Mittwoch, 21. Dezember 2011

Auf dem Weg zu Freud: Ribots Assoziationspsychologie und Charcots Hysteriker

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Die Geschichte der Psychoanalyse ist bisher vor allem aus der Perspektive ihres Begründers Sigmund Freud erzählt worden. Der renommierte, in New York lehrende Psychiater George Makari erweitert diesen Zugang: neues Archivmaterial und zehnjährige Forschungsarbeit haben es ermöglicht, unterschiedliche Sichtweisen zusammenzuführen und die Geburtsstunde der Psychoanalyse von 1870 bis 1945 nachzuvollziehen.

Makari ordnet Freuds frühe psychologische Arbeit in den Kontext der Zeit ein und zeigt Freud als kreativen, interdisziplinären Forscher, der auf der Grundlage bestehender Studiengebieten die weiterführende Freud´sche Theorie entwickelt hat. Der Autor folgt den heterogenen Wegen der jungen Psychoanalyse bis zum Weggang von Bleuler, Jung und Adler. Er schließt die Zeit der oft vernachlässigten Weimarer Phase ein und beschreibt ihren Versuch, eine pluralistischere psychoanalytische Gemeinschaft aufzubauen.

George Makari »Revolution der Seele« ist jetzt erstmals in deutscher Übersetzung beim Psychosozial-Verlag erschienen. Faust veröffentlicht einen Auszug aus dem ersten Teil.
KAPITEL-AUSZUG


Die Entstehung der Freud’schen Theorie

1. Die Wissenschaft im Sinn



Von George Makari

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»Es ist falsch zu sagen:
Ich denke: man müßte sagen:
Es denkt mich. […]
Ich ist ein anderer.«
Arthur Rimbaud (1979)


Als die Aufklärung den wissenschaftlichen Rationalismus nach oben auf die Himmelskörper ausdehnte und nach unten auf das Gewusel mikroskopischen Lebens, da gab es einen Gegenstand, zu dem scheinbar unmöglich vorgedrungen werden konnte: die Psyche. Der französische Verfechter der Wissenschaft und des rationalen Skeptizismus, René Descartes, begründete dies in seiner Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, indem er erklärte, dass das Ich jenseits einer rationalen Prüfung liege, denn es sei nichts anderes als die von den Kirchenvätern beschriebene immaterielle Seele (1637, S. 31–32). Religiöse Überzeugungen bezüglich des Seelenlebens erwiesen sich als langlebig und einflussreich, doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen solche Vorstellungen etwas an Glaubwürdigkeit zu verlieren, und in dem verloren gegangenen Grund und Boden schlug eine Wissenschaft des Geisteslebens Wurzeln. Als Sigmund Freud 1885 in Paris eintraf, hatte sich Frankreich als Zentrum für innovative Forschung zu psychologischen Fragestellungen etabliert. In Berlin und Wien bemühten sich wenige Wissenschaftler um die Erforschung der Psyche, des Ichs, der Seele, des Selbst oder des Geistes – Bereiche, die mit Religion oder spekulativer Metaphysik behaftet waren. In Paris jedoch wurden die Wissenschaftler dank einer neuen Methode vom Studium des Seelenlebens angezogen. Diese Methode, die »psychologie nouvelle«, verwandelte Frankreich in eine Brutstätte des Studiums des Somnambulismus, menschlicher Automatismen, der multiplen Persönlichkeit, des doppelten Bewusstseins und des zweiten Selbst sowie von Dämonismus, Dämmerzuständen, Wachträumen und dem Gesundbeten. Die Wunderlichen und die Wundertätigen fanden den Weg von abgeschiedenen Dörfern, Klöstern und Jahrmärkten, von Exorzisten, Scharlatanen und betagten Heilmagnetiseuren in die Hallen der französischen Wissenschaft. Die Geburt dieser neuen Psychologie fand statt, als Frankreich selbst wiedergeboren wurde. Fast ein Jahrhundert nach der Revolution unterlagen die Franzosen 1870 schmachvoll den Preußen, was zum Sturz Kaiser Louis Napoleons III. und zur Gründung der Dritten Republik führte. Viele gaben die Schuld für dieses militärische Debakel der französischen Wissenschaft, da diese mit den Fortschritten, die in deutschen Ländern gemacht worden waren, nicht Schritt gehalten hatte. Der französische Republikanismus verband den Antiklerikalismus mit der Verpflichtung, die Wissenschaft neu zu beleben. Als die Autorität der französischen katholischen Kirche hinsichtlich der Bestimmung des Denkens über die Seele schwand, bildete sich eine kühne, neue wissenschaftliche Psychologie heraus.

Zur damaligen Zeit wurde die Psychologie als ein Ableger der Philosophie betrachtet und nicht als Naturwissenschaft, doch der Vorkämpfer der »psychologie nouvelle«, Théodule Ribot, schickte sich an, dies zu ändern (Nicolas & Murray 1999, 277–301). Théodule wurde 1839 als Sohn eines Kleinstadtapothekers geboren und später von seinem Vater gezwungen, in den Staatsdienst zu gehen. Nach drei Jahren Plackerei kündigte er an, dass er nach Paris gehen und versuchen würde, an der Elitehochschule École normale supérieure aufgenommen zu werden. Zwei Jahre später erhielt Ribot einen Platz an dieser Universität, wo er schnell eine Abneigung gegen die vorherrschende, von Victor Cousin vertretene spiritistisch orientierte Philosophie entwickelte. Cousins Psychologie – eine seltsame Mixtur aus Vernunft und Glauben – vermischte Vorstellungen von der Seele und von Gott mit naturalistischen Darstellungen des Geistes.

Ribot konnte das nicht ertragen. Trotz der Anprangerung durch den ortsansässigen Klerus machte er sich auf die Suche nach einer Methode, durch die die Psychologie für wissenschaftliche Untersuchungen voll zugänglich würde. Ribot tauchte in die Schriften britischer Denker ein und erschien 1870 mit La Psychologie anglaise contemporaine (école expérimentale) (1) auf der Bildfläche. Ungeachtet des nüchternen Titels wurde das Buch von einem kühnen Manifest eingeleitet, das die Psychologie in Frankreich über Jahrzehnte bestimmen würde.

Konventionelle Vorstellungen sowohl der Philosophie als auch der Naturwissenschaft machten das objektive Studium des Geistes unmöglich, erklärte Ribot. Er attackierte Philosophien wie die von Descartes und Cousin und beharrte darauf, dass sich die Psychologie von der Metaphysik und Religion befreien müsse. Psychologen könnten nicht zu metaphysischen Fragen Stellung nehmen oder offen von der Seele sprechen; und sie könnten sich nicht auf die praxisfernen Methoden der Philosophie stützen, sondern müssten die naturwissenschaftlichen Methoden anwenden (ebd., S. 21–22).

Für all das hatte Ribot ein begieriges Publikum. Viele seiner Zeitgenossen waren bereit, ältere Philosophien der Seele zugunsten der naturwissenschaftlichen Erforschung über Bord zu werfen. Doch wie sollte die Psychologie in eine Wissenschaft umgearbeitet werden? Um diese Frage zu beantworten, griff Ribot eine andere Gruppe Kritiker auf, angeführt von Auguste Comte, dem glühenden Vordenker der Wissenschaft (Guillin 2004, S. 165–181). Obwohl er ein unstetes Leben als gesellschaftlicher Außenseiter führte, errang Auguste Comte außerordentlichen Einfluss auf die Intellektuellen, Politiker und Wissenschaftler des späten 19. Jahrhunderts. 1855 legte der Franzose einen Werdegang der gesamten menschlichen Erkenntnis dar und erklärte, dass Theologie, Mythen und Belletristik das primitivste Stadium bildeten, welches sich dann zum zweiten Stadium weiterentwickelte, das der metaphysischen Abstraktion. Schließlich würden die philosophischen Vorstellungen vom vollendeten Wissensstand übertroffen, der wissenschaftlich und »positiv« war. Comtes Konzept erhielt daher die Bezeichnung »Positivismus« (s. Comte 1855). Mit dem Aufkommen der Dritten Republik im Jahr 1870 wurde Comtes Vorstellung von der Entwicklung der politischen Elite Frankreichs als Muster sowohl für die Wissenschaft als auch für die soziale Reform angenommen.

Comtes Denken brachte Ribot in eine schwere Zwickmühle, denn der Begründer des Positivismus glaubte, dass der psychologischen Erkenntnis ein unlösbares Problem zugrunde lag. Psychologen bauten auf Selbstbeobachtungen, um Dinge wie Gedanken, Gefühle und Begehren aufzudecken. Genau solche innere Beobachtungen – das Wissen, das von einem sich selbst beobachtenden Geist stammte – erzeugten Subjektivität. Daher kam Comte zu dem Schluss, dass die Psychologie niemals objektiv sein könne, und seine kurze Bestandsaufnahme früherer Bemühungen schien diese vernichtende Feststellung zu stützen:

»Nach zweitausend Jahren des psychologischen Strebens ist kein einziges für ihre Anhänger befriedigendes Theorem aufgestellt worden. Bis zum heutigen Tag spalten sie sich in eine Vielzahl von Schulen auf und streiten sich noch immer über die absoluten Grundbegriffe ihrer Lehre. Diese innere Beobachtung lässt fast so viele Theorien entstehen, wie es Beobachter gibt« (ebd., S. 33).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts musste jeder, der versuchte, die Grundlagen für eine wissenschaftliche Psychologie zu schaffen – John Stuart Mill in England, Franz Brentano in Österreich und William James in den Vereinigten Staaten eingeschlossen –, gegen Auguste Comtes niederschmetternde Anklage antreten.
mehr:
- George Makari, Revolution der Seele – Die Geburt der Psychoanalyse (FaustKultur, 21.12.2011)
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Der Text-Ausschnitt entspricht den Buchseiten 17–42, Kapitel 1.1.1 und 1.1.2. 
© Psychosozial Verlag
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siehe auch:
Kurzüberblick Psychologische Schulen (arbeitsblaetter.stangl-taller.at, undatiert)
Kleine Psychologiegeschichte 1000-1900 (Mueller Science, undatiert)
Die Theorie der Psychoanalyse (Post, 09.03.2018)
Sigmund Freud, Das Unbewußte (1915) (Post, 09.03.2018)
Gustave Le Bon – Psychologie der Massen (Post, 29.01.2018)
Sigmund Freud: » Ihm verdanken wir die umfassendste Theorie der Seele.« (Post, 31.01.2017)
Vor 116 Jahren: Sigmund Freud veröffentlich »Die Traumdeutung« (Post, 05.11.2015)
Bizarre Forschung – Showtime in der Nervenklinik (Fabienne Hurst, SPON, 22.01.2013)
- Charcot und die Ätiologie der Neurosen (Esther Fischer-Homberger, fischer-homberger.ch.galvani.ch-meta.net, 1971 – PDF)
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