Das Reine Beobachten läßt die Dinge zunächst selber sprechen; es erlaubt ihnen, sich gleichsam auszusprechen. Es läßt sie ausreden, ohne sie durch ein voreiliges abschließendes Urteil zu unterbrechen, wenn sie noch so vieles zu sagen haben. Weil das Reine Beobachten die Dinge immer wieder neu sieht, ohne die nivellierende Wirkung gewohnheitsmäßiger Urteile, deshalb werden die Dinge auch häufiger Neues zu sagen haben. Das geduldige Innehalten beim Reinen Beobachten eröffnet manchmal gleichsam mühelos tiefe Einblicke und erschließt verborgene Beziehungen, die sich dem ungeduldigen Zerren eines allzu aggressiven Intellekts versagen. Das entweder vorschnelle oder gewohnheitsmäßige Be-werten oder Behandeln der Dinge (in Tat und Gedanke) versperrt oft wichtige Erkenntnisquellen. Der westliche Geist muß vom östlichen wieder lernen, sich auch rein empfangend verhalten zu können und dies nicht nur als ein Mittel der Stillewerdung, sondern auch der Erkenntnis.
Es sollen nun einige Beispiele dafür gegeben werden, wie das Reine Beobachten zur Erkenntnis des menschlichen Geistes beitragen kann.
Im Licht des Reinen Beobachtens wird der scheinbar einheitliche Vorgang eines einzelnen Wahrnehmungsaktes allmählich deutlich werden als eine schnell ablaufende Folge mehrerer, differenzierter Phasen, von denen jede ihre eigene Funktion zum Endergebnis eines vollständigen Erkenntnisaktes beiträgt. Wenn wir einen Gegenstand sehen, z.B. eine große, rote Rose, so glauben wir gewöhnlich, daß dies ein einheitlicher, uns unmittelbar gegebener Seheindruck ist. Doch was wir zu allererst wahrnehmen, ist bloß ein Farbfleck, der sich von seiner Umgebung in Farbe und Umrissen absetzt. Einzelheiten der Form und Struktur werden erst durch eine Folge weiterer, schnell ablaufender Wahrnehmungsakte hinzugefügt, die den Gegenstand gleichsam von allen Seiten abtasten. Wenn es sich um ein für den Betrachter neues oder nur selten wahrgenommenes Objekt handelt, so wird dieser Vorgang des Sammelns von Einzelmerkmalen dem Bewußtsein viel deutlicher werden als bei einem vertrauten Objekt.
Die Bezeichnung «Rose» aber, die wir scheinbar gleichzeitig jener Sehwahrnehmung geben, gehört zu einer ganz anderen Bewußtseinsklasse (nämlich zum geistigen Bewußtsein und nicht zum Sehbewußtsein) und stammt aus Erinnerungsbildern ähnlicher Sehwahrnehmun-gen und deren gewohnheitsmäßiger Assoziierung mit dem Wort «Rose». Und wiederum etwas gänzlich Verschiedenes ist das Werturteil «schön» und ein etwaiger Wunsch des Besit-zenwollens. Zunehmende Schärfe und Verfeinerung des Beobachtens wird eine Fülle wei-terer Einzeltatsachen zu Tage fördern, die wertvolle Einsichten vermitteln können, nicht nur über den Gegenstand selber, sondern auch über den Erkenntnisakt. Es dürfte auch unmittelbar klar sein, wie wichtig und auf schlußreich es ist, die Stadien der Begriffsbildung und Bewertung vom reinen Wahrnehmungsakt zu unterscheiden.
Bei einer methodischen Übung im Reinen Beobachten wird wahrscheinlich der erste starke Eindruck sein: die direkte und ständige Konfrontierung mit der allgegenwärtigen Vergänglichkeit, dem unaufhörlichen Wechsel. In der Lehre des Buddha ist die Vergänglich-keit (anicca) das erste der drei Merkmale aller Daseinsgebilde. Das Reine Beobachten zeigt uns nun bei uns selber, wie die einzelnen körperlichen und geistigen Vorgänge unaufhörlich geboren werden und sterben: und dies wird zu einer eindringlichen, hundertfältigen Illustrie-rung des Vergänglichkeitsmerkmals werden. Besonders eindrucksvoll wird dies sein bei den eigenen Gedanken und Gefühlen, mit denen sich ja der Mensch hauptsächlich identifiziert. Dieses Erlebnis der Wandelbarkeit wird im Verlauf der meditativen Übung an Stärke und Nachdruck gewinnen, und allmählich werden auch die anderen beiden Merkmale des Daseins, die Ich- und Substanilosigkeit (anattā), sowie die Leidhaftigkeit und Unzulänglich-keit (dukkha)bei eben denselben Meditationsobjekten zu Tatsachen eigener Erfahrung werden und nicht bloß abstrakte Begriffe bleiben. Solches Erfahrungswissen von der Ver-gänglichkeit ist aber der Einsatzpunkt für die Klarblicksmeditation (vipassanā-bhāvanā), deren Erkenntnisstufen mit der Einsicht in das Entstehen und Vergehen (udayabbaya-ñāna) der körperlichen und geistigen Vorgänge beginnen.
Obwohl die Tatsache der Vergänglichkeit alles Geschehens so allgemein bekannt ist, daß es nahezu banal ist, davon zu sprechen, so denken doch die meisten Menschen nur dann daran, wenn diese Vergänglichkeit sie persönlich, und meist schmerzhaft, berührt. Doch durch die Übung des Reinen Beobachtens wird es uns erst so recht zum Bewußtsein kommen, daß Vergänglichkeit unser ständiger Begleiter ist und daß selbst im Bruchteil einer Sekunde eine Veränderungsfrequenz abläuft, die sich dem normalen Beobachtungs- und Vorstellungsvermögen entzieht. Vielleicht zum erstenmal wird uns dann die wirkliche Be-schaffenheit der Welt, in der wir leben, zum vollen Bewußtsein kommen; nämlich ihre rest-los dynamische Natur, innerhalb deren statische Begriffe nur praktisch orientierende oder wissenschaftlich und philosophisch ordnende Bedeutung haben können. Wir beginnen nun, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind; und dies gilt besonders von den «Dingen des Geistes», der geistigen Dingwelt. Das Geistige im Menschen kann in keiner seiner Äuße-rungen verstanden werden, ohne daß man weiß und sich auch dessen bewußt bleibt, daß es durch und durch dynamisch, d. h. wandelbar ist.
Indem das Reine Beobachten dem übenden direkten Einblick gewährt in die Tatsache und die Natur der Veränderlichkeit, leistet es einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnis des Geistes. Die Tatsache der Veränderlichkeit wird jede statische Konzeption des Geistes ausschließen, d. h. den Glauben an unveränderliche psychische Substanzen in monistischer oder pluralistischer Form, sowie an unveränderliche Eigenschaften. Der Einblick in die Natur der Veränderlichkeit wird eine Fülle von Einzelheiten bieten über die dynamische Natur der geistigen Vorgänge; über den unterschiedlichen Charakter der körperlichen und geistigen Abläufe und ihre Wechselwirkung; sowie über die «Objektbindung» des Bewußtseins, das nach einer alten buddhistischen Definition eben in der Objekterkenntnis besteht. Es wird deutlich werden, daß der Geist nichts anderes ist als seine erkennende Funktion und daß sich dahinter keinerlei beharrende individuelle oder Seelensubstanz birgt. So wird der das Reine Beobachten Pflegende durch eigene Erfahrung zur Nicht-Ich-Lehre des Buddha(anattā) geführt werden.
Diese so einfache Methode des Reinen Beobachtens wird uns auch ebenso überra-schende wie hilfreiche Einsichten geben in den Mechanismus unserer Gefühle und Leiden-schaften, in die größere oder geringere Zuverlässigkeit unserer Denkfunktion, in unsere wahren oder vorgeschobenen Motive, unsere Vorurteile usw. Helles Licht wird fallen auf die schwachen wie auch starken Seiten unseres Charakters, und solche Selbsterkenntis wird unser Bemühen um Geistesschulung und Charakterbildung erfolgreicher machen. Dieser hier kurz umrissene Dienst des Reinen Beobachtens an der Erkenntnis des eigenen Geistes und der Dingwelt deckt sich mit der Haltung des echten Forschers und Wissenschaftlers: klare Bestimmung des Gegenstandes und der Begriffe, Ausschaltung oder doch Reduzierung des subjektiven Faktors, wache Aufnahmebereitschaft für die aus den Dingen selber kommende Belehrung, Zurückstellung des eigenen Urteils bis nach sorgfältiger und allseitiger Prüfung. Dieser echte Forschergeist, der sich in der Grundhaltung des Reinen Beobachtens manifestiert, wird die Buddha-Lehre stets dem Geiste wahrer Wissenschaft verbinden, wenn auch nicht notwendig jedem ihrer ja stets nur provisorischen Ergebnisse. Doch die Zwecke der Buddha-Lehre wie auch des Reinen Beobachtens sind nicht die der Wissenschaft und beschränken sich auch nicht auf die rein theoretische Erkenntnis des Geistes und seiner Inhalte. Sie richten sich vielmehr auf die Geistes- und Lebens-Formung.
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