Meine Anfänge
in Soji-ji
Diese Geschichte nahm schließlich eine völlig unerwartete
Wendung. Ich kochte vor Ungeduld und mußte den Meister so schnell wie möglich
wiedersehen. Endlich kam der sehnlichst erwartete Sonntag. Ich ging sehr früh
los und begab mich direkt in seinen Raum. Diesmal war er umgeben von einer
Gruppe von Mönchen und Laienschülern.
„Ah, da bist du ja!” Er stellte mich lächelnd der Versammlung
vor: „Er ist ein Schüler, der aus Saga kommt. Während eines Sesshins in
Enkaku-ji, hat er einen Junko durchgeprügelt. Ich bitte euch also, ihn mit
Vorsicht zu behandeln.” Er sprach über mich, wie wenn ich ein gefährlicher
Bursche gewesen wäre. Dann ließ er mich mit einem gewissen Abe Yutaka
Bekanntschaft schließen, der sehr schlau aussah. Zweifellos dachte er, daß
unsere Charaktere zueinander passen würden. Er irrte sich nicht.
Abe Yutaka wurde später einer meiner intimsten Freunde;
nach seinem Tode kümmerte ich mich um seine Kinder. Ich beobachtete mit Neugier
die Art und Weise, wie Meister Sawaki die Achtung seiner Umwelt gewann, ohne je
aufzuhören zu lachen und sich für jedermanns Wohlergehen zu sorgen. Abe
scherzte ununterbrochen. Aber jemand anders, ein gewisser Saito, stellte
endlich eine ernste Frage: „Ist die Seele unsterblich oder nicht?”
„Was die Seele[1]
ausmacht, kann man nicht in Worte fassen, der Geist aber, der jedem Menschen
innewohnt, kann verschiedene Aspekte annehmen. Der Urbuddhismus brauchte
übrigens kein solches Konzept für Seele wie der Begriff „Reikon” es andeutet”,
antwortete er mit Ernst.
Die Zeit für das Zazen war gekommen – alle standen auf,
nur ich blieb sitzen.
Meister Sawaki wandte sich mir zu: „Vielleicht magst du
Khakis essen und mein Notizbüchlein durchblättern?”
„Nein, nein Meister, heute will ich um jeden Preis Zazen
üben.”
„Na, worauf wartest du dann noch, um ihnen zu folgen? Schau
ihnen zu und ahme sie in allem nach! Auch wenn dir die Beine weh tun, bleibe
deiner Haltung gewahr – sie muß aufrecht bleiben.”
„Einverstanden, ich gehe sofort mit”, antwortete ich ungeduldig,
die anderen einzuholen. Abe kam neben mich und erklärte mir liebevoll allerlei
Dinge, als wir durch den Gang gingen. Wir gelangten in die große Halle, wo die
Meditationen stattfanden. Jeder legte die Hände zu einem Gassho[2]
zusammen und neigte den Kopf vor dem rangältesten Mönch, dann setzten wir uns
auf die linke Seite der Halle. Nun kam Meister Sawaki herein, verneigte sich
mit gefalteten Händen vor dem rangältesten Mönch, zündete Weihrauch an, vor dem
er drei Verbeugungen machte, und begann, im Saal herumzugehen, um die
Sitzhaltungen zu prüfen. Schließlich setzte er sich und läutete dreimal die
Glokke, um anzukündigen, daß das Zazen begonnen hatte.
Die Atmosphäre war hier vollkommen verschieden von der in
Enkaku-ji. Sicher war die Stille voller Spannung und beeindruckend, aber sie
war auch beruhigend. Sie wurde nicht durch das ununterbrochene und irritierende
Hämmern der Kyosakuschläge gestört. Nach dreißig Minuten erklang das Kusen[3]
das vom Meister gesprochene” Wort” durch die ganze Halle. Wie eine in das
stille Wasser eines Teiches geworfene Münze, weckte diese Stimme mein
Bewußtsein in konzentrischen Kreisen. Die Biegsamkeit seiner Stimme, die aus
der Tiefe der Brust heraufklang, verlieh der Satzmelodie eine besondere
Intensität:
„Zazen heißt: mit sich selbst in aller Intimität umzugehen.
Es befähigt, mitten im Universum allein zu sein, sich
selbst zu erkennen und sich vollkommen auf sich selbst einzulassen.
Im Zazen hofft man nicht, irgendetwas zu erreichen, man
ist absolut mushotoku.[4]
Man strebt weder nach Satori, noch schiebt man seine Zweifel beiseite; man
bemüht sich auch nicht darum, störende Gedanken wegzujagen, denn – nichts ist
von Bedeutung.
Zazen besteht nicht darin, Gedanken im Kopf zu wälzen!
Es ist eine Disziplin, in die der ganze Körper einbezogen
ist. Mit allen Sinnen und nicht mit dem Intellekt soll man Buddhas Weg wahrnehmen.
Diese körperliche Disziplin ist in sich selbst Satori.[5]
Die Zazen Haltung genügt, Satori zu erlangen.
Während des Zazen begegnet jeder dem Universum und
erreicht in der Kontemplation den Punkt, an dem es mit einem Blick erfaßt wird.
Während Dutzenden von Jahren Zazen zu üben, ohne dessen
Essenz zu verstehen, ist ein wertloses Unterfangen, das in keiner Beziehung zu
Buddhas Weg steht.
Schales Bier ist ungenießbar. Das gilt auch für die Zazen
Haltung. Sie ist nicht weich, sondern erhaben und eindrücklich; sie gleicht
nicht der von Papiertigern, deren Köpfe in allen Richtungen wackeln.”
Ich hatte den Eindruck, daß seine Bemerkungen mir galten,
also berichtigte ich meine Haltung so gut ich konnte. Meine gekreuzten Beine
ließen mich ein Martyrium durchmachen. Zum Glück läutete die Glocke. Es war das
Ende der Meditation. Ich beeilte mich, hinauszukommen. Ich hatte keinen
einzigen Schlag mit dem Kyosaku bekommen. Vielleicht schonte der Meister
Neuankömmlinge. So war ich also ein bißchen enttäuscht, denn ich hätte von ihm
alles in Kauf genommen.
Wir begaben uns dann in einen Hörsaal, in dem der Meister
einen Vortrag über das Shodoka hielt. Die Worte flossen ganz natürlich aus
seinem Mund, er mußte nicht einmal nach ihnen suchen. Die unerwartetsten Stoffe
inspirierten ihn. Die vollkommene Leichtigkeit, mit der er vortrug, verblüffte
mich.
„Lernt aus der Geschichte, indem ihr über sie hinausgehend
auf das Wesentliche zielt. Weder besitzt ein Mensch Größe, weil er eine hohe
Stellung hat, noch Weisheit, weil er viel Geld verdient. Oft besitzt ein
bescheidener und unscheinbarer Mensch mehr Weisheit, als ein Direktor einer
großen Firma oder ein Ministerpräsident.
Weder guter Ruf noch Geld bestimmen den wirklichen Wert
eines Menschen.
,Warum glauben Sie?’ frage ich die Leute gewöhnlich.
Meistens antwortet man mir: ,Weil ich es vermeiden möchte,
in die Hölle zu kommen.’ – ,Aber woher wissen Sie, daß man es im Himmel besser
hat als in der Hölle?’ An diesem Punkt weiß mein Gegenüber meistens nicht mehr,
was es antworten soll. ‚Alles in allem ist die Hölle sehr entspannt’, sage ich,
,dort können Sie mit Ihren Brüdern, den Teufeln anstoßen!’“ Dies brachte mir zu
Bewußtsein, daß ich am vorigen Sonntag auch einer von diesen Teufelsbrüdern
gewesen war, mit dem Sawaki angestoßen hatte.
„Dämonen und Engel haben dieselbe Herkunft, ebenso Bäume,
Blumen, Flüsse und Berge. Das Heilige hat kein begrenztes Ich, aber es fehlt
ihm trotzdem nicht an Persönlichkeit. Himmel und Erde sind eins und unendlich,
niemand existiert außerhalb seiner selbst, und das Ich existiert nicht ohne die
anderen. In unserer Zeit ziehen die Menschen das Geld der Religion vor. Es ist
unmöglich, ihre Einstellung zu ändern. Worin ihre Bemühungen auch immer
bestehen, es genügt, daß sie nach Gewinn oder einem persönlichen Vorteil
trachten, um unweigerlich den Sturz in die Hölle zu machen.
Die Haltung eines Menschen, der versehentlich in einen
Fluß fällt und mit aller Kraft zappelt, um darin nicht zu ertrinken, ist ganz
verschieden von der eines Menschen, der in den Fluß springt, um ihn zu retten.
Dasselbe gilt für die Hölle. Derjenige, der aus Unachtsamkeit hineinfällt, und
derjenige, der ihn daraus herausrettet, sind in ihrer inneren Ausrichtung
völlig entgegengesetzt. Dies lehrt der Weg des Bodhisattva[6]
im Mahayana Buddhismus. Es gibt kein vorteilhafteres Betragen, als sich in
Selbstvergessenheit den anderen restlos hinzugeben.
Bis jetzt habe ich Berühmtheit gemieden. Denn was ist Erfolg?
Geld brauche ich nicht, mein Leben übrigens auch nicht! Trotzdem habe ich
leidenschaftlich gekämpft. Ich habe es abgelehnt, aus meinem Leben ein rein
intellektuelles Abenteuer zu machen. In der Anstrengung habe ich mein Maß
gefunden. Ich habe Lob genau so wie Eifersucht gemieden. Ich weiß nicht, was
Eifersucht ist.
Bevor er von einem Tiger zerfleischt wurde, sprach Prinz
Satta folgende Worte:
,Jede Tat ist vergänglich. Jedes Lebewesen ist unausweichlich
zum Verschwinden verdammt. Wir entrinnen diesem Gesetz nicht. Die Einsamkeit
des Todes soll unsere Freude werden.’
Diese Worte mögen für eure Ohren seltsam klingen, aber sie
bestätigen die Leidenschaft, mit der Satta nach Wahrheit suchte. Sein Streben
war für ihn so dringend, daß ihm wenig an seinem Leben lag.
Der Prinz Fuse Daishi, einer von Buddhas Schülern, verließ
eines Tages seine Frau und seine Söhne, gab seine Stellung und sein ganzes
Vermögen auf und zog sich in die Berge zurück. Das alles wegen eines einzigen
Zieles – ganz einfach, um zu entdecken, was er in der Tiefe seiner selbst war,
denn er hatte sich bis dahin nie wirklich gekannt.”
aus Taisen Deshimaru, Autobiographie eines Zen-Mönchs, Theseus Verlag München, 2. Aufl. 1990, S. 106ff.
[1] Seele,
im Japanischen besteht dieses Wort aus zwei Schriftzeichen: REI für Seele, und
KON für Geist. Daher die Antwort von Meister Sawaki.
[2] Gassho,
Geste des Grüßens, die darin besteht, daß man die Hände senkrecht vor der Brust
zusammenlegt. Diese Geste kann als Symbol der Einheit von Existenz und Geist
gedeutet werden.
[3] Kusen,
kleine Predigt, die während des Zazen gehalten wird und die die mündliche
Unterweisung durch den Meister beinhaltet.
[4] Mushotoku:
absichtslos und ohne Streben nach Verdienst.
[5] Satori:
Erwachen.
[6] Weg
des Bodhisattva oder Bosatsu Do, Doktrin, die lehrt, daß die persönliche
Vollkommnung von universellem Mitleid begleitet werden muß.
siehe auch:
- Kodo Sawaki: Zen ist die grösste Lüge aller Zeiten (Post, 08.03.2005)
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siehe auch:
- Kodo Sawaki: Zen ist die grösste Lüge aller Zeiten (Post, 08.03.2005)
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