Interview Die Welt, in der der Mensch sich bewegt, ist immer auch eine Fiktion, sagt der Philosoph Markus Gabriel
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Das Homeoffice ist für einen Philosophen vermutlich vertrautes Arbeitsterrain. Ich sprach am Telefon mit Markus Gabriel. Auch ohne virtuelle Anschauung per Videochat ließen die Verweise ahnen, dass sich der Philosoph in seinem Arbeitszimmer zu Hause aufhielt. Beglaubigt wurde das auch dadurch, dass Gabriels Nachwuchs sich kurz vor Ende des Gesprächs bemerkbar machte und anstelle von „Fiktionen“ den konkreten Familien-Alltag einforderte. Warum es „die Welt“ dennoch nicht gibt, erklärt Gabriel in einem Buch, das kürzlich bei Suhrkamp erschien.
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der Freitag: Herr Gabriel, in Ihrem neuen Buch wollen Sie nichts Geringeres, als eine neue Erkenntnistheorie zu formulieren. Dabei spielen Begriffe wie „Fiktion“ und „Imaginäres“ eine wichtige Rolle. Ist das angesichts von Fake News und Verschwörungstheorien, die momentan überall wie Pilze aus dem Boden schießen, nicht ein riskantes Unterfangen?
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Markus Gabriel: Der Hauptgedanke des Buchs besagt, dass unser mentales Leben als freie geistige Lebewesen immer Elemente von Schein aufweist, also Elemente wie Ideologie, Propaganda, ästhetische Erfahrung und so weiter. Es gibt zwar in der philosophischen Tradition vor allem Wahrheitstheorien, aber es gibt bisher kaum Täuschungstheorien. Und deswegen greift das Buch jetzt dieses Thema auf. Die hochaktuellen, brandgefährlichen Fake News und Verschwörungstheorien sind zwar das Ergebnis der modernen sozialen Medien. Doch letztlich stehen wir nicht vor der Wahl zwischen begründeten Expertenmeinungen einerseits und Fake News andererseits. Denn all diese Modellierungen unserer Situation haben immer auch fiktive Anteile. Es gibt keinen Wissensanspruch von freien geistigen Lebewesen bezüglich ihrer eigenen Situation, der vollständig frei von Schein wäre.
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Was wir wissen, beruht zum Teil auf Fiktionen. Ein atemberaubender Gedanke. Was sind überhaupt Fiktionen?
Fiktionen sind Bilder unserer Lage, die über das hinausgehen, was uns unmittelbar sinnlich präsent ist. Ich kann eine Liste machen, wie mein Laptop aussieht oder wie sich Ihre Stimme anhört und so weiter. Das ist das unmittelbar Gegebene. Sobald ich mir vorzustellen versuche, wie das Zimmer aussieht, in dem Sie sitzen, oder meine Erwartung dessen, was Sie von mir hören wollen – alles das gehört in den Bereich der Fiktionen.
Und wozu brauchen wir solche Fiktionen? Ohne Fiktionen können wir keine Elemente in den Szenen identifizieren, in denen wir uns befinden. Die Situationen, in denen wir uns befinden, sind immer tief geprägt von Fiktivem. Hätten wir keine Fiktionen, gäbe es überhaupt gar kein sinnvolles Leben, sondern nur zusammenhanglose Erlebnis-Fragmente.
Neben dem negativen Bereich der Fake News denken die meisten bei Fiktionen vor allem an Romane oder Kunst. Als die Menschen erstmals einen Löwen an die Wand malten, anstatt ihn nur zu jagen, begann mit dieser Repräsentation ihrer selbst eigentlich die Menschheitsgeschichte. Das ist der Ursprung des freien Willens. Der Hauptort der Selbstverständigung des Menschen als Mensch und eben nicht bloß als tierische Lebensform geschieht im Kunstwerk. Wir sind in dem Sinne fundamental kulturelle Lebewesen, weil wir überhaupt erst im Spiegel von Kunstwerken zum Menschen werden.
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der Freitag: Herr Gabriel, in Ihrem neuen Buch wollen Sie nichts Geringeres, als eine neue Erkenntnistheorie zu formulieren. Dabei spielen Begriffe wie „Fiktion“ und „Imaginäres“ eine wichtige Rolle. Ist das angesichts von Fake News und Verschwörungstheorien, die momentan überall wie Pilze aus dem Boden schießen, nicht ein riskantes Unterfangen?
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Markus Gabriel: Der Hauptgedanke des Buchs besagt, dass unser mentales Leben als freie geistige Lebewesen immer Elemente von Schein aufweist, also Elemente wie Ideologie, Propaganda, ästhetische Erfahrung und so weiter. Es gibt zwar in der philosophischen Tradition vor allem Wahrheitstheorien, aber es gibt bisher kaum Täuschungstheorien. Und deswegen greift das Buch jetzt dieses Thema auf. Die hochaktuellen, brandgefährlichen Fake News und Verschwörungstheorien sind zwar das Ergebnis der modernen sozialen Medien. Doch letztlich stehen wir nicht vor der Wahl zwischen begründeten Expertenmeinungen einerseits und Fake News andererseits. Denn all diese Modellierungen unserer Situation haben immer auch fiktive Anteile. Es gibt keinen Wissensanspruch von freien geistigen Lebewesen bezüglich ihrer eigenen Situation, der vollständig frei von Schein wäre.
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Was wir wissen, beruht zum Teil auf Fiktionen. Ein atemberaubender Gedanke. Was sind überhaupt Fiktionen?
Fiktionen sind Bilder unserer Lage, die über das hinausgehen, was uns unmittelbar sinnlich präsent ist. Ich kann eine Liste machen, wie mein Laptop aussieht oder wie sich Ihre Stimme anhört und so weiter. Das ist das unmittelbar Gegebene. Sobald ich mir vorzustellen versuche, wie das Zimmer aussieht, in dem Sie sitzen, oder meine Erwartung dessen, was Sie von mir hören wollen – alles das gehört in den Bereich der Fiktionen.
Und wozu brauchen wir solche Fiktionen? Ohne Fiktionen können wir keine Elemente in den Szenen identifizieren, in denen wir uns befinden. Die Situationen, in denen wir uns befinden, sind immer tief geprägt von Fiktivem. Hätten wir keine Fiktionen, gäbe es überhaupt gar kein sinnvolles Leben, sondern nur zusammenhanglose Erlebnis-Fragmente.
Neben dem negativen Bereich der Fake News denken die meisten bei Fiktionen vor allem an Romane oder Kunst. Als die Menschen erstmals einen Löwen an die Wand malten, anstatt ihn nur zu jagen, begann mit dieser Repräsentation ihrer selbst eigentlich die Menschheitsgeschichte. Das ist der Ursprung des freien Willens. Der Hauptort der Selbstverständigung des Menschen als Mensch und eben nicht bloß als tierische Lebensform geschieht im Kunstwerk. Wir sind in dem Sinne fundamental kulturelle Lebewesen, weil wir überhaupt erst im Spiegel von Kunstwerken zum Menschen werden.
mehr:
- „Wir täuschen uns“ (Hans-Christoph Zimmermann, Freitag, 13.06.2020)
siehe auch:
- xxx (Post, )
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