Montag, 6. Januar 2020

Leseempfehlung: Zur Parallelität der ‘Entwurzelung’ von Gesellschaft, Subjektivität und Denken

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Das Lebenswerk Luhmanns ist eine allgemeine und umfassende Theorie der Gesellschaft, die gleichermaßen Geltung in der wissenschaftlichen Untersuchung sozialer Mikrosysteme (z. B. Liebesbeziehungen) und Makrosysteme (wie Rechtssystemen, politischen Systemen) beansprucht. Der Anspruch seiner Theorie auf besonders große Tragweite beruht darauf, dass seine Systemtheorie von der Kommunikation ausgeht und die Strukturen der Kommunikation in weitgehend allen sozialen Systemen vergleichbare Formen aufweisen. Luhmanns Systemtheorie kann als Fortsetzung des radikalen Konstruktivismus in der Soziologie verstanden werden.[16] Er knüpft vor allem an die theoretischen Grundlagen Humberto Maturanas und dessen Theorie autopoietischer Systeme an.[17] Ferner lieferten Edmund Husserl und Immanuel Kant wichtige Voraussetzungen, was den theoretischen Zeitbegriff anbelangt[18], sowie George Spencer-Brown, was den Form- und Sinnbegriff anlangt.[19] Dem gegenüber bricht Luhmann mit theoretischen Grundannahmen der Soziologie und Philosophie, die in unlösbare Paradoxien hineinführen: So ersetzt er Handlung durch Kommunikation als basalen soziologischen Operationstyp.[20] Er bricht auch mit dem klassischen Subjekt-Objekt-Schema und ersetzt es durch die Leitdifferenz System und Umwelt.[21]
Bereits 1970 lieferten sich Luhmann und der Soziologe Jürgen Habermas, als jüngster Vertreter der Kritischen Theorie, eine ausführliche Kontroverse zu ihren teils gegensätzlichen Theoriemodellen, die sie mit einer gemeinsamen Publikation „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“ dokumentierten.[22] Der wohl wichtigste Streitpunkt dieser Kontroverse war, ob die Soziologie eine moralische Komponente oder eine soziale Utopie (Herrschaftsfreiheit) durchzutragen habe oder lediglich eine Beschreibung der Gesellschaft nach funktionaler Prämisse leisten müsse.[23] Aus der Sicht Luhmanns fällt die Antwort so aus, dass das Erstere nur auf Kosten des Letzteren möglich ist.[24] Wenn sich die Soziologie an der Kritik oder am Diskursorientiert, so ist sie damit auch an bestimmte Ausgangslagen gebunden und kommt fatalerweise nur zu Aussagen von zeitlich begrenzter Gültigkeit. Um dem zu entgehen, muss Luhmann zufolge die Soziologie eine noch größere Abstraktion der sozialen Dynamik finden, die dafür eine längere Geltungsdauer beanspruchen kann. Die moralische Bewertung und Kritik des Zeitgeschehens werde dadurch keineswegs ausgeschlossen, im Gegenteil, sie werde lediglich aus der Funktion der Soziologie ausgelagert in andere Bereiche, nämlich Politik oder Ethik. Dieser Schritt sei besonders deshalb erforderlich, weil die Soziologie bis dato weder über einen allgemeinen Begriff noch über eine allgemeine Theorie der Gesellschaft verfügt. Für die Soziologie als Wissenschaft sei es notwendig, dass sie ihren Gegenstand in allgemeiner Weise bezeichnen kann.
Luhmanns Theorie der Gesellschaft geht davon aus, dass die „moderne“ Gesellschaft durch den Prozess der funktionalen Differenzierung gekennzeichnet ist.[25] Die Gesellschaftsstruktur des alten Europa hat sich aufgrund der Komplexitätszunahme eigener Sinnressourcen von der segmentären zur stratifikatorisch-hierarchischen und weiter zur funktional differenzierten Ordnung umgeformt. In der Moderne lösen sich zunehmend Teilsysteme aus dem Gesamtkontext der Gesellschaft heraus und grenzen sich nach Maßgabe eigener funktionaler Prämissen vom Rest der Gesellschaft ab (Ausdifferenzierung). Die moderne Gesellschaft ist aufgelöst in eine wachsende Vielheit von Teilsystemen, die sich gegenseitig zur Umwelt haben und die strukturell mehr oder weniger fest aneinander gekoppelt sind. Die Gesellschaft überhaupt stellt für jedes einzelne Teilsystem (und für alle Teilsysteme zusammen) einen identischen Hintergrund dar, der funktional auf die Möglichkeit der Kommunikation hin entworfen werden kann.
Luhmann bietet erstmals in der relativ jungen Geschichte der Soziologie (ca. 150–200 Jahre, vergleiche die mindestens 2500 Jahre bestehende Tradition der Philosophie) nach Emil DurkheimMax Weber und weiteren einen allgemein gültigen und zeitlich konsistenten Begriff der Gesellschaft an[26], der die grundlegende Paradoxie aufzulösen vermag, dass die Soziologie selbst ein Teil der Gesellschaft ist, also selbst ein Teil des Gegenstandes ist, den sie wissenschaftlich zu begreifen sucht, und dadurch die Unabhängigkeit und Unbedingtheit dessen, als was Gesellschaft bezeichnet wird, entscheidend beeinträchtigt werden. Schließlich wird alles, womit die Soziologie arbeitet – Sprache, Kommunikation, Buchdruck, Problemlagen, Forschungsziele, Geld usw. – von der Gesellschaft bereitgestellt.
Im Sinne der Wissenschaftslogik ist ein selbst entwickelter Gesellschaftsbegriff selbst-implikativ und ungültig. Das Betätigungsfeld der Soziologie muss nach Luhmann zu der Frage umgedreht werden, wie es trotzdem möglich ist, dass Teilsysteme sich in der Gesellschaft orientieren können und dennoch relativ stabile Strukturen aufweisen und dass sich dauerhafte Institutionen in der Gesellschaft etabliert haben, die anscheinend (vielleicht aber auch nur scheinbar) die Lage beherrschen.[27] Die Teilsysteme der Gesellschaft werden im Hinblick auf ihre evolutiven, selbst-stabilisierenden, autopoietischenStrukturen hin beobachtet und geben selbst die Antwort darauf, was Gesellschaft ist, indem sie zeigen, wie sie mit der Komplexität und Paradoxierung der Gesellschaft umgehen. Diesen Beobachtungen hat sich Luhmann zugewendet.
[Niklas Luhmann, Charakterisierung des Werkes, Wikipedia, abgerufen am 06.01.2019]
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In dieser Arbeit geht es um ein reizvolles Experiment. Im Mittelpunkt steht der Versuch, eine empirische Ausgangsbeobachtung, die wir gleich- sam von der Gesellschaft ‘abgelesen’ haben, im Lichte der Systemtheorie Niklas Luhmanns zu erklären. Es geht also, salopp gesagt, um den Ver- such, das systemtheoretische Denken Luhmanns praktisch anzuwenden. Reizvoll ist unser Unternehmen nicht zuletzt deshalb, weil wir eine als durchweg konservativ geltende Thematik oder Fragestellung mit einer Theorie zusammenbringen, die erklärtermaßen angetreten ist, jedwedes traditionelle Denken hinter sich zu lassen, grundsätzlich neu zu beginnen. 

Ausgangspunkt unserer Arbeit ist die zunächst mehr unreflektiert- emphatische Beobachtung, daß das Subjekt der Moderne, die gegenwärti- ge Gesellschaft sowie die Grundstruktur heutigen Denkens von ‘Bodenlo- sigkeit’ und ‘Entwurzelung’ gekennzeichnet sind. 

Die Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, diesen zunächst mehr vordergründigen Eindruck zu belegen, die Genese des Phänomens aufzuzeigen und eine strukturelle Parallelität zwischen den drei Ebenen nachzuweisen. Vor allem aber unternehmen wir in dieser Arbeit den Versuch, die unterstellte ‘Bodenlosigkeit’ von Subjekt, Gesellschaft und Denken im Bezugsrahmen der Systemtheorie Luhmanns zu erklären sowie gleichermaßen aus dieser Theorie heraus Anhaltspunkte zu finden, mit denen die Parallelität der ‘Entwurzelung’ von Gesellschaft und Denken einerseits sowie von Gesell- schaft und Subjektivität andererseits erklärt werden kann. 

Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil der Arbeit werden im Rahmen einer phänomenologischen Gesamtdarstellung Ausdrucksformen von ‘Bodenlosigkeit’ betrachtet. Das erste Kapitel befaßt sich mit der ‘bodenlosen’ Grundverfassung des Subjekts: An exemplarischen Beob- achtungsfällen wird die widersprüchliche Situation von Entdeckung und Verlust des Selbst aufgezeigt. Unausweichlich und unentwegt ist das Sub- jekt dazu verurteilt, ‘Ontologien’ des Selbst zu entwerfen, zu erneuern und auszutauschen; es ist darum bemüht, in einem permanenten rekursiven Prozeß die subjektive Authentizität eines Selbstprojektes zu konstruieren. Was aus der Sicht des Subjekts wie Selbstbehauptung aussieht, erweist sich aus der globalen Perspektive als ein Prozeß ungezähmter, selbstbe- 2 züglicher Aktivität, der in Spiel und Simulation leerzulaufen scheint und somit die Entwurzelung der Subjektivität im Paradox hervortreten läßt. Das Kapitel schließt mit einem Blick auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten, in die das Subjekt der Moderne eingelassen ist. 

Im zweiten Kapitel wird die ‘Bodenlosigkeit‘ der Gesellschaft an exemplarischen Fällen belegt. Hier wird in direkter Anknüpfung an das erste Kapitel gezeigt, wie die Kultur, die Religion, die Politik und die Wirkungsmechanismen der Medien ihre ehemals hierarchische, oder besser: zentrische Grundstruktur verloren haben und nun gleichsam ‘frei schwebend’ um sich selbst kreisen. Der sich hieran anschließende Exkurs will aufzeigen, daß ‘Bodenlosigkeit’ als gesellschaftliches Phänomen nicht plötzlich aufge- taucht, sondern geschichtlich geworden ist. Bezugspunkt der Betrachtung ist hier der Erklärungsansatz Max Webers sowie die Diskussion um die sogenannte Postmoderne. 

Das dritte Kapitel wendet sich der ‘Bodenlosigkeit’ des Denkens zu. Hier wird aufgezeigt, wie eine kognitive Entwicklungslinie differenztheoreti- schen Denkens bei Nietzsche beginnt und über Adorno bis Luhmann auf eine bisher beispiellose Zuspitzung von ‘Bodenlosigkeit’ und ‘Entwurzelung’ zugesteuert ist. Dementsprechend betrachtet der erste Abschnitt dieses Kapitels das spezifische ‘Profil’ des differenztheoretischen Denkens Friedrich Nietz- sches. In Anknüpfung an die philosophische Kategorie der Bewegung Friedrich Nietzsches wird im zweiten Abschnitt gezeigt, daß Adorno mit seiner Kategorie des „Nichtidentischen“ sowie mit seinem Versuch, in „Konstellationen“ zu denken, das Differenz-Theorem weiterentwickelt hat. Der dritte Abschnitt verfolgt das Ziel, in das systemtheoretische Denken Niklas Luhmanns einzuführen und die Grundstruktur dieses theoretischen Ansatzes als exemplarischen Ausdruck ‘bodenlosen’ Denkens aufzuwei- sen. Zu diesem Zweck entwickeln wir hier einen fiktiven Dialog zwischen dem ontologisierenden Denken der Tradition und dem differenztheoreti- schen Denken aktueller Provenienz, um das charakteristische Denkpara- digma der Systemtheorie Luhmanns im Kontrast herausarbeiten zu kön- nen. Die Zwischenbetrachtung des IV. Kapitels zieht ein vorläufiges Fazit. Das, was wir auf der Ebene der Subjektivität, der Gesellschaft und des 3 Denkens an ‘Bodenlosigkeit’ und ‘Entwurzelung’ jeweils getrennt und pri- mär deskriptiv vorgestellt haben, wird nun zusammengezogen und auf ei- ner abstrakteren analytischen Ebene auf gemeinsame Kategorien ge- bracht. Hier versuchen wir zu zeigen, daß es mit „Differenz“, „Horizontali- tät“, „Rekursivität“ und „Paradoxalität“ Kategorien der ‘Entwurzelung’ gibt, die in den Denkmodellen Luhmanns, Adornos und Nietzsches gemeinsam enthalten sind. Darüberhinaus wird sich zeigen, daß diese Kategorien auch in den Strukturen der Gesellschaft und der Subjektivität verborgen liegen. Wir werden also aus der rückwärts gerichteten Perspektive des ersten Teils dieser Arbeit die innere Verschränkung aller drei Ebenen in ihrer ‘Boden- losigkeit’ und ‘Entwurzelung’ zu belegen versuchen. Im zweiten Teil der Arbeit werden unsere Beobachtungen zur ‘Bodenlo- sigkeit’ mit dem systemtheoretischen Denken zusammengebracht. In ei- nem ersten Schritt geht es darum, mit dem Instrumentarium Luhmanns die ‘Bodenlosigkeit’ der Gesellschaft, des Subjekts und des Denkens zu erklä- ren. Hierzu werden jeweils verschiedene systemtheoretische Blickwinkel eingenommen: Kapitel I betrachtet die funktionale Differenzierung der Ge- sellschaft im Hinblick auf die uns interessierende Frage gesellschaftlicher Einheit sowie den systemtheoretisch gefaßten Rationalitätsbegriff. Kapitel II geht der Frage nach, inwieweit aus dem systemtheoretischen Denken heraus die ‘Bodenlosigkeit’ der Subjektivität erklärt werden kann. Was bleibt übrig, wenn wir entdecken, daß der traditionelle Subjektbegriff hier gleichsam in sich zerlegt auftritt und in dieser Gespaltenheit mit funk- tionaler Differenzierung konfrontiert werden muß? Kapitel III versucht zu zeigen, daß die Kognition des Bewußtseins (als operational geschlossenes Systemgeschehen) in der Paradoxie befangen ist, sich selbst als Maßstab nehmen zu müssen, sich andererseits aber nicht selbst begründen zu können und damit zwangsläufig dazu verurteilt ist, jedwede Einheit immer in der Differenz zu finden. Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels skizzieren wir gleichsam exemplarisch den symbolischen und formalen Charakter des systemtheoretischen Wahrheitsbegriffs im Kontrast zum ‘substantiellen’ Wahrheitsverständnis der Tradition, näherhin Immanuel Kants. Ist es der Tradition noch gelungen, mit der Wahrheit ein Kriterium aufzustellen, das die Übereinstimmung von Denken und Gegen- stand zu garantieren vermochte, so erleben wir in der Systemtheorie eine 4 strukturell ‘bodenlose’ Neuformulierung dieser Thematik, die von völlig an- deren Voraussetzungen ausgeht und grundsätzlich neue Antworten her- vorbringt. Kapitel IV versucht darzulegen, inwieweit mit dem systemtheoretischen Begriff der strukturellen Kopplung die Parallelität von Kognition und Sozia- lität (bzw. Sozialität und Kognition) erklärt werden kann. Der Mechanismus der Kopplung, so werden wir herausarbeiten, hat eine eigene Realitätsba- sis für sich, die von den jeweils gekoppelten Systemen unabhängig ist. Auf dieser Beobachtung aufbauend werden wir dann versuchen, die von uns postulierte Parallelität von Kognition und Sozialität im Rahmen systemtheo- retischer Begriffe und Instrumentarien zu erklären. Das letzte Kapitel knüpft ausdrücklich wieder an den Beginn unserer Ar- beit an. Das dort im Rahmen unserer Ausgangsbeobachtung entwickelte Modell „Wir sind, wenn wir tun“, mit dem wir die spezifische Operationswei- se der Subjekte in der Gesellschaft zu beschreiben versuchten, wird nun direkt mit der Systemtheorie konfrontiert. D.h. wir stellen die Frage, ob bzw. inwieweit der hier vorgestellte Mechanismus (subjektiver Aktivität) als so- zialer autopoietischer Prozeß gedacht werden kann. Sofern es gelänge, diese (auf den ersten Blick widerspruchsvoll anmutende) Zusammenfüh- rung systemtheoretisch plausibel vorzustellen, wäre die Parallelität von Subjektivität und Sozialität begründet nachgewiesen
mehr:
- Universalität der ‘Bodenlosigkeit’ – Zur Parallelität der ‘Entwurzelung’ von Gesellschaft, Subjektivität und Denken – Ein systemtheoretischer Erklärungsversuch (Stefan Feltes, Dissertation, Fachbereich Philosophie-Religionswissenschaft-Gesellschaftswissenschaften der Universität - Gesamthochschule - Duisburg, April 1999 )
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