Montag, 19. Februar 2018

Psychische Störungen im Kapitalismus

Was sind psychische Störungen? Teil 2

Was sind psychische Störungen? Teil 2 Im ersten Teil der Serie haben wir die amtliche Sichtweise auf psychische Störungen untersucht, nämlich die Definition in der fünften Auflage des Diagnosehandbuchs der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA), genannt DSM-5. Dabei kam heraus, dass Normen und Werturteile eine wichtige Rolle bei der Unterscheidung "normaler" Erlebnisse, Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen von "Störungen" spielen.

In unserem Denken über psychische Gesundheit spiegelt sich also unsere Kultur wieder. Oder genauer gesagt: Die Kultur der Vereinigten Staaten sowie die Interessen der psychiatrischen Fachleute, die an dem Handbuch mitarbeiten. Dass deren Kultur und Interessen auch für andere Länder von Bedeutung sind, liegt an zwei Gründen: Erstens ist die wissenschaftliche Forschung stark amerikanisch und britisch geprägt. Wer eine akademische Laufbahn anstrebt, kommt kaum an Publikationen in angloamerikanischen Fachzeitschriften vorbei und muss sich dann auch an deren Regeln halten.

Zweitens wird sich der Abschnitt für psychische Störungen des von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen und für 2018 erwarteten Klassifikationssystems ICD-11 wohl stärker an der nordamerikanischen Vorlage orientieren. Das ICD wird meistens in den Ländern verwendet, die nicht das DSM eingeführt haben. Dabei ist auffällig, dass die amerikanische Psychiatrie überhaupt aus dem internationalen System ausbricht und ihr eigenes Handbuch herausgibt.

Das ist zwar nicht die einzige Ausnahme im gesamten Bereich der Medizin, doch eine von wenigen. Wie schon im ersten Teil berichtet, verdient die Vereinigung Millionen mit den Urheber- und Lizenzrechten; und ihr kommt eine besondere Definitionsmacht zu. Wer jedoch denkt, bei der Alternative der Weltgesundheitsorganisation seien alle Länder gleichmäßiger vertreten, der wird leider enttäuscht: Auch bei der Vorbereitung des ICD-11 dominieren Fachleute aus Großbritannien und den USA.

mehr:
- Wenn es ums Geld geht (Stephan Schleim, Telepolis, 19.02.2018)

siehe auch:
- Wissenschaft: frei oder nicht frei? (Post, 05.10.2017)
- Das neoliberale Narrativ: Wir sind verkehrt! (Post, 05.10.2016)
Ist die Psychopharmakologie verrückt geworden? – Kapitalismus-infizierte Wissenschaft (Post, 31.01.2016)


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