Porträt Judith Visser wollte ihr Leben lang sein wie alle anderen. Als sie dachte, sie hätte es geschafft, bekam sie ihre Diagnose
Es ist ein diesiger Vormittag in Rockanje, einem Kaff an der Rotterdamer Riviera, wo sich jenseits der Saison wenig regt. Über Nacht ist die Temperatur gefallen, der Wind hat zugelegt, und im Badhotel am äußersten Rand des Dorfs ist wenig los. Soeben wurde das Frühstück abgeräumt, der hellblaue Pool vor der Terrasse ist verwaist. Dann biegt Judith Visser um die Ecke, in kurzem, ärmellosem Jeanskleid und schwarzen All Stars, in den Händen drei Leinen, an jeder einen großen Wolfshund – so läuft sie auf den Eingang zu.
Judith Visser, 41 Jahre alt, ist eine der bemerkenswertesten Schriftstellerinnen der Niederlande. Und sie ist Autistin. Als Thriller-Autorin hat sie es zu einigem Ansehen gebracht, samt Preisnominierungen und einer Verfilmung. Später sattelt sie auf Romane um. Als 2018 Zondagskind erscheint, wird es ein Bestseller. Das Buch (deutsch: Mein Leben als Sonntagskind) handelt vom Aufwachsen des Mädchens Jasmijn Vink, sie hat das Asperger-Syndrom, doch das weiß sie noch nicht. Sie erfährt es erst als Erwachsene. Der Roman ist stark autobiografisch, Jasmijn Vink ist Judith Visser. Wie ihr ist ihrer Protagonistin der Lärm in der Vorschule zu laut, traut sie sich nicht, mit der Lehrerin zu sprechen, und hat größte Probleme mit Situationen, die sie nicht vorhersehen kann. Sie lebt in einer Welt, die sie immer wieder überfordert.
Ihre zuverlässigen Stützen, das sind ihre Hündin Senta, immer an ihrer Seite, der Reitunterricht, aber eben nur, solange sie ihr Lieblingspony Cilly zugeteilt bekommt, und Elvis Presley. Dessen sanfte Stimme spricht sie auf ungekannte Weise an. Bei Senta, Cilly und Elvis weiß sie immer, woran sie ist. Noch eine andere Konstante bildet sich im Laufe von Kindheit und Adoleszenz heraus: die sogenannte „normale Jasmijn“, die Welten entfernt scheint, aber doch ein Alter Ego ist und eine Projektionsfläche, auf der sie in ihrem Tagebuch all das entwirft, was hätte passieren können, wenn sie wäre wie die anderen Kinder. Die „normale Jasmijn“ ist kontaktfreudig, beliebt, sie hat Freunde und weiß immer, wie sie sich zu verhalten hat. Den Namen Jasmijn habe sie gewählt, weil er an eine Blume erinnert, sagt Judith Visser. „Und je älter ich wurde, desto besser wurde ich darin, allerlei Eigenschaften auf blumige Weise zu verstecken.“
In ihrem Buch greift sie das verbreitete Halbwissen über Autismus auf, analysiert es und fügt es ein in die Welt der jungen Protagonistin. Vom Weglaufen aus der Kita, deren Gewusel und Geräuschpegel Jasmijn nicht erträgt, bis zum Einschlafen am Steuer des Fahrschulwagens, weil alles um sie herum sie überfordert. „Normal“, eine Referenz, die die Autorin selbst immer wieder benutzt, ist das alles nicht. Nur weiß sie lange Zeit einfach nicht, was sie hat. Es sind die 1980er, in einer Arbeiterfamilie in einem armen Viertel von Rotterdam, von Autismus hat dort noch nie jemand was gehört.
mehr:
- „Da geht er dann, dein Traum, normal zu sein“ (Tobias Müller, der Freitag, 17.09.2019)
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