Donnerstag, 11. Oktober 2018

Der Wert des Reinen Beobachtens für die Formung des Geistes

Ein großer Teil des Leidens in der Welt entsteht nicht so sehr durch bewußte Schlechtigkeit als durch Unachtsamkeit, Unüberlegtheit, Voreiligkeit und Unbeherrschtheit. Ein einziger Moment der Besinnung würde oft genügen, um eine weitreichende Verkettung von Un­heil oder Schuld zu verhindern. Hier gilt wahrlich: Zeit gewonnen, alles gewonnen! Das Innehalten, an das man sich durch die Haltung des Reinen Beobachtens gewöhnt, ermöglicht es nun, eben jenen entscheidenden Moment zu erfassen und gleichsam festzuhalten, wo der Geist noch formbar ist, sich noch nicht festgelegt hat. Denn das Reine Beobachten verlangsamt oder hemmt den Übergang von der rezeptiven zur aktiven Geisteshaltung und gibt so der Entscheidung eine längere Frist. Solche Verlangsamung ist von großer Wichtigkeit, so lange das Unheilsame und nicht das Heilsame im menschlichen Geiste eine starke Spontaneität besitzt und sich unmittelbar durchzusetzen sucht. Durch das Innehalten wird Voreiligkeit in Wort und Tat verhindert, und weises Überlegen und Selbstkontrolle werden sich besser durchsetzen können. Wenn unerwünschte und unüberlegte Reaktionen sich dann nicht mehr so häufig und gewohnheitsmäßig einstellen, wird dadurch die Formbarkeit und Zugänglichkeit des Geistes beträchtlich wachsen.

Das Reine Beobachten gibt uns ferner Zeit für die Überlegung, ob in der gegebenen Situation überhaupt eine Aktivität oder Stellungnahme erforderlich oder ratsam ist.Besonders das Abendland zeigt eine allzu schnelle Bereitwilligkeit zu unnötigem und unerbetenem Eingreifen und Sich-Einmischen. Hierin liegt eine weitere vermeidbare Ursache vielen Leides und vieler überflüssiger Komplikationen des inneren und äußeren Lebens. Reines Beobachten führt zur Entwöhnung davon und, durch den sich daraus ergebenden Fortfall unnötiger Spannungen, wiederum zu einer größeren Bildsamkeit des Geistes.

Das Reine Beobachten richtet sich auf die Gegenwart und lehrt, was so viele nicht mehr können, bewußt in der Gegenwart zu leben. Wachsam auf seinem Auslug, läßt es die Dinge aus der Zukunft auf sich zukommen, zur Gegenwart werden und in die Vergangenheit entgleiten, ohne an ihnen zu haften. Wieviel Energie wird verschwendet durch fruchtloses Zurücksehnen nach der Vergangenheit, durch ein sinnlos-geschwätziges «Wiederkäuen» (in Wort oder Gedanke) all ihrer Banalitäten sowie durch vergebliche Reue! Wie viele Kräfte werden vergeudet durch Gedanken an die Zukunft, wie Hoffen und Planen, Fürchten und Sorgen! Auch dies ist wieder eine der durch das Reine Beobachten vermeidbaren Quellen des Leids und der Enttäuschung. Indem das Reine Beobachten uns immer wieder auf die Gegenwart verweist, bringt es uns wieder in den Besitz unserer Freiheit, die nur in der Gegenwart zu finden ist.8

Die Gedanken an Vergangenheit und Zukunft bilden auch ein Hauptmaterial für das halbbewußte Tagträumen, dessen zähklebrige Gedankenmasse den engen Raum des gegenwärtigen Bewußtseins verstopft und keine Möglichkeit zu seiner Formung gibt, ja es immer formloser macht. Diese Tagträume sind auch ein Haupthindernis der Konzentration. Ein Mittel, ihnen zu entgehen, ist die sofortige Hinwendung zum Reinen Beobachten, sobald keine Notwendigkeit oder kein Impuls zu zielgerichtetem Denken oder Handeln besteht und somit ein geistiges Vakuum droht, dessen sich diese Tagträume gern bemächtigen. Sind sie bereits aufgetreten, so braucht man sie nur selber zum Gegenstand der Beobachtung zu machen, um ihnen ihre den Geist entkräftende Wirkung zu nehmen und sie zu vertreiben. Dies ist auch ein Beispiel für jene «Verwandlung von Meditations-Störungen in Meditations-Objekte», von der später gesprochen werden soll.

aus: Nyanaponika, Geistestraining durch Achtsamkeit (Buddhistische Handbibliothek, Verlag Beyerlein & Steinschulte, S. 35f.)
siehe auch:
- Der Wert des Reinen Beobachtens für die Erkenntnis (Post, 24.09.2018)
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