Etwa zwei Drittel aller Männer, die vorhaben, sich das Leben zu nehmen, „gehen kurz vor ihrem Suizid zu einem Arzt. Meist unter einem Vorwand wie dem einer Vorsorgeuntersuchung.“ So schreibt es die österreichische, in Hamburg lebende Autorin Saskia Jungnikl in ihrem gerade erschienenen Buch über die Selbsttötung ihres Vaters. „Sie hoffen, dass der Arzt zu ihnen sagt, es muss Ihnen doch furchtbar gehen, kann ich Ihnen helfen, kann ich etwas für Sie tun?“
Auch Jungnikls Vater Erhard besucht noch einmal seinen vertrauten Hausarzt – bevor er sich erschießt. Der Arzt weint, als er davon erfährt, fassungslos, einen seiner heitersten Patienten verloren zu haben. So hatte der Mann jedenfalls immer auf ihn gewirkt. Aber Erhard Jungnikl stirbt in jener Nacht im Jahr 2008, und zwar in der Nacht, in der sein ältester Sohn 30 Jahre alt geworden wäre. Der Sohn ist zuvor an einer Embolie gestorben.
Mit seinem Suizid hinterlässt der Familienvater eine Ehefrau und drei noch lebende Kinder, außerdem rund 7.000 Bücher, zwei vollgestopfte Arbeitszimmer, ein Tonstudio, eine riesige Plattensammlung, ungezählte technische Geräte, Musikinstrumente, Zeitschriften, Fotos und Dokumente. Er war Rock-’n’-Roll-Fan, evangelischer Lektor, Schafzüchter, ein Vorbild für viele, mit Depressionen, vielen Talenten und einem nie zu stillenden Interesse an seiner Umwelt. Er wurde 67 Jahre alt.
mehr:
- Traurig schweigt der Mann (der Freitag, 24.11.2014)
Selbsttötung in der Statistik:
Jedes Jahr sterben etwa 10.000 Menschen in Deutschland durch Suizid, rund 70 Prozent davon sind Männer. Dabei sind die Zahlen hierzulande seit den 80ern generell rückläufig. Das ist vermutlich auf eine bessere psychosoziale Versorgung und Enttabuisierung zurückzuführen. Weltweit nehmen sich jedes Jahr rund 800.000 Menschen das Leben. International betrachtet ist bei Männern jeder zweite gewaltsame Tod auf Selbsttötung zurückzuführen. Kommt eine Frau gewaltsam ums Leben, handelt es sich in 70 Prozent der Fälle um Suizid.- Zum Tod von L’Wren Scott „Ich wünschte, sie hätte um Hilfe gebeten“ (Norbert Kuls, FAZ, 18.03.2014)
Bei alten Menschen liegt die Dunkelziffer wohl viel höher als die offiziellen Zahlen, auch die Zahl der Suizidversuche ist Schätzungen zufolge bis um das Zehnfache größer. Unter den 14- bis 29-Jährigen ist Selbsttötung die zweithäufigste Todesursache (nach Verkehrsunfall). Das deutsche Suizidpräventionsprogramm, eine Kooperation des Bundesgesundheitsministeriums und der Weltgesundheitsorganisation WHO, nennt Diskriminierung als einen der wichtigsten Risikofaktoren. Neben Männern seien vor allem „Menschen im höheren Lebensalter, Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung und junge Frauen mit Migrationshintergrund“ gefährdet.
mein Kommentar:
Wie soll jemand, der sich nicht wert fühlt, anderen zur Last zu fallen, um Hilfe bitten?
- „Keiner bringt sich gerne um!“ (M- Wolfersdorf, P. Brieger, Nervenheilkunde 6/2015, Schattauer)
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