Paul Verhaeghe ist Professor für Psychodiagnostik an der Universität Gent in Belgien. Im ersten Teil des Gespräches ging es darum, wie Psychologie und Psychiatrie auf soziale Anpassung abzielen. Jetzt fahren wir mit dem Nutzen pharmakologischer Behandlungen fort.
▶︎ Sie sprachen gerade Freuds neurologischen Hintergrund an und erwähnen selbst immer wieder, dass wir (auch) Körperwesen sind. Was halten Sie denn dann von psychopharmakologischen Behandlungen, die ja direkt auf den Körper einwirken?
Paul Verhaeghe: Körper und Geist – das sind für mich keine getrennten Welten. Mit einem Dualismus wie bei Platon oder Descartes kann ich nicht viel anfangen. Wir sind eine Ganzheit. Wahrscheinlich renne ich mit meiner Aussage offene Türen ein, dass der wichtigste Ansatz bei der Behandlung psychischer Störungen das biopsychosoziale Modell ist. Mit diesen drei Aspekten – Körper, Psyche und Umwelt – müssen wir arbeiten.
Wir sehen aber heute in der Psychiatrie – auch durch den Einfluss der pharmazeutischen Industrie –, dass vor allem biologisch auf den Menschen geschaut wird. Und das Biologische wird dann wiederum auf das Pharmakologische reduziert. Dabei ist "biologisch" eigentlich nicht ganz treffend, denn die Biologie ist auch eine ökologische, also eine Umweltwissenschaft, während der pharmakologische Ansatz den Menschen auf Moleküle reduziert. Natürlich wirken solche Mittel irgendwie. Die Erfolgsgeschichten, die darüber erzählt werden, dass damit nämlich alle Probleme gelöst werden, stimmen aber nicht. Dazu kommen noch zahlreiche Nebenwirkungen.
Um etwas konkreter zu werden: Wenn sich jemand in einem akuten psychotischen Zustand befindet (also z.B. unter starken Wahnvorstellungen, Halluzinationen o.ä. leidet, Anm. S. Schleim), dann muss man Neuroleptika verschreiben. Anders wird der oder die Betroffene von Angst verzehrt und begeht am Ende womöglich einen Suizid. Danach muss man im Einzelfall entscheiden: Was kann jemand mit, was ohne Medikamente, wie hoch muss die Dosis sein? Alle Patienten mit solchen psychotischen Problemen, die ich kenne, haben hiermit zu schaffen. Einerseits würden sie gerne ohne die Medikamente leben; andererseits wissen sie, dass sie sie brauchen.
Wenn wir uns aber die angstlösenden Mittel anschauen, dann sehen wir zwar, dass der angstreduzierende Effekt sehr gut funktioniert. Jedoch vor allem kurzfristig. Schon nach ein paar Wochen nimmt die Wirkung wahrscheinlich ab…
▶︎ …und muss man die Dosis erhöhen?
Paul Verhaeghe: Ja – und dann steigt wiederum das Risiko von sehr unangenehmen Nebenwirkungen. Oft bekomme ich nach Vorlesungen auch die Frage, ob ich meinen Kindern – oder inzwischen schon Enkelkindern – Medikamente geben würde, wenn sie eine ADHS-Diagnose (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Anm. S. Schleim) bekämen. Das würde ich aber niemals tun. Das sind doch Amphetamine! So etwas gibt man doch keinem Kind, das vielleicht gerade einmal fünf Jahre alt ist.
Bei der richtigen Abwägung lässt sich meiner Meinung nach nichts gegen eine medikamentöse Behandlung sagen. So, wie das heutzutage aber sehr oft passiert, bin ich jedoch strikt dagegen. Und wenn ich dann auf das biopsychosoziale Modell zurückkomme, dann muss man leider feststellen, dass heute sehr wenig auf dem sozialen Niveau gearbeitet wird. Dabei hilft es einem Betroffenen mitunter schon sehr, wenn nur einmal jemand für eine Stunde pro Woche zu einem Gespräch vorbeikommt. Das verbindet, dann fühlt sich jemand wertgeschätzt. Genau das fehlt vielen Patienten, die den Eindruck haben, nur noch auf ihre diagnostizierte Störung reduziert zu werden. Das ist doch furchtbar.
mehr:
- "Unsere heutige Gesellschaftsform produziert sehr viele Störungen" (Stephan Schleim, Telepolis, 14.06.2020)
siehe auch:
- Karl Jaspers: Psychopathologie und Existenzphilosophie (Post, 24.11.2019)
- Ronald D. Laing (Post, 15.10.2012)
x
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen