Samstag, 3. Dezember 2011

Kränker als der Patient…

Ein junger Analytiker, dessen Kontrollanalytiker ich war, erzählte mir, eine seiner Patientinnen, eine junge Mutter, habe den größten Teil der Stunde damit zugebracht, ihm die schrecklichen Ängste zu beschreiben, die sie empfunden hatte, als ihr kleiner Sohn in der vorhergehenden Nacht plötzlich krank geworden war. Das Baby hatte hohes Fieber und Krämpfe gehabt, und die Mutter war wie von Sinnen, bis sie den Kinderarzt erreichen konnte. Während Sie meinem Schüler von den Ereignissen berichtete, weinte sie mehrmals. Als sie in Schweigen verfiel, sagte er ihr, nachdem sie beide noch eine Weile geschwiegen hatten, sie müsse im Widerstand sein. Die Patientin sagte nichts. Kurz danach war die Stunde zu Ende. Mit dieser Bemerkung schloß der junge Analytiker seine Beschreibung der betreffenden Stunde.

Ich fragte ihn dann, ob er im Rückblick mit seiner Arbeit in der Stunde zufrieden sei, ob es noch etwas gebe, was er hätte tun können. Er erwiderte, er glaube, ihr langes Schweigen habe vielleicht bedeutet, daß sie wegen ihrer verdrängten Todeswünsehe ihrem Sohn gegenüber Schuldgefühle gehabt habe, aber er denke, er wolle noch warten, bevor er das zur Sprache brächte. Ich sagte, vielleicht seien in der Patientin tief vergrabene Todeswünsche gegen den Jungen vorhanden gewesen, aber ihre Angst und Traurigkeit seien doch viel offensichtlicher gewesen und hätten im Lauf der Stunde eine Reaktion seinerseits verdient. Der Ausbildungskandidat erinnerte mich förmlich, Freud habe gesagt, man solle die triebhaften und narzißtischen Wünsche seiner Patienten nicht befriedigen.

Ich enthielt mich an dieser Stelle weiterer Bemerkungen und fragte ihn, was in der nächsten Stunde geschehen sei. Der Kandidat erwiderte, die Patientin sei zur Stunde gekommen, habe absolut nichts gesagt und sich schweigend die Tränen abgewischt, die ihr übers Gesicht geströmt seien. Von Zeit zu Zeit habe er sie gefragt, was sie denke. Die Stunde endete, ohne daß etwas anderes gesprochen wurde. Ich fragte den jungen Analytiker wieder, ob er sich nicht überlegt habe, was er sonst noch hätte tun können. Er zuckte die Achseln. Ich fragte ihn, ob er herausbekommen habe, was mit dem Baby geschehen sei. Er sagte, die Patientin habe nichts gesagt, und er habe nicht gefragt. Die letzte Stunde, über die er berichtet hatte, war die letzte Stunde der Patientin in der betreffenden Woche, und er sollte sie erst nach seiner Kontrollstunde wieder zu sehen bekommen.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Ich fragte den Kandidaten, ob er selber nicht an dem Wohl des Kindes interessiert sei oder neugierig, was geschehen sei. Ich fügte hinzu, vielleicht hätte das stumme Weinen der jungen Frau angezeigt, daß der Zustand des Babys sich verschlechtert hätte. Oder vielleicht sei es ein Zeichen dafür, daß sie das Verhalten des Analytikers als ein kaltes und feindseliges emotionales Unbeteiligtsein an ihren Sorgen empfand. Der Kandidat erwiderte, ich könnte zwar recht haben, aber er habe das Gefühl, ich sei übertrieben emotional. Ich beendete die Sitzung, indem ich dem jungen Mann sagte, seine emotionale Reaktionsunfähigkeit werde das Zustandekommen eines Arbeitsbündnisses verhindern. Wenn er nicht ein gewisses Mitgefühl für seine Patientin empfinden könne und ihr dies in Grenzen mitteilen könne, werde er nicht fähig sein, sie zu analysieren. Ich sagte ihm voraus, selbst wenn sie wiederkommen würde, müßte ich fürchten, die Behandlung werde nicht gelingen. Wenn ein Patient in einem solchen Zustand der Not sei, sei es nicht nur natürlich, sondern unerläßlich, ein gewisses  Mitgefühl zu zeigen.

In der nächsten Woche berichtete der junge Analytiker, seine Patientin sei am Montagmorgen gekommen und habe gesagt, sie höre auf. Als er fragte, warum, hatte sie geantwortet, er sei kränker als sie. Sie hatte ihre Rechnung bezahlt und war fortgegangen. Nach einer Weile fragte ich ihn, was mit ihrem Baby geschehen sei. Der junge Mann wurde rot und gab mit beschämter Miene zu, er habe »vergessen«, sie zu fragen. Ich benützte sein Vergessen und sein Erröten als Gelegenheit, um ihm zu beweisen, daß er auf diesem Gebiet Probleme haben müsse. Dann deutete ich an, weitere Analyse könnte für ihn nützlich sein. Der junge Mann stimmte zu.
aus Ralph R. Greenson,  Technik und Praxis der Psychoanalyse


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