Mittwoch, 21. Dezember 2011

Auf dem Weg zu Freud: Ribots Assoziationspsychologie und Charcots Hysteriker

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Die Geschichte der Psychoanalyse ist bisher vor allem aus der Perspektive ihres Begründers Sigmund Freud erzählt worden. Der renommierte, in New York lehrende Psychiater George Makari erweitert diesen Zugang: neues Archivmaterial und zehnjährige Forschungsarbeit haben es ermöglicht, unterschiedliche Sichtweisen zusammenzuführen und die Geburtsstunde der Psychoanalyse von 1870 bis 1945 nachzuvollziehen.

Makari ordnet Freuds frühe psychologische Arbeit in den Kontext der Zeit ein und zeigt Freud als kreativen, interdisziplinären Forscher, der auf der Grundlage bestehender Studiengebieten die weiterführende Freud´sche Theorie entwickelt hat. Der Autor folgt den heterogenen Wegen der jungen Psychoanalyse bis zum Weggang von Bleuler, Jung und Adler. Er schließt die Zeit der oft vernachlässigten Weimarer Phase ein und beschreibt ihren Versuch, eine pluralistischere psychoanalytische Gemeinschaft aufzubauen.

George Makari »Revolution der Seele« ist jetzt erstmals in deutscher Übersetzung beim Psychosozial-Verlag erschienen. Faust veröffentlicht einen Auszug aus dem ersten Teil.
KAPITEL-AUSZUG


Die Entstehung der Freud’schen Theorie

1. Die Wissenschaft im Sinn



Von George Makari

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»Es ist falsch zu sagen:
Ich denke: man müßte sagen:
Es denkt mich. […]
Ich ist ein anderer.«
Arthur Rimbaud (1979)


Als die Aufklärung den wissenschaftlichen Rationalismus nach oben auf die Himmelskörper ausdehnte und nach unten auf das Gewusel mikroskopischen Lebens, da gab es einen Gegenstand, zu dem scheinbar unmöglich vorgedrungen werden konnte: die Psyche. Der französische Verfechter der Wissenschaft und des rationalen Skeptizismus, René Descartes, begründete dies in seiner Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, indem er erklärte, dass das Ich jenseits einer rationalen Prüfung liege, denn es sei nichts anderes als die von den Kirchenvätern beschriebene immaterielle Seele (1637, S. 31–32). Religiöse Überzeugungen bezüglich des Seelenlebens erwiesen sich als langlebig und einflussreich, doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen solche Vorstellungen etwas an Glaubwürdigkeit zu verlieren, und in dem verloren gegangenen Grund und Boden schlug eine Wissenschaft des Geisteslebens Wurzeln. Als Sigmund Freud 1885 in Paris eintraf, hatte sich Frankreich als Zentrum für innovative Forschung zu psychologischen Fragestellungen etabliert. In Berlin und Wien bemühten sich wenige Wissenschaftler um die Erforschung der Psyche, des Ichs, der Seele, des Selbst oder des Geistes – Bereiche, die mit Religion oder spekulativer Metaphysik behaftet waren. In Paris jedoch wurden die Wissenschaftler dank einer neuen Methode vom Studium des Seelenlebens angezogen. Diese Methode, die »psychologie nouvelle«, verwandelte Frankreich in eine Brutstätte des Studiums des Somnambulismus, menschlicher Automatismen, der multiplen Persönlichkeit, des doppelten Bewusstseins und des zweiten Selbst sowie von Dämonismus, Dämmerzuständen, Wachträumen und dem Gesundbeten. Die Wunderlichen und die Wundertätigen fanden den Weg von abgeschiedenen Dörfern, Klöstern und Jahrmärkten, von Exorzisten, Scharlatanen und betagten Heilmagnetiseuren in die Hallen der französischen Wissenschaft. Die Geburt dieser neuen Psychologie fand statt, als Frankreich selbst wiedergeboren wurde. Fast ein Jahrhundert nach der Revolution unterlagen die Franzosen 1870 schmachvoll den Preußen, was zum Sturz Kaiser Louis Napoleons III. und zur Gründung der Dritten Republik führte. Viele gaben die Schuld für dieses militärische Debakel der französischen Wissenschaft, da diese mit den Fortschritten, die in deutschen Ländern gemacht worden waren, nicht Schritt gehalten hatte. Der französische Republikanismus verband den Antiklerikalismus mit der Verpflichtung, die Wissenschaft neu zu beleben. Als die Autorität der französischen katholischen Kirche hinsichtlich der Bestimmung des Denkens über die Seele schwand, bildete sich eine kühne, neue wissenschaftliche Psychologie heraus.

Zur damaligen Zeit wurde die Psychologie als ein Ableger der Philosophie betrachtet und nicht als Naturwissenschaft, doch der Vorkämpfer der »psychologie nouvelle«, Théodule Ribot, schickte sich an, dies zu ändern (Nicolas & Murray 1999, 277–301). Théodule wurde 1839 als Sohn eines Kleinstadtapothekers geboren und später von seinem Vater gezwungen, in den Staatsdienst zu gehen. Nach drei Jahren Plackerei kündigte er an, dass er nach Paris gehen und versuchen würde, an der Elitehochschule École normale supérieure aufgenommen zu werden. Zwei Jahre später erhielt Ribot einen Platz an dieser Universität, wo er schnell eine Abneigung gegen die vorherrschende, von Victor Cousin vertretene spiritistisch orientierte Philosophie entwickelte. Cousins Psychologie – eine seltsame Mixtur aus Vernunft und Glauben – vermischte Vorstellungen von der Seele und von Gott mit naturalistischen Darstellungen des Geistes.

Ribot konnte das nicht ertragen. Trotz der Anprangerung durch den ortsansässigen Klerus machte er sich auf die Suche nach einer Methode, durch die die Psychologie für wissenschaftliche Untersuchungen voll zugänglich würde. Ribot tauchte in die Schriften britischer Denker ein und erschien 1870 mit La Psychologie anglaise contemporaine (école expérimentale) (1) auf der Bildfläche. Ungeachtet des nüchternen Titels wurde das Buch von einem kühnen Manifest eingeleitet, das die Psychologie in Frankreich über Jahrzehnte bestimmen würde.

Konventionelle Vorstellungen sowohl der Philosophie als auch der Naturwissenschaft machten das objektive Studium des Geistes unmöglich, erklärte Ribot. Er attackierte Philosophien wie die von Descartes und Cousin und beharrte darauf, dass sich die Psychologie von der Metaphysik und Religion befreien müsse. Psychologen könnten nicht zu metaphysischen Fragen Stellung nehmen oder offen von der Seele sprechen; und sie könnten sich nicht auf die praxisfernen Methoden der Philosophie stützen, sondern müssten die naturwissenschaftlichen Methoden anwenden (ebd., S. 21–22).

Für all das hatte Ribot ein begieriges Publikum. Viele seiner Zeitgenossen waren bereit, ältere Philosophien der Seele zugunsten der naturwissenschaftlichen Erforschung über Bord zu werfen. Doch wie sollte die Psychologie in eine Wissenschaft umgearbeitet werden? Um diese Frage zu beantworten, griff Ribot eine andere Gruppe Kritiker auf, angeführt von Auguste Comte, dem glühenden Vordenker der Wissenschaft (Guillin 2004, S. 165–181). Obwohl er ein unstetes Leben als gesellschaftlicher Außenseiter führte, errang Auguste Comte außerordentlichen Einfluss auf die Intellektuellen, Politiker und Wissenschaftler des späten 19. Jahrhunderts. 1855 legte der Franzose einen Werdegang der gesamten menschlichen Erkenntnis dar und erklärte, dass Theologie, Mythen und Belletristik das primitivste Stadium bildeten, welches sich dann zum zweiten Stadium weiterentwickelte, das der metaphysischen Abstraktion. Schließlich würden die philosophischen Vorstellungen vom vollendeten Wissensstand übertroffen, der wissenschaftlich und »positiv« war. Comtes Konzept erhielt daher die Bezeichnung »Positivismus« (s. Comte 1855). Mit dem Aufkommen der Dritten Republik im Jahr 1870 wurde Comtes Vorstellung von der Entwicklung der politischen Elite Frankreichs als Muster sowohl für die Wissenschaft als auch für die soziale Reform angenommen.

Comtes Denken brachte Ribot in eine schwere Zwickmühle, denn der Begründer des Positivismus glaubte, dass der psychologischen Erkenntnis ein unlösbares Problem zugrunde lag. Psychologen bauten auf Selbstbeobachtungen, um Dinge wie Gedanken, Gefühle und Begehren aufzudecken. Genau solche innere Beobachtungen – das Wissen, das von einem sich selbst beobachtenden Geist stammte – erzeugten Subjektivität. Daher kam Comte zu dem Schluss, dass die Psychologie niemals objektiv sein könne, und seine kurze Bestandsaufnahme früherer Bemühungen schien diese vernichtende Feststellung zu stützen:

»Nach zweitausend Jahren des psychologischen Strebens ist kein einziges für ihre Anhänger befriedigendes Theorem aufgestellt worden. Bis zum heutigen Tag spalten sie sich in eine Vielzahl von Schulen auf und streiten sich noch immer über die absoluten Grundbegriffe ihrer Lehre. Diese innere Beobachtung lässt fast so viele Theorien entstehen, wie es Beobachter gibt« (ebd., S. 33).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts musste jeder, der versuchte, die Grundlagen für eine wissenschaftliche Psychologie zu schaffen – John Stuart Mill in England, Franz Brentano in Österreich und William James in den Vereinigten Staaten eingeschlossen –, gegen Auguste Comtes niederschmetternde Anklage antreten.
mehr:
- George Makari, Revolution der Seele – Die Geburt der Psychoanalyse (FaustKultur, 21.12.2011)
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Der Text-Ausschnitt entspricht den Buchseiten 17–42, Kapitel 1.1.1 und 1.1.2. 
© Psychosozial Verlag
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siehe auch:
Kurzüberblick Psychologische Schulen (arbeitsblaetter.stangl-taller.at, undatiert)
Kleine Psychologiegeschichte 1000-1900 (Mueller Science, undatiert)
Die Theorie der Psychoanalyse (Post, 09.03.2018)
Sigmund Freud, Das Unbewußte (1915) (Post, 09.03.2018)
Gustave Le Bon – Psychologie der Massen (Post, 29.01.2018)
Sigmund Freud: » Ihm verdanken wir die umfassendste Theorie der Seele.« (Post, 31.01.2017)
Vor 116 Jahren: Sigmund Freud veröffentlich »Die Traumdeutung« (Post, 05.11.2015)
Bizarre Forschung – Showtime in der Nervenklinik (Fabienne Hurst, SPON, 22.01.2013)
- Charcot und die Ätiologie der Neurosen (Esther Fischer-Homberger, fischer-homberger.ch.galvani.ch-meta.net, 1971 – PDF)
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Sonntag, 4. Dezember 2011

Nachtmeerfahrten, Sabina Spielrein und eine Flaschenpost an Verena Kast

In dem sehenswerten Film Nachtmeerfahrten von Rüdiger Sünner über die Gedankenwelt des Freud-Schülers C. G. Jung wird auch der sexuelle Mißbrauch von Sabina Spielrein durch ihren Psychotherapeuten C. G. Jung angesprochen.

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»1905–1909 war Spielrein Analysandin und – im Anfangsstadium der Psychoanalyse – für kurze Zeit Geliebte von C.G. Jung. Aufgrund dieser ›therapeutischen Grenzverletzung‹ begann C.G. Jung 1906 mit Sigmund Freud einen Briefwechsel, woraufhin – was die Geburtsstunde der Lehranalyse darstellt – dieser an dem Diktum der Psychoanalyse arbeitete, dass jeder Analytiker zunächst selbst als Analysand eine Analyse durchlaufen muss, bevor er Patienten betreut. Die Analyse Spielreins bei Jung endete 1909 abrupt.«  [Sabina Spielrein, Wikipedia]
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»Am 25. April 1905 begann Sabina Spielrein ihr Medizinstudium an der Universität Zürich. Im Herbst betrachtete C. G. Jung die Therapie für beendet. Einige Zeit später ließ er sich auf eine kurze Affäre mit Sabina Spielrein ein, obwohl eine persönliche Beziehung von Therapeut und Patientin als schwer wiegender Kunstfehler galt und ihm die Mechanismen der so genannten Übertragung geläufig waren. Durch einen anonymen – möglicherweise von Jungs Ehefrau Emma geschriebenen – Brief wurden Nikolai Arkadjewitsch und Eva Markowna Spielrein im Winter 1908/09 auf das Verhältnis ihrer Tochter aufmerksam gemacht. Entrüstet reiste die Mutter nach Zürich. Carl Gustav Jung war zwar nicht bereit, mit ihr zu sprechen, aber er beendete die Liebschaft aus Angst vor einem Skandal. Am 7. März 1909 schrieb er seinem früheren Lehrer Sigmund Freud (1856 - 1939), dem in Wien lebenden Begründer der Psychoanalyse: ›Sie [Sabina Spielrein] machte mir einen wüsten Skandal ausschließlich deshalb, weil ich auf das Vergnügen verzichtete, ihr ein Kind zu zeugen.‹ Die junge Frau wandte sich in ihrer Verzweiflung am 30. Mai 1909 ebenfalls an Sigmund Freud und bat ihn, sie zu empfangen, aber das lehnte er zunächst ab. Jung klagte am 4. Juni in einem weiteren Schreiben an Freud: ›Sie hatte es natürlich planmäßig auf meine Verführung abgesehen, was ich für inopportun hielt. Nun sorgt sie für Rache.‹ Freud versuchte ihn zu beruhigen: ›Kleine Laboratoriumsexplosionen werden bei der Natur des Stoffes, mit dem wir arbeiten, nie zu vermeiden sein.‹ Und am 10. Juli 1909 bedankte C. G. Jung sich bei Freud für die Unterstützung in der ›Spielrein-Angelegenheit‹. Dieser Briefwechsel von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung zeugt von einer männlichen Kumpanei gegen eine verzweifelte Frau, die sich aus Liebeskummer mit Selbstmordgedanken trug« [Sabina Spielrein 1885 - 1942 / Biografie, Dieter Wunderlich, Hervorhebungen von mir]

Sowohl der Mißbrauch wie auch der Umgang der beiden bekanntesten Psychoanalytiker mit dieser Grenzüberschreitung werden in folgenden Büchern wohl am ausführlichsten beschrieben:
»Tagebuch einer Heimlichen Symmetrie« (Hrsg. A. Carotenuto),
»Sabina Spielrein: Tagebuch und Briefe. Die Frau zwischen Jung und Freud« (Hrsg. Traute Hensch) und
»Eine gefährliche Methode: Freud, Jung und Sabina Spielrein« (John Kerr).

Ein paar Links:
Zur Geschichte des Sexuellen Mißbrauch in der Psychoanalyse und Analytischen Psychotherapie bei sgipt.org
Bernd Nitzschke über die Uraufführung des Films "Ich hieß Sabina Spielrein" bei Werkblatt.at
Eine dunkle Begierde – Psychoanalyse für alle bei fluter
Was will der Mann? bei NZZ Online
A dangerous method in Filmspaicher, dem SWR Kino-Blog
Sabina Nikolajevna Spielrein bei NZZ Online



Zur Bedeutung und »Entwicklungsgeschichte« des Begriffs »Übertragung« einige Absätze aus »Das Vokabular der Psychoanalyse« (J. Laplanche, J.-B. Pontalis):

Übertragung
Bezeichnet in der Psychoanalyse den Vorgang, wodurch die unbewußten Wünsche an bestimmten Objekten im Rahmen eines bestimmten Beziehungstypus, der sich mit diesen Objekten ergeben hat, aktualisiert werden. Dies ist in höchstem Maße im Rahmen der analytischen Beziehung der Fall.Es handelt sich dabei um die Wiederholung infantiler Vorbilder, die mit einem besonderen Gefühl von Aktualität erlebt werden.Was die Psychoanalytiker ›Übertragung‹ nennen ist meistens die Übertragung in der Behandlung, ohne nähere Bestimmung.Die Übertragung wird klassisch als das Feld angesehen, auf dem sich die Problamtik einer psychoanalytischen Behandlung abspielt, deren Beginn, deren Modalitäten, die gegebenen Deutungen und die sich daraus ableitenden Folgerungen.
… Ebenso hat die Übertragung bei den unmittelbaren Vorläufern der Analyse, im Fall der Anna O., die von Breuer nach der »kathartischen Methode« behandelt wurde [bis 1882, Jahresangabe von mir], ihre weitreichenden Wirkungen gezeigt, lange bevor der Therapeut sie als solche identifizieren und gar benutzen konnte [Über die Folgen dieser Episode berichtet Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bd. I, S. 288, 334, 359 f., 421.]. Ebenso besteht bei Freud in der Geschichte des Begriffes eine Verschiebung zwischen den expliziten Konzeptionen und der effektiven Erfahrung, eine Verschiebung, die er auf seine eigenen Kosten selbst erfahren mußte, wie er anläßlich des Falles Dora schreibt. Derjenige, der die Entwicklung des Übertragungsbegriffs in Freuds Denken nachzeichnen wollte, müßte demnach das Spiel der Übertragung in den uns überlieferten Falldarstellungen finden, auch für die Zeit, die vor der Formulierung des Begriffs liegt.
[…]
Es scheint demnach, daß die Übertragung von Feud zunächst als etwas bezeichnet wurde, das nicht zm Wesen der therapeutischen Beziehung gehört. Dieser Gedanke findet sich selbst im Fall Dora [Sigmund Feud: Bruchstücke einer Hysterie-Analyse, 1905, kursiv im Original], wo die Rolle der Übertragung immerhin als wichtig erscheint, so daß Freud in dem kritischen Kommentar, den er dem Fallbericht hinzufügt, den verfrühten Abbruch der Behandlung einer unterlassenen Deutung der Übertragung zuschreibt. Viele Äußerungen zeigen, daß Freud die Gesamtheit der Behandlung in ihrer Struktur und ihrer Dynamik nicht mit einer Übertragungsbeziehung gleichsetzt: »Was sind Übertragungen? Es sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewußt gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes« [Freud, S. Bruchstücke einer Hysterie-Analyse, 1905. G. W., V, 279; S. E., VII, 116; frz., 86-87.] Bei diesen Übertragungen (man vermerke den Plural) weist Freud darauf hin, daß sie ihrer Natur nach nicht anders sind, ob sie nun dem Analytiker oder irgendeiner anderen Person gelten, und daß sie andererseits keine Verbündeten für die Behandlung bilden, es sei denn unter der Bedingung, erklärt und »zerstört« zu werden, eine nach der anderen.
Die progressive Integration der Entdeckung des Ödipuskomplexes mußte die Auffassung beeinflussen, die Freud von der Übertragung hatte. Ferenczi hatte bereits 1909 [Vgl. Ferenczi, S., »Introjection and transference, 1909, in First Contr., 35-93] gezeigt, wie der Patient in der Analyse, aber bereits bei der Suggestions- und Hypnosetechnik, den Arzt unbewußt die Rolle der geliebten oder gefürchteten Elternfiguren spielen läßt. In der ersten Gesamtdarstellung, die Freud der Übertragung widmet (1912), betont er, daß die Übertragung an »Vorbilder« geknüpft wird, an »Imagines« (hauptsächlich Vaterimago, aber auch Mutter-, Bruderimago etc.), und »… den Arzt in eine der psychischen ›Reihen‹ (einfügt), die der Leidende bisher gebildet hat« [G. W., VIII, 365; S. E. XII, 100; frz. 51.].
Freud entdeckt, wie sehr die Beziehung des Subjekts zu den Elternfiguren mit der besonderen Triebambivalenz, die sie auszeichnet, in der Übertragung wiedererlebt wird: »Er [der Rattenmann] mußte sich also die Überzeugung, daß sein Verhältnis zum Vater wirklich jene unbewußte Ergänzung erforderte, erst auf dem schmerzhaften Wege der Übertragung erwerben« [Freud, S., Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, 1909. G. W., X, 134-135; S. E., XII, 154; frz. 113]. In diesem Sinne unterscheidet Freud zwei Übertragungen: eine positive und eine negative, eine Übertragung zärtlicher Gefühle und eine Übertragung feindseliger Gefühle [›Positiv‹ und ›negativ‹ bezeichnen hier die Natur der übertragneen Affekte und nicht den günstigen oder ungünstigen widerhall der Übertragung auf die Behandlung. Nach Daniel Lagach »… wären die Ausdrücke positive und negative Übertragungseffekte verständlicher und exkter. Man weiß, daß die Übertragung positiver Gefühle negative Effekte haben kann: umgekehrt kann der Ausdruck negativer Gefühle einen entscheidenden Fortschritt bilden…«]. Man merkt hier die Verwandtschaft dieser Ausdrücke mit der positiven und negativen Komponente des Ödipuskomplexes.
Diese Erweiterung des Übertragungsbegriffes, die aus der Übertragung einen strukturierenden Vorgang der ganzen Behandlung macht, führt zur Entwicklung eines neuen Begriffs durch Freud, des Begriffs der Übertragungsneurose: »… (es) gelingt uns regelmäßig, allen Symptomen der Krankheit eine neue Übertragungsbedeutung zu geben, seine [des Patienten] gemeine Neurose durch eine Übertragungsneurose zu ersetzen, von der er durch die therapeutische Arbeit geheilt werden kann.« [Freud, S., Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten, 1914. G. W. X, 134-135; S. E. XII, 154; frz. 113]

J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, S. 550 [der Übersicht halber sind die wichtigen Textstellen – abgesehen von der reinen Definition zu Beginn – von mir fett gesetzt.]



Anhaltende Probleme mit der Handhabung der Übertragung
Die tief greifende Beunruhigung, die durch die Entdeckung der Übertragung im Menschen, Arzt und Wissenschaftler Freud entstanden war, hat angehalten. Nach der Entdeckung 1895 (s. Entwurf einer Psychologie in: Freud, 1950a Entwurf einer Psychologie) hat Freud die Bedeutung der Übertragung als wesentlichem therapeutischem Faktor im Nachwort zu Dora unterstrichen. Dass wir die Übertragung durch Bewußtmachen »vernichten«, entstammt dem Nachwort zur Dora, zum Bruchstück einer Hysterie-Analyse (Freud 1905e), die im Dezember 1900 beendet und als Krankengeschichte im Januar 1901 geschrieben worden war. Später heißt es in den Vorlesungen (1916-17), dass wir den Patienten »nötigen müssen, um ihn vom Wiederholen zum Erinnern zu bringen«.
Das ist eines der vielen Anzeichen dafür, daß die Beunruhigung angehalten hat. Die zwischenzeitlich formalisierten Behandlungsregeln, deren Übertragung zu erleichtern, hatten die Probleme nicht lösen können. Die aggressive Bedeutung der von Freud gewählten Metaphern (Zersetzung, Vernichtung) lässt vermuten dass die aktuell, situative Wahrheit, also der realistische Anteil jeder Übertragung, auch Freud schmerzlich berührte.



Sabina Spielrein (1885-1942) und C. G. Jung (1875-1961) hatten eine Liebesaffäre, die als therapeutischer Mißbrauch anzusehen ist. Den Briefwechsel zwischen C. G. Jung und Sigmund Freud (1856-1939) bezüglich dieser Affäre ist so zu interpretieren: Die beiden Männer verbünden sich und konstruieren eine gemeinsame Interpretationsrealität, in welcher sie den Mißbrauch durch Jung bagatellisieren, der Patientin unterstellen zu agieren und sie dadurch entwerten. Bis zu diesem Punkt sind die Rollen klar verteilt: beim sexuellen Mißbrauch ein Opfer und ein Täter und dann bei der psychotherapeutischen Kommunikationsverweigerung die beiden männlichen Therapeuten, die sich miteinander verbünden und das Opfer noch ein zweites Mal zum Opfer machen.

Sabina Spielrein war 1905 20 Jahre alt (sie war von August 1904 bis Juni 1905 in der Klinik Burghölzli, schrieb sich jedoch schon im Frühjahr 1905 als Medizinstudentin ein), C. G. Jung 30 Jahre und Sigmund Freud 49 Jahre alt. Sigmund Freud war seit 14 Jahren (seit 1891) in seiner Praxis in der Berggasse psychotherapeutisch tätig und befand sich noch in der Guerilla-Phase (siehe die nachträgliche Beurteilung der Entwicklung der Psychoanalyse durch Ferenczi). C. G. Jung arbeitete seit 1900 als Assistent von Eugen Bleuler in der Psychiatrischen Universitätsklinik »Burghölzli« in Zürich und nahm an der Patientin und angehenden Kollegin – die sie ja dann auch später tatsächlich wurde – Sabina Spielrein seine erste psychoanalytische Therapie vor – natürlich ohne Supervision. Freud veröffentlichte 1905 zum ersten Mal eine Arbeit, in welcher er den Begriff der Übertragung verwendete. 1907 sahen sich C. G. Jung und Sigmund Freud zum ersten Mal.

Ich darf davon ausgehen, daß sowohl C. G. Jung wie auch Sigmund Freud eine Art Sendungsbewußtsein mit sich herumtrugen. Auch wenn es theatralisch überhöht klingen sollte: Beide Männer sahen sich als und waren auch tatsächlich schwanger mit einer wichtigen Botschaft an die Menschheit.

Man achte auf den bei dieterwunderlich.de (3. Absatz dieses Posts) von mir fett gesetzten Satz, in welchem C. G. Jung zugeschrieben wird, er habe von den Mechanismen der so genannten Übertragung gewußt. Nach dem angeführten Text aus dem »Vokabular der Psychoanalyse« erstellte Sigmund Freud  seine erste Gesamtübersicht über das Phänomen der Übertragung im Jahre 1912, sieben Jahre nach der Affäre. Eine erste Erwähnung des Begriffs »Übertragung« in einer Veröffentlichung erfolgt 1905, im Jahr der Affäre (in dem Jahr, in welchem C. G. Jung mit seiner ersten Analyse – an Sabina Spielrein – begann, ohne fachliche Begleitung im Hintergrund). Wenn man auch nur ein wenig guten Willens ist: Bei der Lektüre beider Textauszüge wird offenbar, daß über den gesamten dargestellten Zeitraum (Anna O., 1882 bis Einführung des Begriffs Übertragungsneurose 1914) das Phänomen in seiner Gesamtheit und Dynamik – auch der Dynamik für den Behandler (!!) – nicht wirklich verstanden wurde.
Aus heutiger Sicht ging C. G. Jung eine Affäre ein, in der er seine Analysandin – und angehende Kollegin – auf Augenhöhe wähnte, dies aber aufgrund der analytischen Beziehung – wie wir heute wissen – gar nicht möglich war. Konnte/mußte C. G. Jung dies wissen? Spielrein war zwar ein Jahr zuvor seine Patientin in der Psychiatrie, jedoch war offenbar, daß er dieser Frau sehr geholfen hatte und diese – man sehe sich die Auflistung untenstehender Symptome an – sogar mit einem Medizinstudium begonnen hatte und sich für Psychoanalyse begeisterte. (Man schaue sich die spätere Entwicklung an, die Begriffe »Libido« und »Todestrieb« stammen von ihr!)
Dies ist den auf der Bühne der geschichtlichen Betrachtung Agierenden zugutezuhalten. Vor 100 Jahren begab sich ein Therapeut in ein psychisches Feld, welches er – im Gegensatz zu heute – nicht zu überschauen vermochte. (Und ich gebe unumwunden zu, daß mir dies mit meinen Patienten selbst immer wieder passiert, daß ich reinfalle. Doch, Dank meiner beruflichen Vorgänger weiß ich mich und meine Patienten besser zu schützen.)
Natürlich ist, was zwischen Jung und Spielrein passierte, eine Grenzüberschreitung. Aber Freud und Jung gehörten zu den Therapeuten, die sich so nahe an die Seelen der Leiden heranwagten, wie dies bis dahin nur Schamanen gewagt hatten! Als Therapeut muß man den Patienten in der eigenen Seele schwingen lassen können, und bei dem theoretischen Gerüst, welches C. G. Jung damals zur Verfügung stand (und der fehlenden Supervision), war das Ausrutschen auf einer Spielreinschen Bananenschale fast unvermeidlich. Zumal – man sehe sich die oben zitierten Symptome und Kindheitsgeschichte an – Sabina Spielreins Persönlichkeit mit Sicherheit ausgeprägte sogenannte früh- bzw. strukturgestörte Anteile aufwies. (Zitat einer hochgeschätzten Kollegin von mir in einem völlig anderen Zusammenhang: »Gegenüber Frühgestörten haben wir Therapeuten keine Chance, wir fallen immer rein. Wichtig ist nur, daß wir es merken.«)


»Sie war als Kind körperlicher Züchtigung durch den Vater ausgeliefert und wahrscheinlich auch sexueller Gewalt durch Erwachsene. Bereits mit drei Jahren litt sie an schweren körperlichen und seelischen Störungen, die sie die gesamte Jugendzeit quälten. So geriet sie beim Essen in Zwangsgelächter, begleitet von Pfuirufen und dem Herausstrecken der Zunge. Sie konnte die rechte Hand- die Züchtigungshand- des Vaters nicht mehr berühren, sie nicht einmal mehr ansehen, ohne sexuell erregt zu sein. Exzessive Onanie war die Folge. Sie konnte gelegentlich der Angst trotzen, indem sie sich als eine mit Macht ausgestattete Göttin phantasierte. Aber ihr Zustand verschlimmerte sich, mit 18 Jahren verfiel sie in Lach- und Schreikrämpfe, gefolgt von Weinkrämpfen mit Übergang in tiefe Depressionen. Den schulischen Anforderungen konnte sie indes nachkommen, sie machte das Abitur und lernte spielend Sprachen. […] Psychologische Konzepte, die in Theorie und Praxis Verrat an seelischer und körperlicher Unversehrtheit von Kindern, Frauen und Männern begehen und legitimieren, entsprechen nicht den Forderungen feministischer Ethik und Moral [Renate Höfer über Sabina Spielreins Kindheit und Jugend, zit. nach sgipt.org) [Wichtiges von mir fett gesetzt]

Sabina Spielreins Brief vom 30. Mai 1909 im Worlaut:

30. V.09

Sehr geehrter Herr Professor!
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir eine kleine Audienz erteilen könnten! Es handelt sich da um eine für mich aeusserst wichtige Angelegenheit, welche zu vernehmen Sie wahrscheinlich interessieren wird.
Wenn dies gienge möchte ich Sie höflichst bitten mir die Ihnen passende Stunde etwas vorher angeben zu wollen, da ich Unterärztin an der hiesigen Klinik bin und somit mir für die Zeit meiner Abwesenheit eine Stellvertreterinn besorgen müsste. |
Sie haben vielleicht an einen kühnen Sucherinn des Ruhmes gedacht, die Ihnen eine krüppelhafte »weltberühmte« Arbeit bringen will od. an was in der Art.
Nein, das ist es nicht, was mich zu Ihnen führt.
Sie haben mich auch in Verlegenheit gebracht. |
Hochachtungsvoll
Ihrer gütigen Antwort entgegensehend
S. Spielrein
Pens. Hohenstein Plattenstrasse 33
Zürich
(orthographisch exakt wiedergegeben nach A. Carotenuto (Hrsg.), Tagebuch einer Heimlichen Symmetrie – Sabina Spielrein)


Wenn ich Sigmund Freud wäre, würde mir der Brief Angst machen. Wie soll ich mit so etwas, mit so jemandem umgehen? Mache ich vielleicht die Büchse der Pandora auf, wenn ich mit dieser Person in Kontakt trete? Was will sie? Wie sehen meine Phantasien aus von dem, was sie wollen könnte? Was würde passieren, wenn ich mich für die Belange dieser Person öffne? Was würde mit mir, mit Jung, mit der Psychoanalyse passieren, wenn ich dieser Person Raum gebe, sich auszubreiten?


»Es wäre erheuchelte Gleichgültigkeit, hielten wir mit dem Ausdruck unserer Bewunderung darüber zurück, daß Freud, ohne sich um die sein Ansehen schmälernden Angriffe viel zu kümmern und trotz der empfindlichen Enttäuschung, die ihm auch Freunde bereiteten, auf dem einmal als richtig erkannten Weg beharrlich weiterschritt. Mit dem bitteren Humor eines Leonidas konnte er sich sagen: im Schatten der Verkanntheit werde ich wenigstens ruhig arbeiten können. Und so geschah es, daß diese Jahre der Verkanntheit für ihn Jahre des Heranreifens unvergänglicher Ideen und des Schaffens der bedeutsamsten Werke wurden. Welch unersetzlicher Schaden wäre es gewesen, hätte sich Freud statt dessen mit unfruchtbarer Polemik abgegeben. Die Angriffe, die gegen die Psychoanalyse gerichtet wurden, haben ja in der Überzahl der Fälle kaum die Beachtung verdient. Es waren zum Teil ohne jede persönliche Erfahrung, mit vorgefaßter Meinung, aus billigen Witzen und Schimpfwörtern zusammengefaßte Kritiken und Artikel. Manche hatten offensichtlich keinen anderen Zweck als den, das Wohlgefallen der einflußreichen Gegner der Analyse für sich zu gewinnen; es hätte sich gewiß nicht gelohnt, sich mit diesen abzugeben. Die offiziellen Größen der Psychiatrie begnügten sich aber meistens damit, von ihrer olympischen Höhe mit etwas komisch wirkendem Selbstbewußtsein ihr Verdammungsurteil herunterzudonnern, ohne sich die Mühe zu nehmen, dieses Urteil irgendwie zu begründen. Ihre stereotypen Phrasen begannen denn auch langweilig zu werden, sie verfielen dem Schicksal monotoner Geräusche, man überhörte sie und konnte ruhig weiterarbeiten. Das Nichtreagieren auf unwissenschaftliche Kritiken, das Meiden jeder sterilen Polemik bewährte sich also im ersten Verteidigungskampf der Psychoanalyse.«
(Freud und die ›Guerilla‹-Periode der Psychoanalyse bei Sándor Ferenczi, - Schriften zur Psychoanalyse, 1908-1933, zu finden bei textlog.de)



In dem Kommentar von Frau Kast – mehr als 100 Jahre nach dem Geschehen – vermisse ich ein einfühlsames Eingehen auf die Ängste der Täter. Sich so viele Jahre nach dem Geschehen auf eine negative moralische Bewertung der – auf Seiten Freuds einfachen, auf Seiten Jungs doppelten – Täterschaft der Männer, die Entwertung und das Abservieren der Patientin zurückzuziehen ist meines Erachtens unangemessen platt – und bequem und wird der Komplexität des Geschehens in keiner Weise gerecht. 100 Jahre später von einer Warte heraus zu urteilen, deren Fundamente die kritisierten Männer uns erst zur Verfügung gestellt haben, bedeutet zuerst eine nicht nachzuvollziehende Überhöhung ins Göttliche, wenn im Nachhinein Fähigkeiten gefordert werden, die nicht vorhanden sein konnten und im zweiten Schritt eine unglaubliche – und auch böswillige – Entwertung dieser Götter!


»Der Brief, den Freud an Sabina am 8.6.1909 schreibt, nachdem sie ihn informiert hat, dient nur einer einzigen Absicht, nämlich Jung zu schützen: er halte ihn einer leichtfertigen und unedlen Handlung für unfähig. Sie solle sich einer Selbstprüfung unterziehen, ihre Gefühle für Jung unterdrücken und vor allem keine ›äußere Aktion und Heranziehung dritter Personen‹ einleiten.« (zitiert nach sgipt.org)

Meine erste Frage: Gab es 1909 eine Chance für die beiden männlichen Psychotherapeuten, zu dem Geschehen zu stehen und gleichzeitig ihre Botschaft zu schützen?

Auch mit einem Abstand von 100 Jahren verharrt sogar die psychoanalytische Elite Deutschlands in der öffentlichen Diskussion auf der Ebene der (feministischen) moralischen Bewertung. Auch nach so langer Zeit wird die Täterrolle der beiden Männer nicht – bzw. nicht öffentlich – analysiert. Diese Tatsache finde ich beschämend und – ich höre schon den Aufschrei – rechtfertigt im Nachhinein das Verhalten der »Täter«. Angesichts der Tatsache, daß das, was geschah (Freud: »Wir wollen es ihnen schwermachen.«) auf einer Bühne geschah, in einem Theater mit Zuschauern, war das vertuschende Verhalten der beiden Männer nicht zu vermeiden. Und die Tatsache, daß sich niemand hinstellt und den Mut hat laut zu sagen: »Es ist äußerst tragisch, aber die beiden konnten angesichts des fehlenden theoretischen Überbaus und des herrschenden Zeitgeistes nicht anders.« erklärt im Nachhinein das Verhalten von Jung und Freud. Ich gehe sogar so weit zu sagen: Wir jetzt mit unserem heutigen Tun sind Teil des Problemfeldes. Und damit sind wir zu den Tätern geworden, indem wir die Deutungsmacht benutzen. (Dies ist ja gerade das, was Freud und Jung Spielrein gegenüber vorgeworfen wird.) Und das sollten wir akzeptieren anstatt auf denen herumzutrampeln, auf deren Schultern wir stehen, indem wir sie zu Tätern – und Sabina Spielrein zum Opfer – machen. Das ist schäbig, auch Sabina Spielrein gegenüber. Vielleicht war sie kein Opfer. Läßt sich ein Opfer nur zwei Jahre nach dem Mißbrauch in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufnehmen? (Ob sie da die erste Frau war, da geben die Quellen unterschiedliche Informationen.) Da kann doch etwas nicht stimmen! Ohne jeden Zweifel: Diese Frau hatte eine unglaubliche Stärke, und ich wage sogar die Behauptung: sie ist an dem Vorfall enorm gewachsen. (Ich höre schon die empörten Aufschreie…)

Meine zweite Frage: Was treibt die heutigen Therapeuten und Therapeutinnen, sich ihren »Vätern« gegenüber so zu verhalten? Könnte es Neid auf ihre Leistungen und ihre Größe sein? Neid auch auf die Chuzpe zweier Männer, die sich das Recht geben, eine Frau abzusägen, die die Überbringung der Botschaft stört? Oder die Weigerung in den Beneideten Angst wahrzunehmen? Die Weigerung, in den Tätern Angst wahrzunehmen als Schutz vor den Gefühlen eigener Hilflosigkeit in der Identifikation mit Sabina Spielrein? Könnte da noch eine alte Rechnung offen sein? Könnte es da eine Art Parallele geben zu der islamischen Macho-Mentalität, bei der sich die Frau verhüllen muß, damit der Mann seine Gefühle besser im Zaum halten kann oder bei der sich der Mann scheiden lassen darf, wenn ihm die Frau keine Kinder schenkt? Neid auf die Rücksichtslosigkeit der sich schützenden Männer? Könnte es die Abwehr der Bewußtwerdung sein, daß Männer vor Frauen genauso Angst haben wie diese vor Männern?
Was, wenn wir heute genauso in einem »Spiel« drinstecken wie die drei handelnden Personen damals? Was, wenn das heutige einseitige psychoanalytische Deuten des damaligen Geschehens als »Agieren« zu verstehen ist? Was und warum wird da agiert?
Hier muß anscheinend feministischerseits ein Feindbild aufgebaut bzw. aufrechterhalten werden. Warum? Wozu benötigt eine gestandene, erfolgreiche, hochangesehene Frau wie Verena Kast ein Feindbild? Kämpft sie gegen Jung, weil sie nie an ihn heranreichen wird? Kämpft sie gegen ihre Bewunderung seiner Leistung und seiner Person an? Wozu will sie Jung in der Täter- und Spielrein in der Opferrolle festhalten? Muß eine abgewiesene und unerhörte Frau unbedingt Opfer sein? Heißt Leiden automatisch »Opfer«? Warum wird das Leiden von Freud und Jung nicht gesehen? Haben die beiden nicht gelitten? Ist nicht ihre sogenannte »Kumpanei« Symptom ihres Leidens und ihrer Angst? Warum kann das nicht gesehen oder ausgesprochen werden? Warum wird wenige Zentimeter, bevor es zu fassen wäre, Halt gemacht und mit der moralischen Keule draufgehauen? Warum?
Ich schlage vor – und das mit vollem, integrem Ernst – diese Fragen in »freischwebender Aufmerksamkeit« oder, wie die Buddhisten sagen mit »wohlwollendem, nicht-urteilenden Gewahrsein« im Rampenlicht der inneren Aufmerksamkeit zu betrachten! – Diese Fragen verbergen eine enorm wichtige Lösung!

Was ist so schwer daran, mit den Tätern mitzufühlen oder sie zu verstehen zu versuchen?
Was ist so schwer daran, dies öffentlich zu tun?

Auf eine Antwort bin ich gespannt, gestehe aber auch meine Skepsis ein aufgrund des herrschenden Zeitgeistes (angebracht wäre vielleicht: aufgrund der herrschenden Zeitgeistin…). Vielleicht erreicht diese Flaschenpost auf Umwegen ja auch Frau Kast, die so souverän den »Forderungen feministischer Ethik und Moral« Folge zu leisten versteht – zumindest in den Medien…

Samstag, 3. Dezember 2011

Kränker als der Patient…

Ein junger Analytiker, dessen Kontrollanalytiker ich war, erzählte mir, eine seiner Patientinnen, eine junge Mutter, habe den größten Teil der Stunde damit zugebracht, ihm die schrecklichen Ängste zu beschreiben, die sie empfunden hatte, als ihr kleiner Sohn in der vorhergehenden Nacht plötzlich krank geworden war. Das Baby hatte hohes Fieber und Krämpfe gehabt, und die Mutter war wie von Sinnen, bis sie den Kinderarzt erreichen konnte. Während Sie meinem Schüler von den Ereignissen berichtete, weinte sie mehrmals. Als sie in Schweigen verfiel, sagte er ihr, nachdem sie beide noch eine Weile geschwiegen hatten, sie müsse im Widerstand sein. Die Patientin sagte nichts. Kurz danach war die Stunde zu Ende. Mit dieser Bemerkung schloß der junge Analytiker seine Beschreibung der betreffenden Stunde.

Ich fragte ihn dann, ob er im Rückblick mit seiner Arbeit in der Stunde zufrieden sei, ob es noch etwas gebe, was er hätte tun können. Er erwiderte, er glaube, ihr langes Schweigen habe vielleicht bedeutet, daß sie wegen ihrer verdrängten Todeswünsehe ihrem Sohn gegenüber Schuldgefühle gehabt habe, aber er denke, er wolle noch warten, bevor er das zur Sprache brächte. Ich sagte, vielleicht seien in der Patientin tief vergrabene Todeswünsche gegen den Jungen vorhanden gewesen, aber ihre Angst und Traurigkeit seien doch viel offensichtlicher gewesen und hätten im Lauf der Stunde eine Reaktion seinerseits verdient. Der Ausbildungskandidat erinnerte mich förmlich, Freud habe gesagt, man solle die triebhaften und narzißtischen Wünsche seiner Patienten nicht befriedigen.

Ich enthielt mich an dieser Stelle weiterer Bemerkungen und fragte ihn, was in der nächsten Stunde geschehen sei. Der Kandidat erwiderte, die Patientin sei zur Stunde gekommen, habe absolut nichts gesagt und sich schweigend die Tränen abgewischt, die ihr übers Gesicht geströmt seien. Von Zeit zu Zeit habe er sie gefragt, was sie denke. Die Stunde endete, ohne daß etwas anderes gesprochen wurde. Ich fragte den jungen Analytiker wieder, ob er sich nicht überlegt habe, was er sonst noch hätte tun können. Er zuckte die Achseln. Ich fragte ihn, ob er herausbekommen habe, was mit dem Baby geschehen sei. Er sagte, die Patientin habe nichts gesagt, und er habe nicht gefragt. Die letzte Stunde, über die er berichtet hatte, war die letzte Stunde der Patientin in der betreffenden Woche, und er sollte sie erst nach seiner Kontrollstunde wieder zu sehen bekommen.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Ich fragte den Kandidaten, ob er selber nicht an dem Wohl des Kindes interessiert sei oder neugierig, was geschehen sei. Ich fügte hinzu, vielleicht hätte das stumme Weinen der jungen Frau angezeigt, daß der Zustand des Babys sich verschlechtert hätte. Oder vielleicht sei es ein Zeichen dafür, daß sie das Verhalten des Analytikers als ein kaltes und feindseliges emotionales Unbeteiligtsein an ihren Sorgen empfand. Der Kandidat erwiderte, ich könnte zwar recht haben, aber er habe das Gefühl, ich sei übertrieben emotional. Ich beendete die Sitzung, indem ich dem jungen Mann sagte, seine emotionale Reaktionsunfähigkeit werde das Zustandekommen eines Arbeitsbündnisses verhindern. Wenn er nicht ein gewisses Mitgefühl für seine Patientin empfinden könne und ihr dies in Grenzen mitteilen könne, werde er nicht fähig sein, sie zu analysieren. Ich sagte ihm voraus, selbst wenn sie wiederkommen würde, müßte ich fürchten, die Behandlung werde nicht gelingen. Wenn ein Patient in einem solchen Zustand der Not sei, sei es nicht nur natürlich, sondern unerläßlich, ein gewisses  Mitgefühl zu zeigen.

In der nächsten Woche berichtete der junge Analytiker, seine Patientin sei am Montagmorgen gekommen und habe gesagt, sie höre auf. Als er fragte, warum, hatte sie geantwortet, er sei kränker als sie. Sie hatte ihre Rechnung bezahlt und war fortgegangen. Nach einer Weile fragte ich ihn, was mit ihrem Baby geschehen sei. Der junge Mann wurde rot und gab mit beschämter Miene zu, er habe »vergessen«, sie zu fragen. Ich benützte sein Vergessen und sein Erröten als Gelegenheit, um ihm zu beweisen, daß er auf diesem Gebiet Probleme haben müsse. Dann deutete ich an, weitere Analyse könnte für ihn nützlich sein. Der junge Mann stimmte zu.
aus Ralph R. Greenson,  Technik und Praxis der Psychoanalyse