bedrängnis, die mich wie ein Schraubstock umklammert hielt,
ich wußte nicht mehr ein noch aus. Bis ich mich mit einer Willensanstrengung,
die mir den Schweiß aus den Poren trieb, von allen diesen intellektuellen Überlegungen
frei machte. Ich saß und horchte nur noch in mich hinein, tief erschöpft. Ich
versuchte, die Glocke in mir zu hören. Wieder spannte ich meinen Willen bis zum
äußersten an, sie wirklich zu hören. Mit allem Willen, den ich aufzubringen
vermochte, unterdrückte ich die Gedankenfetzen, die durch mein Gehirn schossen,
die Gefühle, die mich wie krächzende Raben verhöhnten, meine Empfindungen,
Unruhe, Widerstand, Aufruhr. Endlich wurde ich still. Ich glaubte, nach Stunden
harten Bemühens, den Glockenklang in mir zu hören, und dann versank auch dieses
Hören. Ich ging wieder zum Sanzen. Ueda sagte laut vor dem Meister meine
Aufgabe, ich antwortete sofort darauf: «Mein Ich hörte nicht mehr, da war die
Glocke still.»
Der Meister sagte mit großer Strenge:
«Komme nicht mit Erklärungen, bringe mir den Zustand, in
dem du nichts mehr hörst. Werde eins mit dem Glockenklang. »
Die Antwort des Meisters traf wie ein Schwerthieb genau in
die Nahtstelle. Ich fühlte mich aus einem Im-Kreis-Herumirren erlöst, aus einem
intellektuellen Kerker befreit. Die Antwort hatte mir die Tür geöffnet in die
Dimension, aus der heraus die Aufgabe gestellt worden war und in die hinein die
Aufgabe mich führen sollte. Zu beiden mußte ich mich neu zurückfinden, zum
Hören und zum Nicht-mehr-Hören.
Hatte ich jemals den Klang einer Glocke wirklich gehört?
Unmittelbar, mit der Offenheit meines Wesens? Einer Offenheit, in der es weder
Vorstellungen noch Gefühle, weder Verstand noch Wissen gab, sondern nur Realität?
Hatte ich den Klang einer Glocke so gehört, daß ich mit dem Klang eins werden
konnte? War nicht zu viel in mir davorgestellt? Konnte ich die Gewichte, an
denen ich trug, von mir abschütteln, konnte ich aus den Abstraktionen des
Verstandes herausfinden in die Offenheit des Lebens, in eine Leere, in der jede
Lebensäußerung zu einem schöpferischen Impuls wird?
Wie konnte ich diesen Weg finden? Im Sitzen und wieder
Sitzen? Ich betrat die erste Stufe auf diesem Weg. Die Glocke hören wollen, welcher
Irrtum! Sich öffnen, an nichts mehr festhalten, zur Glocke werden, mit der
Glocke eins werden?
Unsagbar zögernd dämmerte in mir ein Begreifen herauf, was
es mit diesem Einswerden auf sich hat. Die Totalität des Lebens. Eine
Totalität, die nur im Einswerden mit dem Ursprung in sich selber Wirklichkeit
werden kann. Darum gibt es für den Zen-Übenden nur eine Richtung, ein Ziel in
seinem innersten, konzentrierten Bemühen: die unbewegte Mitte, den Ursprung.
Er ist das Licht, auf das der Übende zugeht. Mag er sich
noch so tief verbergen in einer Tiefe, die unauslotbar, unergründlich und
unerreichbar sich auftut – die Gewißheit dieses Ursprungs in sich selber als
das Wesen und Wesentliche seiner Existenz und der Existenz alles Lebens zwingt
den Übenden, durch alle Zweifel und Verzweiflung hindurch an seinem harten
Bemühen festzuhalten. Sein Ich, das Bewußtsein seines eigenen Ich wird
substanzlos auf diesem Weg. Die inneren Kämpfe und Auseinandersetzungen mit dem
eigenen Ichbewußtsein, mit seiner intellektuellen Vormachtstellung im Lebensgefühl,
mit seinen Ansprüchen an das Individuum, seine Auflehnungen und Widerstände
gegen einen Einschmelzungsprozeß, werden in der Zen-Schulung von vornherein an
die Peripherie des inneren Geschehens gerückt.
In der äußersten Konzentration auf die Mitte bleiben die
Stimmen des Ichgefühls gleichermaßen ohne Resonanz, sie werden gehört und nicht
mehr gehört, ohne Bejahung und ohne Ablehnung, bis sie in sich selber
zerfallen. Sie sind die Wolken, die über den Himmel ziehen und die Sonne verdunkeln,
aber die Existenz der Sonne niemals berühren können. Wie sollte ich als
Europäerin diesen ungeheuerlichen Verzicht leisten können? Konnte ich diesen
Schritt, die Aufgabe meines Ichs, tun, ohne damit den europäischen Boden meiner
Herkunft zu verleugnen, ohne meine Wurzeln aus dem europäischen geistigen Boden
zu lösen?
War ich nicht wie jeder im Westen Beheimatete im Denken
und im Leben tief verwurzelt in dem Bewußtsein von der Einmaligkeit meiner
individuellen Existenz? War nicht mein Ich der Ausdruck dieser Einmaligkeit?
Galt nicht im Westen als höchster Ausdruck der individuellen Entwicklung die
Persönlichkeit?
Ich wußte, ich stand vor einem Kampf mit mir selber, der
an die Wurzeln meiner Existenz rührte. Würde ich ihn bestehen? Der Meister
hatte gefordert: «Bringe mir den Zustand, in dem du nichts mehr hörst. Werde
eins mit dem Glockenklang. » Ueda-san sagte mir auf meine Frage, was es mit
einem solchen Zustand auf sich habe: «Wir haben im Japanischen ein Wort: Tai-toku. Tai heißt Körper, und toku heißt
greifen und gleichzeitig das Gegriffene bereithalten im Leib.»
Die uralte Weisheit des Ostens eröffnete sich vor mir in
dieser Erklärung. Körper und Geist sind für den östlichen Menschen eine
konkrete Einheit. Im Osten ist der Mensch in seiner Gestalt, wie alles
Geschaffene, eine Einheit von Materie und Geist-Bewußtsein. Das eine ist
untrennbar vom andern. In Materie und Geist als Einheit manifestiert sich das
Leben schlechthin. Eine Trennung in Körper und Geist ist für den Osten eine
Abstraktion des Verstandes.
Zum erstenmal, seit ich Zen übte, geriet ich jetzt in eine
Auseinandersetzung mit der christlichen Weltanschauung. Nach der christlichen
Lehre ist der Mensch von Geburt an hineingestellt in den Kampf zwischen Gut und
Böse, in den Gegensatz des Tierhaft-Triebhaften seines Fleisches und der
höheren Vernunft seines Menschentums. Einen Gegensatz, den Paulus so ausdrückt:
«Das Gute, das ich tun will, das tue ich nicht, aber das Böse, das ich nicht
tun will, das tue ich.»
Aus diesem steten Kampf erwächst das Schuldgefühl des
Christen, seine Entzweiung mit dem Leben, seine Verstrickung in Schuld und
Sühne. Auch ich fühlte mich darin gebunden. Über den Koan brachen die ersten
Strahlen eines übergöttlichen Weltgedankens in mich ein, in die Welt der Gegensätze
in mir, in den Kampf um Gut und Böse.
Der Gedanke einer Einheit von Materie und Geist, zum
erstenmal aus dem Raum des abstrakten Denkens hineingenommen in den
Erfahrungsbereich meiner inneren Welt, tat sich mit ungeheurer Weite vor mir
auf. Die Welt des persönlichen Gottes, des Vater-Kind-Begriffes im christlichen
Glauben, brach jetzt endgültig in mir zusammen. Ich stand vor dem Nichts – und
ich fürchtete mich sehr.
Fragen kamen und blieben ohne Antwort:
Wenn der Mensch unverletzbar bleibt in seinem Ursprung,
was ist dann Sünde? Was ist Schuld? Wie können wir richten, über Gut und Böse
entscheiden? Was berechtigt uns, ethische Forderungen aufzustellen? Warum leben
wir, wenn dieses Leben über nichts entscheidet, wenn wir sind, wie wir sind,
und aus diesem Leben wieder hinausgehen, wie wir sind?
Ich legte diese Fragen still auf das Wandbrett und übte
Sitzen.
Eine Periode kam, in der ich michjeden Intellekts beraubt
fühlte, in der ich jede Fähigkeit zu denken verloren hatte.
aus Lies Groening, Die lautlose Stimme der einen Hand,
Zen-Erfahrungen in einem japanischen Kloster