Sonntag, 6. April 2008

Zur Soziologie der Psychoanalyse

I

In vielen Kulturen werden die menschlichen Leiden mit dem Mittel von Wort und Gebärde zu heilen versucht, denn der andere wird zunächst als einer verstanden, der in den heilen Zustand gerufen werden muß. Unsere Kultur hingegen hat eine Medizin entwickelt, die versucht, die Leidenserscheinungen auf eine Grundstörung im Körper zurückzuführen und von dieser her ein kausales ärztliches Handeln zu entwickeln.
Für diese Medizin bedeuten Leidenszustände, die zwar eine mehr oder weniger umschriebene Symptomatik, aber keine eindeutige kausale Zuordnung zu einem Grundleiden zeigen, ein Ärgernis. Solche Leiden, die wir heute Neurosen nennen, hat es immer gegeben; aber ihre Bedeutung hat zugenommen. Nicht in erster Linie deshalb weil sie häufiger wurden, sondern weil in ihnen Probleme ausgetragen werden, die den Menschen der Gegenwart in besonderer Weise angehen.
Die Psychoanalyse ist die bisher radikalste Antwort auf das Problem, das der Medizin und überdies der Menschenkunde überhaupt durch solche Kranke gestellt wird. – SIGMUND FREUD hat diese Aufgabe praktisch und theoretisch in einer Weise in Angriff genommen und zu lösen versucht, die ihn zum Klassiker aller Bemühungen um das ärztliche Verständnis des leidenden Menschen macht.


II

Als FREUD sich mit den Krankheitsproblemen zu befassen begann, die die Psychoanalyse klären sollte, war das ärztliche Interesse bereits der ‹hysterischen› Symptomatik zugewandt. Das Wort Hysterie, das von Hystéra, die Gebärmutter, kommt, weist auf eine klassische, bereits bei den Griechen bezeugte Ätiologie hin. Diese stellt uns vor zwei Überlegungen: Erstens läßt sie den Schluß zu, daß die hysterischen Erscheinungen überwiegend bei Frauen auftraten und zweitens legt die Lokalisation die Vermutung nahe, daß genitale bzw. geschlechtliche Probleme in den Krankheitserscheinungen zum Ausdruck kommen.
Es blieb dem jungen technischen Zeitalter vorbehalten zu entdecken, daß die hysterische Neurose nicht an das weibliche Geschlecht gebunden ist, sondern daß jeder Mensch unter bestimmten Umständen eine Hysterie entwickeln kann. CHARCOT, bei dem FREUD seine ersten Beobachtungen vertiefte, wies hysterische Erscheinungen bei Männern nach. CHARCOT war Leiter der Nervenabteilung der ‹Salpétrière› in Paris. Er hatte es mit Patienten zu tun, die der Schicht depossedierter Bauern und Kleinhandwerker angehörten, die in ihrer Not in die Großstadt fluteten, wo die schnell sich entwickelnde, aber darum auch krisenanfällige junge Industrie neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnete. Ohne Arbeitergesetz war dieses Proletariat schutzlos. Die Arbeitslöhne erlaubten kaum die Notdurft zu decken. Arbeitslosigkeit bedeutete Hunger und Not. Man war unternehmenden Erfolgsbürgern ausgeliefert, deren Anliegen Kapitalansammlung und industrielle Investition war und denen die Arbeitskraft der Massen lediglich als möglichst billig zu erwerbende Ware galt.
Ein patriarchalisch-autoritatives Verhältnis von Herr und Knecht, in dem Meister und Untergebener sich für einander verantwortlich fühlen, ist nur solange möglich, als beide Teile, wie in der ständischen Gesellschaft, Gruppen angehören, die überlieferungsgemäß in einem Dienst- und Gehorsamsverhältnis stehen. Sobald es sich um ‹Hergelaufene› handelt, wird aus dem Gesinde ein Gesindel, für das keine Verantwortung empfunden wird. Dadurch wird Dienst zur Sklaverei. In dieser unmenschlichen Begegnung mit den Arbeitgebern und angesichts einer entfremdeten Arbeit stehen nur zwei Auswege zur Verfügung: die Flucht nach vorwärts auf die Barrikaden und die Flucht nach rückwärts in die Neurose.
Diese ist der Rückzug auf ein Verhalten, das das Mitleid – auch das Selbstmitleid – erregt, das der Gesunde nicht hervorruft.
Die Krankenfürsorge war denn auch den im Staate Maßgebenden ein wichtiges Anliegen. Sie wurde der Geistlichkeit streitig gemacht und im Zeichen materieller Sachlichkeit säkularisiert. Im Rahmen dieser neuen staatlichen Aufgabe hatte auch CHARCOT seine maßgebende Stellung an der ‹Salpétrière› übernommen, einem der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung stehenden Volksspital. Seine Abteilung nahm die vielen auf, die angesichts der gnadenlosen Lebensverhältnisse erkrankt waren. Dazu gehörten überwiegend Frauen, aber auch nicht wenige Männer, die, von kleinen Arbeitsunfällen erschreckt und demoralisiert, an sogenannten ‹traumatischen Hysterien› erkrankten. Als Kranke erwarben sie vor sich und andern das Anrecht auf die neuen Fürsorgeeinrichtungen, die das materialistisch-säkularisierte Mitleid geschaffen hatte. Die Krankheit machte aus den unbewegten Machthabern des Staates bewegte Fürsorger.
Aber in der Geborgenheit der Dämmerzustände – dem ‹zweiten Bewußtsein› FREUDS – bricht nun nicht nur die angstvoll unterdrückte Aggression durch, sondern viele, besonders weibliche Patienten, zeigen ein kindliches und zugleich sexuelles Gebaren. Diese Opfer der säkularisierten Arbeitswelt, wo die im Herstellen aufeinander Angewiesenen menschlich geschieden sind, befriedigen so den Drang nach elementarem Geborgen- und Verbundensein in ihren ‹krankhaften› Erscheinungen. Später wird FREUD sagen, daß dem Todestrieb, der Zusammengehöriges zu trennen strebt, Eros entgegenarbeitet, der Getrenntes verbinden und damit Leben zeugen will. In diesem Sinne können wir die Hysterie einen Heilungsversuch nennen: Die Phantasie erzeugt, was in der Realität mangelt.


III

In Wien hatte es FREUD nicht mehr mit proletarischen Patienten zu tun; seine Klientel gehörte vielmehr dem fortschrittlich-aufklärerischen Bürgertum an, wie FREUD selbst. Die hier auftretenden ‹Neurosen› waren Antworten auf gewisse Unstimmigkeiten in den Familienbeziehungen.
Der erfolgreiche Bürger der Jahrhundertwende nennt sich selbst einen ‹gemachten Mann›. Er beruft sich nicht mehr auf Herkommen und Stand, sondern auf das, was er durch seine Willkür, seinen Fleiß und seine Vorsicht sich zu eigen gemacht hat, auf Besitz und Macht. In diesem aufgeklärten Bürgertum ist die väterliche Autorität zwar selbstherrlich, aber unsicher geworden. Denn die patriarchalisch-autoritäre Familie ist säkularisiert. Das heißt, daß die Familienstruktur formal noch patriarchalisch autoritär ist; aber wesensmäßig ist sie nicht mehr an der ständischen Tradition orientiert, die nur noch als Konvention den äußeren Verkehr regelt; nun wird die familiäre Struktur von den Stellungen bestimmt, die sich die einzelnen Familienmitglieder mit den ihnen zu Gebote stehenden Machtmitteln anmaßen.
Die Väter verfügen zwar überlieferungsgemäß über ihre Angehörigen, aber ihr Verhalten als Autoritäten kann nur widersprüchlich und unsicher sein. Wie sich ihr Selbstgefühl auf den Besitz stützt, so können sie auch nur lieben, was sie zu eigen haben und manipulieren können; sie anerkennen keine Instanz, die ihnen ein ‹richtiges› Verhalten zumessen würde, es sei denn ihren eigenen auf allen andern Gebieten so erfolgreichen ‹gesunden Menschenverstand›.
Damit schlägt aber die väterliche Macht in Gewalt um und die ‹Rollenharmonie› zwischen den einzelnen Familienangehörigen, in erster Linie die zwischen Vater und Sohn, hört auf [1]: Der ‹Kampf der Geschlechter› und der ‹Generationenkonflikt› beginnen wichtig zu werden. Eine ihrer Folgeerscheinungen sind die Neurosen.
Sie treten auf, wenn die kämpferische Auseinandersetzung mit den Autoritäten nicht geleistet werden kann, und zeigen sich in Krankheitserscheinungen, die aggressive, vor allem aber sexuelle Themen zum Ausdruck bringen. Tun und Lassen sind durch ein früh errichtetes ängstendes Gewissen mit seinen Ge- und Verboten geregelt. Der Kranke ist in diesem ‹von selbst› funktionierenden Verhalten gebunden und gefangen. Seine hergebrachte Selbigkeit gibt ihm zwar jene Sicherheit, die DAVID RIESMAN [2] als diejenige des ‹innengeleiteten› Menschen bezeichnet; aber dieser an die frühkindlichen Autoritäten gebundene Mensch ist gleichzeitig gegenüber der spontanen menschlichen Nähe isoliert. Gerade daß die intime Verbundenheit, in der die Hingabe und das Sich-Schenken möglich wären, dem Innengeleiteten erschwert ist, führt oft dazu, daß Eros, der Getrenntes zusammenfügt und Leben in intimer partnerischer Verbundenheit zu zeugen strebt, in den Mittelpunkt der Problematik der Neurosen rückt, welche auf diesem sozialen Hintergrund entstehen.
Im Ernstnehmen der sich zusprechenden Phantasien und Träume und in der Absage an jedes verwerfende Urteil kündigt sich – das hat FREUD entdeckt - das Heraufkommen eines neuen moralischen Prinzips an, das dasjenige des überlieferungsgebundenen Gehorsams, der das sacrificium intellectus fordert, ablösen will. Es ist das Prinzip der persönlich zu übernehmenden existentiellen Verantwortung. Die Psychoanalyse stand und steht im Dienste seiner Verwirklichung. Dies ist näher auszuführen.


IV

FREUD entdeckte, daß Krankheitserscheinungen verschwinden konnten, wenn Erlebnisse, die aus dem Gedächtnis ausgelöscht, ‹verdrängt› waren, wieder erinnert wurden. Die Symptome standen also ersichtlich mit jenen erlebten Ereignissen in einem Bedeutungszusammenhang. Aber dieser Zusammenhang begründete keineswegs die ganze lebensgeschichtliche und aktuelle Vielgestalt des Krankheitsbildes. Diese konnte nur durch eine Disposition erklärt werden, die auf unerledigte Auseinandersetzungen mit den erzieherischen Autoritäten hinwies: eine Disposition, die die Verdrängungswiderstände aufrechterhielt. An diesen Widerständen, die sich im Patienten dem psychoanalytischen Vorgehen entgegenstellten, wurde klar, daß das psychoanalytische Verfahren größere Probleme zur Darstellung zu bringen hatte als die Aufdeckung des Kausalnexus zwischen einem Symptom und einer ‹psychischen Ursache›.
Jetzt trat das Interesse der Psychoanalyse am ‹Verdrängenden›, gegenüber dem am Verdrängten, in den Vordergrund; damit stellte sich aber auch die Frage nach dem Verhalten der Autoritäten der frühen Kindheit, die den besonderen Verhaltensstil zu entwickeln halfen, welcher unter gewissen Umständen zu neurotischen Erkrankungen führte.
Tatsächlich lag die Abwehr gegen eine hinnehmende Empfänglichkeit gegenüber den sich in Einfällen und Träumen zusprechenden Erinnerungen, Gedanken und Phantasien in der habituellen und damit zur ‹zweiten Natur› gewordenen Existenzweise; sie war das, was FREUD einen ‹Charakterwiderstand› nennt.
Was sich so in der Psychoanalyse als ‹Charakterwiderstand› manifestierte, war also nichts anderes als die sich durchhaltende, abwehrende und verdrängende ‹Disposition› des ‹Innengeleiteten›, zu der die traditionsgläubigen Erzieher den Kindern schon immer verholfen hatten, die aber in der Epoche der säkularisierten Institutionen unproduktiv zu werden drohte.
Jetzt wird die Psychoanalyse zur Charakteranalyse [3] und bemüht sich, die Entstehung der sogenannten ‹Ichstrukturen› und die Bedingungen für ihr Durchhalten zu studieren. Wer zu Neurosen disponiert ist, zeichnet sich dadurch aus, das er sich ängstlich und schuldbewußt der Begegnung mit gewissen Gedanken und Intentionen verschließt, und dieses nur zum geringen Teil absichtlich, zum großen Teil insofern unabsichtlich, als ihm die Vermeidung geschieht, zustößt, derart, daß sie der ‹natürlich› gewordenen Haltung gar nicht anders als gelingen kann.
Das Kind entwickelt also eine Gehorsamshaltung als eine ‹Verinnerlichung› der Verleugnung verpönter Regungen, die sich zeitlebens durchhält.
Die Aufgabe, die sich infolge dieser Tatsachen der Psychoanalyse stellte, bestand darin, diese Gehorsamshaltung auf Grund der spontan sich äußernden Gedanken und Affekte einer Prüfung zu unterziehen. Sie entdeckte dann, daß jene Art der Erziehung lediglich das offensichtliche Handeln zu regeln versucht, indem sie einen verinnerlichten ‹schuldigen Gehorsam› errichtet, der der Einsicht und Verantwortung nicht bedarf, um zu funktionieren. Zur Haltung erstarrt, entscheidet die mit ihm verbundene Schuld-Angststimmung vielmehr unabhängig über Verbotenes und Erlaubtes. Der derart ‹gehorsame› Charakter ist damit auf die Gedanken und Verhaltensweisen eingeschränkt, die vor der elterlichen Autorität einmal ‹gut› waren, und im Vermeiden der ‹schlechten› hält er sein Gewissen im Gleichgewicht. So wird der Erwachsene daran gehindert, seine Impulse ‹realitätsgerecht› zu verarbeiten und mit ihnen, statt gegen sie zu leben.
Die Psychoanalyse stellt im Vorsatz vorbehaltloser Offenheit diese Art der auf Abwehr eingestellten Haltung in Frage. Gelingt es, den Patienten zu veranlassen, was sich ihm zuspricht, ohne Abscheu und Vorurteil zu vernehmen und als zu ihm gehörig, ihn mit ausmachend, anzuerkennen, so ist das Ergebnis eine Wandlung der Charakterstruktur: Der Patient trifft – um mit KIERKEGAARD [4] zu sprechen eine Wahl seiner selbst, indem er sich als den wählt, der er ist, und damit seine bisherige, wirklichkeitsverschlossene Gehorsamshaltung durch eine Haltung ersetzt, in der er sich als der, der er ist – nicht als der, der er ‹sein sollte› – in seine Verantwortung übernimmt. Damit ist das Prinzip des Gehorsams nicht überwunden. In der Sprache der Psychoanalyse könnte man sagen: Statt des Gehorsams gegenüber dem am Ich-Ideal erworbenen Über-Ich geht es nun um den Gehorsam gegenüber der ‹Realität›.
Die Psychoanalyse als Charakteranalyse verwandelt also die blinde Gehorsamshaltung des aus der säkularisierten patriarchalischen Familie Hervorgegangenen in eine selbstverantwortliche Haltung. Man könnte hier dem Satz von FREUD, das Realitätsprinzip sei ein modifiziertes Lustprinzip, den Satz zur Seite stellen, das Verantwortungsprinzip sei ein modifiziertes Gehorsamsprinzip.


V

Die Zeit des säkularisierten Paternalismus mit seiner Gehorsamshaltung geht zu Ende. Der ‹innengeleitete› Mensch ist im Begriff vom ‹außengeleiteten› abgelöst zu werden [5]. Wir befinden uns in einer Epoche der Auflösung der Familienbindungen überhaupt. Gewiß bestehen nach wie vor familiäre Intimbeziehungen, aber sie bestimmen weder das intime Verhältnis zu sich selbst noch den Stil des Verhaltens überhaupt. Die familiäre Prägung, die aus jedermann einen ‹Angehörigen› machte, ist unverbindlich geworden. Jetzt bedarf das Selbstgefühl einer neuen Grundlage. Die Selbstidentität ist nämlich in einer ganz andern Weise ungewiß als bei der Generation, mit deren Problemen FREUD vertraut war. Der in der autoritären Familie Geprägte litt an einer zu starren, unangepaßten Haltung, die im intimen Bereich isolierte und darum kompensatorisch unangepaßte bzw. ‹unpassende› sexuelle Wünsche hervorrief. Aber wer in seiner Kindheit eine verweisende, aber auch bestimmende Autorität überhaupt nicht kannte, worauf ist er dann verwiesen? – Wir können antworten: auf seine Möglichkeiten. Tatsächlich sind heute die Erzieher angesichts der sich stetig wandelnden Welt ihrer selbst so wenig gewiß, daß sie den Kindern jene Selbstsicherheit nicht vorzuleben imstande sind, die diesen verbindliche Maße und Werte mitgeben könnte. Die Kinder werden heute von ihren so verständnisvollen und psychologisch geschulten Lehrern in Schule und Haus keineswegs mehr auf eine vorgefaßte ideale Wirklichkeit ausgerichtet, sondern man entwickelt die Möglichkeiten des Kindes durch die Schulung. Die persönliche Autorität hat sich, ihrer selbst unsicher geworden, hinter die Autorität des Wissens- und Lernstoffs zurückgezogen.
Ein so Erzogener hat es schwer, ein durchhaltendes Selbstgefühl zu entwickeln. Er läßt sich seine Rollen vom jeweiligen Milieu zuteilen; aber wer ist er selbst? Der Mangel einer bewährten ‹Selbstidentität› verunmöglicht ihm einen sicheren Stand und eine eindeutige Haltung; er befindet sich darum stets in der Gefahr, sich in Rollen zu verlieren, die ihm die Umgebung anbietet. Daher seine große Anfälligkeit für Indoktrination. ERIKSON [6] spricht in diesem Zusammenhang von der Gefahr der ‹Rollendiffusion›.
Das Fehlen verbindlichen An- und Zugehörens und die damit verbundene Angst vor dem Verlorengehen oder, besser gesagt, vor dem Nicht-Sein, der Vernichtung, dem anéantissement, ist heute zu einem Massenproblem geworden.
Der nächstliegende, aber von vornherein zum Mißglücken verurteilte Versuch, diesem Vernichtungsgefühl zu entgehen, ist der Griff nach der Sensation. Hier spielen nun geschlechtliches Begehren und Aggression eine andere Rolle als dort, wo sie gehorsam gemieden und verdrängt waren, so daß sie sich nur indirekt als Krankheitserscheinungen melden konnten. Die aggressive Hordengemeinschaft wie die Liebespartnerschaft werden durchaus und ohne Schuld- oder Schamgefühl gesucht. Sie sind letzte Möglichkeiten, sich als zugehörig zu empfinden. Auf anderem Wege ist den derart Weltverlorenen und Heimatlosen nicht mehr möglich, sich zu sich selbst zu sammeln und als ‹jemand› zu spüren.
Aber wenn mit dem Mißglücken die Ernüchterung eingetreten ist, wird die Nichtigkeit solcher Existenz mit vermehrter Schärfe offenbar. Unverständliche und Angst einflößende Krankheitseinbrüche können auftreten. Aber die Angst sammelt den überallhin Zerstreuten und Verlorenen in die Abwehr. Und diese Möglichkeit der Versammlung in die Einheit eines die Zukunft bewahrenden Tuns darf als ein Zeichen genommen werden, daß der Betreffende vielleicht imstande sein wird, doch noch oder wieder zu einer sich durchhaltenden Selbstidentität zu gelangen. Damit steht die Psvchoanalyse der Gegenwart vor einer neuen Aufgabe, die aber im Grunde von jeher ihre eigentliche war: was sich uns im analytischen Dialog zuspricht, soll nämlich ein Gefüge erschließen, das uns unser Maß erfahren lassen könnte.


Literaturverweise:
[1] PETER R. HOFSTÄTTER, Einführung in die Sozialpsychologie. Stuttgart – Wien 1954
[2] DAVID RIESMANN, Die einsame Masse, rde Bd. 72/73
[3] WILHELM REICH, Charakteranalyse. Wien 1933
[4] SÖREN KIERKEGAARD, Entweder/Oder II, 1. Diederichsausg., S. 215 u. 222
[5] DAVID RIESMANN, 1. c
[6] E. H. ERIKSON, Kindheit und Gesellschaft. Zürich u. Stuttgart 1957


aus: Gustav Bally, Einführung in die Psychoanalyse Sigmund Freuds, Rowohlt Taschenbuch Verlag 1961 S. 284ff.

Der Text ist weder einfach zu lesen noch einfach zu verstehen, aber er lohnt die Lektüre trotzdem, da er sowohl den Protest 68er Bewegung psychologisch vorwegnimmt als auch die angeblich durch diese entstandenen Erziehungsprobleme in einen größeren Zusammenhang stellt. In Bezug auf die Erwerbssituation wie auch die Stellung der Väter in der Erziehung ist der fast 50 Jahre alte Text auch noch heute aktuell.