Die moderne Psychotherapie beginnt um 1900 mit der Psychoanalyse. Sie wurde vom Wiener Neurologen Sigmund Freud begründet. Er entdeckte und beschrieb die Psychodynamik des Unbewussten und entwickelte daraus eine psychotherapeutische Theorie und Behandlungsmethode. Aus der Psychoanalyse bildeten sich später die verschiedenen Schulen der Tiefenpsychologie heraus. Anfang des 20. Jahrhunderts praktizierte Freud in Wien. Bald sollte sich Zürich als wichtigster Ort für die Rezeption und Ausbreitung der Psychoanalyse etablieren. Auch Freud zog eine Weile in Betracht, seinen Mittelpunkt dorthin zu verlegen, wie er 1910 in einem Brief an den Zürcher Psychiater Carl Gustav Jung schrieb.
In Zürich hatte sich unter Eugen Bleuler eine Gruppe von Ärzten gebildet, die sich in der klinischen Arbeit mit der Psychoanalyse auseinandersetzte. Der Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli zeigte sich gegenüber der neuen tiefenpsychologischen Theorie aufgeschlossen. Er wandte die Psychoanalyse auf Patienten mit psychotischen Symptomen an. So wurde Zürich zu einem wichtigen Ort für die Beziehung zwischen Psychiatrie und Psychoanalyse und für die Diskussion über das Verständnis seelischen Leidens und menschlicher Existenz.
Die Psychoanalyse verbreitete sich weltweit und hatte grossen Einfluss auf die psychiatrische Praxis. Die ersten Psychotherapeuten waren Ärzte. Freud selber war daran gelegen, der Psychoanalyse eine institutionelle Verankerung und eine wissenschaftliche Anerkennung zu verschaffen und eine klare therapeutische Vorgehensweise zu entwickeln. Dies führte unter ihren eigenständigen Rezipient*innen und Anwender*innen zu leidenschaftlichen Diskussionen. In vielen Vereinigungen, Gruppen und Ausbildungsseminaren, die in den folgenden Jahrzehnten entstanden, stritten die Mitglieder heftig um Grundsatzfragen der Psychoanalyse, die nicht selten in weltanschauliche Glaubensstreitigkeiten mündeten. Dabei entwickelte sich auch eine Kultur und Dynamik von Integration und Ausgrenzung.
Differenzen zwischen Freud und Jung
1910 hatte Freud die Internationale Psychoanalytische Vereinigung gegründet. 1919 bildete sich die Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse (SGPsa), die sich als Zweig der internationalen Vereinigung verstand. Inhaltliche Differenzen zwischen Freud und den ersten Psychoanalytiker*innen führten zur Entwicklung eigenständiger Richtungen der psychodynamischen Therapie. Carl Gustav Jung wollte seelische Probleme nicht nur im Kontext der individuellen Geschichte deuten, sondern erweiterte Freuds Unbewusstes um die Dimension des kollektiven Unbewussten. Als dessen Inhalte bestimmte er so genannte Archetypen. Bei seelischen Störungen würden nicht nur persönliche Erlebnisse eine Rolle spielen, sondern auch die Archetypen, die grundsätzlich das Seelische strukturieren. Ein weiterer Aspekt der Differenz zwischen den beiden Pionieren der Psychoanalyse war, dass Jung im Unterschied zu Freud die Sexualität nur als Teiltrieb der Libido anerkannte und diese als allgemeine Lebensenergie verstand.
- Die Geschichte der Psychotherapie (Walter Aeschimann, InfoSperber, 16.05.2019)
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