Freitag, 15. Februar 2019

Auf dem Weg zu Freud: Hippolyte Bernheim (1840 bis 1919):

Der französische Arzt und Hypnoseforscher Hippolyte Bernheim schuf mit seiner Suggestionslehre Grundlagen für die moderne Psychotherapie und Psychoanalyse. Sigmund Freud erhielt von ihm wesentliche Anregungen. Er starb vor 100 Jahren.

Seit den Anfängen der Medizin war die Krankenbehandlung in die Bereiche Chirurgie, Innere Medizin und Arzneimittellehre sowie eine Art Psychotherapie unterteilt. Letztere meinte ärztlichen Rat und Verhaltensregeln für die Kranken. Vorstellungen von Wechselwirkungen zwischen dem einzelnen Menschen und seiner Umwelt einschließlich der Gestirne waren Teil des magischen, astrologischen und alchemistischen Denkens. So findet sich in der Imaginationslehre des Paracelsus die Annahme, die Verzweiflung des Menschen könne die Pest hervorrufen. Diese Vorstellung griff der romantische Arztdichter Justinus Kerner auf, als er im frühen 19. Jahrhundert von der „geängstigten Imagination“ sprach, mittels deren man sich dämonische Krankheiten wie Pest und Cholera zuziehen könne; der „produktiven Imagination“ schrieb er heilende Wirkung zu. Ende des 18. Jahrhunderts wandte der Arzt Johann Christian Reil sich der „Irrenheilkunde“ und der „psychischen Kur“ zu. Psychotherapie als speziellen medizinischen Begriff führte jedoch der französische Arzt Hippolyte Bernheim ein. Mit seiner Suggestionslehre schuf er „die Grundlage für die moderne Psychotherapie und Psychoanalyse“ (Schott/Tölle). Sigmund Freud erhielt von ihm wesentliche Anregungen.

Gründung der Neuropathologie

1840 wird Bernheim in Mulhouse/Elsaß geboren. Er studiert in Straßburg und wird 1867 zum Doktor der Medizin promoviert. Danach arbeitet er als Lektor an der Universität und als Psychiater in eigener Praxis.

Mit Beginn der Neuzeit widmete sich die anatomische und physiologische Forschung zunehmend dem Gehirn und Nervensystem. Der schottische Arzt William Cullen (1710 bis 1790) begründete eine Neuropathologie, die alle Krankheiten direkt oder indirekt als Erkrankungen des Nervensystems auffasste. Dabei prägte er auch den Begriff „Neurose“. Seit der Antike sah man die Gebärmutter als Quelle zahlreicher Frauenkrankheiten an. Zwar erklärte der englische Anatom Thomas Willis die Hysterie im 17. Jahrhundert zur Hirnkrankheit, doch auch Cullen beschrieb den klassischen hysterischen Anfall noch als Affektion der Gebärmutter.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiert sich der französische Neurologe Jean Marie Charcot für die Beschwerden der Hysterischen. Eine körperlich fassbare Ursache für ihre Leiden findet er nicht. Daher postuliert er für die Entstehung der Hysterie psychische Faktoren wie „wiederholte Schrecken“ und „Erinnerungen an Aufregungen aus der Jugend“. Berühmt sind seine Demonstrationen hysterischer Anfälle unter Hypnose. Dabei sieht er Hypnose als Symptom der Hysterie und ist der Ansicht, dass nur Hysterische hypnotisiert werden können. Den großen Anfall („grande hysterie“) unterteilt er in vier Phasen, die jedoch nicht alle vorhanden sein müssen.


Suggestion und Heilwirkung

Kritiker sehen in seinen Demonstrationen lediglich Akte der Dressur, welche nichts beweisen. Zu ihnen gehört Hippolyte Bernheim. Er verehrt Charcot als seinen „ausgezeichneten Lehrer“, doch folgen mag er ihm hier nicht. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg zieht er nach Nancy, wo er 1879 Professor für Innere Medizin wird. Vom Landarzt Auguste Liébault lernt er eine bestimmte Methode des Hypnotisierens: „Die Methode Liébaults besteht darin, wenn der Patient eingeschlafen ist, mit lauter Stimme vor ihm das Aufhören der Symptome, welche er verspürt, zu behaupten. (…) Im Jahre 1882 begann ich zunächst ohne alles Zutrauen schüchtern Versuche mit der suggestiven Therapie zu machen (…) Heute ist diese Methode auf meiner Klinik gang und gäbe, (…) und es vergeht vielleicht kein Tag, an dem ich (…) nicht zeigen kann, wie irgend eine functionelle Störung, ein Schmerz, eine Muskelschwäche, eine unangenehme Empfindung, Schlaflosigkeit etc. durch dieselbe augenblicklich behoben oder gemildert wird“, schreibt er in seinem Buch „Die Suggestion und ihre Heilwirkung“. Klar ist für ihn, dass Hypnose kein Krankheitssymptom ist und dass nicht nur Hysterische hypnotisiert werden können: „Es muss mit aller Entschiedenheit gesagt werden: Der hypnotische Schlaf ist kein pathologischer Zustand. Der Hypnotismus ist keine Neurose analog der Hysterie. (…) Die angeblichen physischen Phänomene der Hypnose sind nichts Anderes als psychische Phänomene; die Katalepsie, der Transfert, die Contracturen sind nichts als Wirkungen der Suggestion. (…) Der Schlaf ist selbst nur Wirkung einer Suggestion.“

Während Bernheim alle hypnotischen Phänomene als rein psychische Erscheinungen ansieht, postulieren Charcot und andere, wenigstens zum Teil, physiologische Veränderungen. In seiner Vorrede zu Bernheims Buch versucht der Übersetzer Freud, die Auseinandersetzung durch eine Definition der Suggestion zu entschärfen. Gegen den „schwankenden und vieldeutigen Gebrauch“ des Wortes fasst er Suggestion als eine Art der psychischen Beeinflussung. Im Unterschied zu anderen Arten der Beeinflussung, etwa „Befehl, Mitteilung oder Belehrung“ sei sie dadurch gekennzeichnet, „dass bei ihr in einem zweiten Gehirn eine Vorstellung erweckt wird, welche nicht auf ihre Herkunft geprüft, sondern so angenommen wird, als ob sie in diesem Gehirne spontan entstanden wäre.“ Ähnlich definiert Bernheim Suggestion als einen „Vorgang, durch welchen eine Vorstellung in das Gehirn eingeführt und von ihm angenommen wird“. Hypnotisieren lässt sich nur, wer daran glaubt: „Man darf sagen: Niemand kann hypnotisiert werden, der nicht daran glaubt, dass er hypnotisiert werden wird (...).“ Dabei besteht „die Aufgabe der hypnotischen Therapie (...) also darin, diesen besonderen psychischen Zustand durch den Hypnotismus hervorzurufen und die so künstlich herbeigeführte Steigerung der Suggerirbarkeit (sic!) zu Zwecken der Heilung oder Linderung von Leiden auszubeuten“. Im Unterschied zu Charcot widmen Liébault und Bernheim sich dem gesamten Spektrum funktioneller Störungen. Neben „hysterischen Affectionen“, die praktisch kaum eine Rolle spielen, behandeln sie Neurosen bei „organischen Erkrankungen des Nervensystems“, Neuropathien, „functionelle Lähmungen“, „Affectionen der Verdauungsorgane“, Schmerzen, „rheumatische Affectionen“ und Menstruationsbeschwerden. Klar ist für Bernheim: „Der menschliche Geist ist eine grosse Macht, und der Arzt, der heilen will, soll sich dieser Macht bedienen.“ Ziel der Psychotherapie ist es demnach, „den Geist eingreifen zu lassen, um den Körper zu heilen“. Mittel der Wahl bei der suggestiven Therapie ist das Wort. Manchmal müsse man alle Künste der Überredung anwenden, denn „im Schlafen wie im Wachen behält jeder Mensch seine psychische Individualität mit all den Eigenthümlichkeiten seines Charakters (…) bei“.

mehr:
- Hippolyte Bernheim (1840 bis 1919): Wegbereiter der Psychotherapie (Christoph Goddemeier, aerzteblatt.de, Februar 2019, S. 74)
siehe auch:
Auf dem Weg zu Freud: Ribots Assoziationspsychologie und Charcots Hysteriker (Post, 21.12.2011)
Zur Soziologie der Psychoanalyse (Post, 06.04.2008)
- Thomas Szas – Es gibt keine Geisteskrankheit (Post, 01.01.1995)
x

Keine Kommentare: