Stufen der Abwertung („Passives Denken”)
Lehrer: ,,Ich bin
empört, daß ihr Karl gestern so brutal geschlagen habt.
Ich erwarte, daß ihr
zu ihm geht und das wieder in Ordnung bringt!”
Schüler: „Worüber
regen Sie sich eigentlich auf? Da war doch gar nichts los!”
Schüler: „Der soll
sich bloß nicht so anstellen. Die paar Knuffe können doch gar nicht weh getan
haben!”
Schüler: „Der blöde
Schnacker hält doch nie seine Klappe, wenn er nicht ab und zu was drauf kriegt!”
Schüler: „Ja, wenn
der sein Maul aufreißt, kann ich nicht anders, als ihm eine zu verpassen!”
Beispiele wie dieses erleben wir häufig in ganz
alltäglichen Gesprächen:
Jemand spricht ein Problem an, und zwar eines, das
wirklich existiert. Die anderen sehen das Problem nicht oder bewerten es
anders. Kennzeichnend sind Äußerungen wie: „Ich weiß gar nicht, wovon du
redest!”, oder: „Nun machen Sie mal nicht gleich aus einer Mücke einen
Elefanten”, oder: „Sie haben ja vielleicht recht, aber da kann man nichts
machen, ich habe schon alles versucht.” Bleibt es dabei, reden die Beteiligten
aneinander vorbei, da sie von unterschiedlichen Ebenen des Problembewußtseins
ausgehen. In unserem Beispiel werden durch die verschiedenen Reaktionen vier
Stufen erkennbar, denen jeweils eine Leugnung bzw. Abwertung von bestimmten
Aspekten der Realität entspricht:
Stufe 1: Der
Schüler bestreitet, daß überhaupt ein
Problem existiert.
Die typische Äußerung auf dieser Stufe: Ich weiß nicht was
du hast da war (ist) doch nichts!
Stufe 2: Der
Schüler spielt die Bedeutung des
Problems herunter.
Typische Äußerung: Das macht doch nichts, das spielt doch
weiter keine Rolle!
Stufe 3: Der
Schüler behauptet, das Problem sei nicht
vermeidbar bzw. nicht anders lösbar. Typische Äußerung: Da kann man nichts
(anderes) machen!
Stufe 4: Der
Schüler sieht keine Möglichkeit, sich
persönlich anders zu verhalten, um das Problem zu lösen bzw. zu vermeiden.
Typische Äußerung in diesem Fall: Ich kann das nicht (anders).
Allen diesen Reaktionen liegt eine Leugnung bzw. Abwertung
von Aspekten der Realität zugrunde. Wir sprechen hierbei von passivem Denken.
Es ist der Nährboden für einen unproduktiven Umgang mit Problemen, also für
passives Verhalten, und zugleich eine Quelle für Blockierungen und
Mißberständnissen in der Komunikation. Passives Denken zeigt sich in
Strategien, die uns aus alltäglichen Gesprächssituationen vertraut sind:
übersehen, vergessen, vermeiden, nicht wichtig nehmen, herunterspielen,
bagatellisieren, bestreiten, leugnen usw.
Wenn wir das Gefühl haben, aneinander vorbeizureden, liegt
es oft dar an, daß unser Gegenüber sich in Bezug auf das Thema, um das es geht,
auf einer anderen Stufe des Problembewußtseins befindet. So hat es natürlich
keinen Sinn, Lösungsmöglichkeiten oder gar Schritte persönlicher Veränderung anzusprechen,
wenn unsere Geprächspartner das Problem als solches oder seine Bedeutung nicht
sehen (wollen). Im Eingangsbeispiel läuft der Impuls „ … daß ihr das wieder in
Ordnung bringt!” völlig ins Leere, solange sich die Angesprochenen auf einer
der Abwertungsstufen 1 – 3 befinden. Erst wenn sie das Problem sehen, als
bedeutsam anerkennen und Verhaltensalternativen in Betracht ziehen, hat es
Sinn, mit ihnen über eine Lösung bzw. Veränderung zu reden.
Dieses Konzept des passiven Denkens mit den vier Stufen
und den genannten Differenzierungen ermöglicht eine gute Diagnose darüber, wo
jemand sich in Bezug auf den Umgang mit einem Problem befindet.
Am weitesten entfernt von einem konstruktiven Umgang mit
Problemen sind Menschen, die nicht einmal Stimuli wahrnehmen, die auf eine
Schwierigkeit hinweisen (zum Beispiel den Lärm einer randalierenden Klasse
nicht hören, berechtigten Ärger in einer entsprechenden Situation nicht fühlen,
Scherben auf dem Schulhof nicht sehen). Das passive Denken äußert sich hier in
regelrechten Wahrnehmungsstörungen. Der Druck, Problemen auszuweichen, ist
offenbar so hoch, daß nur mit dem Ausblenden (Verdrängen) der für andere
Personen offensichtlichen Realität das innere Gleichgewicht aufrechterhalten
werden kann.
Einem konstruktiven Handhaben von Problemen am nächsten
sind Personen, die die relevanten Stimuli wahrnehmen und beachten, die
Bedeutung von Problemen für sich und andere realistisch einschätzen,
unterschiedliche Handlungsweisen alternativ in Betracht ziehen und die im Hinblick
auf eine gegebene Situation angemessenste Möglichkeit wählen können.
Mit Hilfe dieses Konzepts ist in einem problembezogenen
Gespräch und auch in einer längerfristigen Arbeit mit Gruppen oder einzelnen
eine gute Erfolgskontrolle möglich. Als bemerkenswerter Erfolg zu werten ist
es, wenn jemand sich deutlich und stabil von Stufe 1 (Leugnung der Existenz des
Problems) zu Stufe 4 (Leugnung der persönlichen Fähigkeit) entwickelt und auf
dieser Ebene weiterarbeitet. Umgekehrt deutet sich eine ineffektive Entwicklung
an, wenn jemand am Ende eines Gesprächs, das bereits nahe an einer Lösung zu
sein schien, äußert: „ … eigentlich ist das alles doch nicht so schlimm!” – es
sei denn, diese Äußerung beruht auf einer durchdachten Neubewertung des
Sachverhalts.
Aus diesen Überlegungen heraus lassen sich einige Regeln zum Umgang mit passivem Denken ableiten:
1. Versuchen
Sie einzuschätzen, auf welcher Stufe des passiven Denkens Ihr Gegenüber
argumentiert.
2. Setzen
Sie auf dieser Stufe an und geben Sie Unterstützung dabei, die anderen Stufen
bis zu einer ungetrübten Sicht der Dinge zu durchschreiten.
3. Hilfreich
ist es, die Partner mit Aspekten zu konfrontieren, die sie auf der jeweiligen
Stufe ausblenden – nicht etwa ein oder zwei Stufen weiter.
4. Wenn
eine zu große Divergenz im Problembewußtsein erkennbar wird, prüfen und
entscheiden Sie, ob es sinnvoll ist, in der gegebenen Situation das Gespräch
weiterzuführen.
5. Beachten
Sie, ob die am Ende des Gesprächs erreichte Stufe aufrechterhalten wird.
6. Bei
einem Rückschritt überlegen Sie, ob Sie selbst durch zu forsches Vorgehen Anlaß
für Widerstand geboten haben könnten.
Passives Verhalten
Das Abwerten ist ein innerer Prozeß, den wir als solchen
von außen nicht direkt erkennen können. Er manifestiert sich jedoch in
bestimmten Sichtweisen, die uns in den Äußerungen unserer Gesprächspartner
deutlich werden. Passivität (im Sinne von Vermeiden oder unproduktivem Umgehen
mit Problemen) wird freilich auch auf der Verhaltensebene und damit konkret und
unmittelbar sichtbar.
Die offensichtlichste Form passiven Verhaltens ist das Nichtstun angesichts eines bestehenden
Problems oder einer zu lösenden Aufgabe. Anstatt die Energie für die
Problemlösung einzusetzen, wird sie in die Vermeidung von Aktivität investiert.
Bisweilen genießt es die Person mit einem gewissen Triumph, den Prozeß zu
blockieren und die anderen „zappeln” zu lassen. Oft aber fühlt sie sich selbst
unbehaglich und spult eine Menge Phantasien ab ( … was alles Schlimmes
passieren könnte, was die anderen jetzt über sie denken; manchmal auch: was sie
im Grunde Tolles zustande bringen könnte, wenn sie nur … ). Die anderen
Beteiligten fühlen sich in der Regel ebenfalls unbehaglich. In gewisser Weise
findet ein stummer Kampf darum statt, wer es länger aushalten kann – und
meistens „gewinnt” die passiv(st)e Person: Die anderen werden aktiv und
übernehmen Verantwortung für die passive Person und die Lösung des Problems.
Das zu erreichen, ist die heimliche Absicht allen passiven Verhaltens.
Eine scheinbar aktive und deshalb oft nicht erkannte,
bisweilen sogar hoch geschätzte Form passiven Verhaltens ist die Überanpassung. Jemand liest anderen die
Wünsche von den Augen oder Lippen ab, sagt stets Ja und Amen und zeigt eine Art
von vorauseilendem Gehorsam. Sie ist nicht in Kontakt mit den eigenen
Bedürfnissen und Zielen, sondern versucht, ständig das zu tun, was sie für die
Erwartung der anderen hält, und überprüft dabei nicht einmal, ob es das ist,
was diese wollen. Von anderen wird diese Haltung oft geschätzt oder sogar
unterstützt, da sie als hilfreich und pflegeleicht erlebt wird. In der
Überanpassung ist von allen passiven Verhaltensweisen am meisten Denken
enthalten – wenn auch kein eigenständiges. Der Haken dabei ist, daß Personen in
der Überanpassung keine Verantwortung für ihr Handeln und dessen Folgen
übernehmen: „Aber Sie haben doch gesagt … ; ich hatte Sie so verstanden, daß
ich … tun sollte”. Dieses Verhalten bringt häufig Ihrem Gegenüber, (“Da habe
ich genau getan, was Sie mir geraten haben, und nun sehen Sie, was dabei
herausgekommen ist!”), bisweilen aber auch Ihnen selbst am Ende Ärger ein („Hören
Sie endlich auf mit Ihrem Ja und Amen!”).
So liegt es in der Natur der Überanpassung, daß keine aus
der Sicht der betreffenden Person stimmige und für sie passende Problemlösung
stattfindet. Probleme werden nur scheinbar gelöst, aber es bleibt ein ungutes
Gefühl zurück, da eine wirkliche Auseinandersetzung, die oft zu einer echten
Lösung gehört, nicht stattgefunden hat.
Zu den passiven Verhaltensweisen zählt auch eine andere
Form von scheinbar hoher Aktivität: Zielloses, ungerichtetes, ruheloses Tun und
Treiben, das in der Regel nicht zu Ende gebracht wird, auf jeden Fall aber
nicht das diesem Verhalten zugrunde liegende Problem löst. Wir nennen dieses
Verhalten Agitation. Agitation
zeigen Personen, die sich mit ihrer Situation oder Aufgabe sehr unbehaglich
fühlen und ihre Spannung abzufackeln versuchen. Anzeichen dafür sind zum
Beispiel ruheloses Hin- und Herlaufen, nervöses mit den Fingern trommeln, im Haar
oder Bart zwirbeln. Bisweilen ist Agitation schwer erkennbar. Sie kann auch
vorliegen, wenn jemand viele Fragen stellt (ohne mit den Antworten etwas
anzufangen oder ihnen überhaupt zuzuhören), immer neue spontane Einfälle äußert
(statt sie von einem bestimmten Punkt an zu entfalten und in Zusammenhang zu
bringen), unzählige Brief- oder Buchanfänge schreibt und wieder zerknüllt (mit
dem illusionären Ausblick, daß es immer noch nicht so ist, wie man schreiben
will und kann). Ein typisches Argumentationsmuster zur Rechtfertigung von Agitation
ist es, Dinge, die zu tun sind, mit dem Gedanken zu verzögern: „Bevor ich
dieses Problem erfolgreich anpacken kann, muß ich zuerst noch … “ Agitation ist
mehr auf Energieabfuhr als auf Problemlösung gerichtet. Klares Denken fehlt,
die Person erlebt sich als verwirrt und hofft, daß das Problem sich löst, indem
sie irgendetwas tut.
Oft durchlaufen Menschen im Umgang mit bestimmten
Problemen mehrere Stufen passiven Verhaltens.
Ein Beispiel:
Ein Student hat eine Hausarbeit anzufertigen, das Thema
reizt ihn, der Termin läßt ausreichend Zeit. Er fängt sogleich an, emsig
Material zu sammeln, insbesondere Forschungsbeiträge des Professors, der ihm
das Thema stellte (Überanpassung). Nach wenigen Tagen hat er sich einen ganz
ordentlichen Apparat zusammengestellt und könnte loslegen – gönnt sich jetzt
aber erst einmal eine ausgiebige Ruhepause und schiebt den Beginn der
eigentlichen Arbeit vor sich her (Nichtstun). Von Tag zu Tag wächst nun sein
Unbehagen, er erlebt erste Anflüge von Panik und sagt sich jeden Abend: „Morgen
muß ich aber unbedingt anfangen!” „Deshalb” räumt er erst einmal sein Zimmer
oder auch die ganze Wohnung gründlich auf, geht „vorausschauend” einkaufen.
Dabei fallen ihm weitere Dinge ein, die er vorher noch unbedingt erledigen muß
(Agitation). Schließlich wirft er beim Aufräumen „aus Versehen” wichtige
Arbeitsunterlagen in den Müll, arbeitet Tag und Nacht durch, schwächt seinen
Körper durch den Konsum von Unmengen Koffein und Nikotin und strapaziert auch
seine Umgebung aufs äußerste. Entweder bricht er zusammen und erzwingt sich so
die Fürsorge der anderen und die Nachsicht seines verehrten Professors, oder er
schafft es gerade noch, mit Hilfe einiger eilends zusammengetrommelter Freunde
und ist letztlich sogar noch stolz darauf, daß in so knapper Zeit kaum jemand
vor ihm eine solche Arbeit bewältigt hat.
Dieses Beispiel zeigt in der letzten Phase der Eskalation
den Übergang zur vierten Form passiven Verhaltens, die wir Gewalt bzw. sich oder andere
unfähig machen nennen. Dazu zählt im weitesten Sinne jedes Verhalten, mit
dem wir uns selbst, andere oder Sachen verletzen bzw. schädigen und uns damit
unfähig machen, ein Problem zu lösen. Neben direkten Formen aggressiven
Verhaltens gegen andere Personen oder Sachen gehören hierzu auch die
vielfältigen Formen von Autoaggression (zum Beispiel Nägelkauen, Alkohol- und
Drogenkonsum, risikoreiches, schnelles Fahren etc.) sowie die Bildung
psychosomatischer Symptome als Reaktion auf unbewältigte Konflikte oder als
Mittel, um ängstigenden Situationen auszuweichen.
Gewalt in diesem Sinne zeigen Personen, die glauben, „es”
nicht mehr aushalten zu können. Sie setzen sich selbst oder andere außer
Gefecht, zeigen kein eigenes Denken und keine Verantwortlichkeit mehr und
zwingen so andere Personen, einzugreifen und Verantwortung zu übernehmen. Ganz
deutlich wird dies bei Alkohol- oder Drogenabhängigkeit.
Vorsichtig sollte man allerdings damit sein, jegliches
Mißgeschick oder jedes körperliche Symptom vorschnell als passives Verhalt zu
zu interpretieren. Bei wiederholtem Auftreten ist es freilich angezeigt, sich
selbst oder andere mit der Frage zu konfrontieren, ob man auf diese Weise einem
Problem ausweicht, das man glaubt, nicht lösen zu können.
Wichtig ist die Frage, wie man passives Verhalten erkennt. Zwar gibt es eine Reihe von
Verhaltensweisen, die so eindeutig passiv sind, daß es auch für ein
ungeschultes Auge offensichtlich ist. Auf der anderen Seite gibt es einen fast
unmerklichen Übergang zu Situationen und Verhaltensweisen, in denen es doch „ganz
verständlich ist, daß jemand nicht anders konnte” oder in denen man „ihr doch
nun wirklich keinen Vorwurf machen kann”. Ein brauchbares Kriterium dafür, daß
passives Verhalten vorliegt, ist es, wenn man sich in eine „Symbiose” gelockt
sieht, in der man sich mit guten Gründen unwohl fühlt. Ziel passiven Verhaltens
ist es nämlich, daß jemand anders Verantwortung für die betreffende Person
übernehmen soll, die sie im Blick auf Alter, Fähigkeiten und Lebensumständen
selbst zu tragen imstande wäre. Wenn das gelingt, wird eine unangemessene
Symbiose hergestellt.
Symbiose
Die Symbiose ist ein uns allen aus der Kindheit vertrautes
Beziehungsmuster. Wenn wir – als Kinder – noch nicht imstande sind, für uns
selbst zu denken und Verantwortung zu übernehmen, da die dafür erforderlichen
Ichzustände noch nicht ausgereift sind, benötigen wir die symbiotische
Ergänzung durch andere, in der Regel durch unsere Eltern. Sie stellen ihr
Erwachsenen- und Eltern-Ich so weit zur Verfügung, wie es im Blick auf unseren
Reifungszustand nötig ist. Je weiter wir in unserer Entwicklung fortschreiten,
desto mehr lösen wir uns aus der anfänglich notwendigen, gesunden Symbiose. Im
günstigsten Fall bekommen wir von unseren Bezugspersonen die ausdrückliche
Erlaubnis und Ermutigung, uns von ihnen loszulösen und zugleich das, was wir an
Fürsorge, Schutz und Information noch von ihnen brauchen, auf angemessene Weise
in Anspruch zu nehmen. Wenn diese Loslösung gut gelingt, gehen wir daraus als
Erwachsene hervor, die in der Lage sind, auf eigenen Beinen zu stehen und als
selbständige Menschen mit anderen, auch mit den eigenen Eltern, in Kontakt zu
treten.
Freilich gibt es auch für Erwachsene Situationen, in denen
es in Ordnung ist, symbiotische Wünsche zu haben. Dazu gehören Momente extremer
Belastung, in denen wir dazu tendieren, vor allem das Kindheits- Ich zu
besetzen, so zum Beispiel bei starker Betroffenheit durch einen Verlust, bei
Schock, Unfall, schlimmer Krankheit etc. Sofern dann andere Menschen dafür zur
Verfügung stehen, ist es angemessen und sinnvoll, sich für eine Weile trösten
und versorgen zu lassen, um das belastende Gefühl durchleben und verarbeiten zu
können. Gleichfalls ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die Partner in
Beziehungen eine ausbalancierte wechselseitige Symbiose eingehen, in der beide
Seiten sich angemessen selbst verwirklichen können und sich wohl fühlen.
Davon abzugrenzen ist allerdings die ungute Symbiose, wie
man sie in vielen Varianten im Alltagsleben antrifft. (Wenn wir im Blick auf
Situationen des alltäglichen Erwachsenenlebens von Symbiosen sprechen, so
meinen wir in aller Regel diese Art von Symbiose). Viele Menschen haben sich
aus der ursprünglich vielleicht gesunden Symbiose mit ihren Eltern noch nicht
vollständig gelöst. So glauben sie unbewußt noch als Erwachsene, nur dann klar
kommen und sieh wohlfühlen zu können, wenn sie das vertraute
Abhängigkeitsmuster in irgendeiner Weise wieder hergestellt bekommen.
Dafür ein (beinahe) alltägliches Beispiel: Er (47) sitzt
im Sessel und wirft ihr wie selbstverständlich die Bemerkung hin: „Ich habe
Durst!”. In der Struktur ähnelt diese Äußerung der eines Kindes, das sich noch
nicht allein fortbewegen kann und sich sprachlich auf der Stufe der
Artikulation einfachster Grundbedürfnisse befindet. Er leugnet, genau besehen,
die Fähigkeit, für sich selbst sorgen zu können, und zeigt als passives
Verhalten Nichtstun. Erfolg hat er, wenn sie sich seine Selbstabwertung zu
eigen macht, ihre eigenen Bedürfnisse abwertet und/oder glaubt, nur dadurch die
Beziehung zu ihm stabilisieren zu können (Grandiosität). Wiederholter Erfolg
dieses Verhaltens läßt ihn natürlich daran festhalten. Sein „Gewinn” ist
vermutlich, neben augenscheinlicher Bequemlichkeit, das Wiedererleben eines
angenehmen Versorgtwerdens durch eine mütterliche Bezugsperson, vielleicht auch
ein gelegentliches „Ausgeschimpftwerden” mit dem nicht konsequent verfolgten
Anspruch, er müsse nun aber endlich mal selbst „in die Puschen kommen”.
Zusammenfassend läßt sich sagen: Passives Verhalten
basiert auf einer internen Abwertung, meist verbunden mit einer grandiosen
Übertreibung bestimmter Aspekte der eigenen Person, anderer Menschen oder der
Situation. Es zielt auf die (Wieder-) Herstellung einer Symbiose, in der andere
sich so unbehaglich fühlen sollen, daß sie aktiv werden und Verantwortung
übernehmen.
Redefinieren
Der Mechanismus, mit dem passive Menschen das Abwerten
bzw. Übertreiben in Transaktionen mit anderen Menschen zur Geltung bringen, ist
das Redefinieren, das wir schon im Kapitel über den Bezugsrahmen erläutert
haben. Stimuli, die nicht in den eigenen Bezugsrahmen, die festgelegte Meinung
über sich, die anderen und die Welt passen, werden so umgedeutet, daß sie das
eigene System nicht .in Frage stellen. Die Erwartungen, Nachfragen, Hinweise
und Informationen anderer Menschen werden auf diese Weise derart blockiert oder
so umgebogen, daß keine Korrektur der eigenen Vorstellungen erforderlich wird
und die passive Haltung aufrechterhalten werden kann. Dafür werden tangentiale
und blockierende Transaktionen verwendet.
In einer tangentialen Transaktion beziehen sich Stimulus
und Reaktion auf unterschiedliche Themen oder verschiedene Aspekte desselben
Themas. Besonders tückisch sind die oft fast unmerklichen Verschiebungen auf andere
Aspekte ein und desselben Themas. Der Partner glaubt zunächst, eine Reaktion
auf seine Aussage zu bekommen, und wird sich nicht oder erst sehr viel später
bewußt, daß die redefinierende Person ausgewichen ist. Die Beispiele im
Abschnitt „Das Wort im Munde herumdrehen” machen das klar (vgl. Seite 40f.).
Zur Verdeutlichung ein Beispiel, bei dem in einer kurzen Antwort von drei
Worten gleich drei Redefinitionen stecken:
A: „Was wirst Du tun?”
B: „Man könnte versuchen, … “
B redet nicht in persönlicher Verantwortung, sondern
verallgemeinert (von „Du” zu „man”). Er verschiebt die Frage nach seinem
tatsächlichen künftigen Verhalten auf die Ebene der Eventualität (von „wirst”
zu „könnte”). Schließlich münzt er den Aspekt der Realisation in vages
Probehandeln um (von „tun” zu „versuchen”). B entzieht sich damit der von A
intendierten Verbindlichkeit, ohne die Frage begründet zurückzuweisen. B kann
auf diese Weise passiv bleiben, ohne gegenüber A direkt dazu stehen zu müssen.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird A – zumindest bei einem entsprechenden
Fortgang des Gesprächs – eine gewisse Unzufriedenheit spüren, sich
möglicherweise aber nicht klar sein, woran es liegt. Oder aber, A redefiniert
im Gegenzug den ausweichenden Aspekt in der Antwort von B zu einer festen
Absicht im Sinne der Ausgangsfrage und ist später dann ärgerlich oder
enttäuscht, wenn B – wie zu erwarten war – passiv bleibt und nichts ändert.
Gerade die vielfältigen Möglichkeiten tangentialer
Transaktionen bieten „versierten Passiven” ein reichhaltiges Feld subtiler
Techniken, andere auflaufen oder für sich selbst aktiv werden zu lassen, ohne
daß die Betroffenen selbst dies merken. Wenn man einmal darauf achtet, wie die
ganz alltägliche Kommunikation von tangentialen Transaktionen strotzt, dann
kommt man bisweilen nicht umhin, die – oft unbewußte – Kreativität, die in
derartigen Abwehrmanövern entfaltet wird, in gewisser Weise zu bewundern.
In blockierenden
Transaktionen wird die Auseinandersetzung mit einem vorgegebenen Thema
dadurch vermieden, daß man die Definition des Themas an sich bestreitet bzw.
zum Gesprächsgegenstand erhebt.
Zwei Beispiele:
A: „Liebst du mich?”
B: „Was heißt denn
Liebe? Da müssen wir erst mal … “
A: „Wie lange
brauchst du noch, um damit fertig zu werden?”
B: „Was heißt hier
fertig werden? Fertig wird man letztlich nie …“
Diese Art von Transaktionen ist offensichtlicher
frustrierend für die anderen Beteiligten und dadurch auch der Wahrnehmung und
Bearbeitung leichter zugänglich. Gleichwohl kann sich daraus eine rasche und
dramatische Eskalation mit nachhaltigen Folgen ergeben.
Praktische Hinweise
Die Wahrnehmung zu schulen für die vielfältigen Wege des
Redefinierens und zugleich über ein Spektrum von Reaktionsmöglichkeiten zu
verfügen, ist für die Gesprächsführung von großem Vorteil. Zum Umgang mit und
zur gezielten Konfrontation von Redefinitionen gibt es einige sinnvolle
Strategien:
1. Beim
Thema bleiben, insistieren: Achten Sie darauf, daß Fragen zum Punkt
beantwortet werden. Kehren Sie, falls nötig, beharrlich zum Ausgangsthema
zurück. Achten Sie auch darauf, daß Äußerungen nicht unmerklich verdreht und in
dieser Form zur weiteren Gesprächsgrundlage gemacht werden.
2. Auf
die Redefinition eingehen: Durch die Redefinition wird ein neues Thema oder
ein neuer Aspekt eingebracht. Sie haben die Wahl, darauf bewußt einzugehen und
eventuell Hindernisse für eine gute Kommunikation auszuräumen, um später zu dem
ursprünglichen Thema zurückzukehren.
3. Konfrontieren:
Sprechen Sie Ihre Beobachtungen direkt an, wenn Ihr Gegenüber hartnäckig in
wichtigen Punkten redefiniert. Fragen Sie nach bzw. fordern Sie ihn auf, direkt
zu sagen, was er will oder nicht will.
4. Konfrontieren
und analysieren: Wenn Ihr Vertrag das erlaubt, können Sie Ihre
Beobachtungen nennen und mit der anderen Person zu klären versuchen, ob sie ein
altes Muster in der aktuellen Situation wiederholt. („Kennen Sie das, daß Sie
so reagieren ?”).
Was ist ansonsten
zu tun angesichts von passivem Verhalten und Denken? Vor allem nicht das,
worauf es zielt, nämlich unüberlegt die Verantwortung zu übernehmen. Statt
dessen empfiehlt es sich, passives Denken und Verhalten zu konfrontieren und
Unterstützung dafür zu geben, das verdrängte Problem zu betrachten und die
eigenen Ressourcen zu dessen Lösung zu entdecken und einzusetzen.
Das ist natürlich nicht unmittelbar möglich, wenn Gewalt
angewendet wird. Hier steht zunächst der Schutz für die Person (vor sich
selbst) und für andere Beteiligte im Vordergrund. Bei Agitation und Gewalt wird
es oft sinnvoll sein, den Betreffenden, wenn nötig auch massiv, zu stoppen und
– durch die Phase der Überanpassung – zum Denken zu bringen. Denn von allen
passiven Verhaltensweisen ist in der Überanpassung das meiste Denken enthalten.
Aussichtslos erscheint – im normalen Rahmen – das Gespräch
mit Personen, die das Problem leugnen und Gewalt anwenden (zum Beispiel
Alkoholiker) oder die nach dem Motto leben: „Macht kaputt, was euch
kaputtmacht!” Solche Menschen sind zerstörerisch, da sie nicht an die Wurzeln
des Problems gehen, nichts Neues gestalten und den eigenen Anteil übersehen.
Bevor ihnen mit den Methoden der Gesprächsführung sinnvoll zu begegnen ist,
sind andere Interventionen nötig, die wir hier nicht entfalten können.
Verbreitet sind Verhaltensweisen, in denen ein „harmloser”
Gewaltanteil enthalten ist (laut werden, mit der Faust auf den Tisch schlagen,
etwas Wertloses an die Wand pfeffern). „Harmlos” sind sie insofern, als niemand
regelrecht geschädigt wird. Entlastend daran ist, daß körperliche Spannung ausagiert
werden kann, was im Prinzip eine sinnvolle Voraussetzung für eine anschließende
Konfliktlösung sein kann, denn Wut „verklebt” das Gehirn. Problematisch ist,
daß solches Verhalten oft zerstörerisch auf die Beziehung wirkt, indem es Angst
auslöst und die Gefahr der Eskalation in sich birgt, zumal dann, wenn lediglich
ausagiert, anschließend jedoch keine konstruktive Lösung angestrebt wird.
Besser wäre es, Verabredungen über „Ärgerrituale” (zum Beispiel das „Dampf
ablassen”) zu treffen. Dabei ist eine konstruktive Verbindung zwischen Denken,
Fühlen und Verhalten anzustreben. (Näheres dazu in BACH und GOLDBERG: Keine
Angst vor Aggressionen, 1981).
Insgesamt am wichtigsten ist es, aufmerksam, frühzeitig
und konsequent die dem passiven Verhalten zugrundeliegenden Abwertungen zu
konfrontieren. Dazu können Sie die Hinweise nutzen, die Sie am Schluß des
Abschnitts über die Stufen der Abwertungen finden (vgl. S. 113).
aus Gührs, Nowak, Das konstruktive Gespräch